„Sie sind Wise und DeMarco?“, fragte der Mann.
„Ja“, sagte Kate und trat vor, um ihren Ausweis zu zeigen. „Und wer sind Sie?“
„Palmetto, Virginia State Police Department. Spurensicherung. Ich habe vor einigen Stunden den Anruf erhalten, dass Sie beiden den Fall übernehmen. Dachte mir, ich sollte hier sein, um das zu übergeben, was ich habe. Was übrigens nicht gerade viel ist.“
Palmetto nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, warf die Kippe auf den Boden und drücke sie mit seinem Fuß aus. „Die Leichen wurden bewegt und es gibt sehr wenig Spuren. Aber kommen Sie erstmal herein. Es ist… nicht ohne.“
Palmetto sprach mit dem Tonfall eines Mannes, der den Job schon eine ganze Zeitlang machte. Er führte sie den Pfad zu Nashes Haus entlang und auf die Veranda. Sobald er die Tür öffnete und sie hinein führte, konnte Kate es riechen: Der Geruch eines Tatorts, an dem eine Menge Blut vergossen worden war. Da hing etwas Chemisches in der Luft, nicht nur der kupferartige Geruch von Blut, sondern auch der von Bewegung und von Leuten, die mit Gummihandschuhen gerade erst den Tatort untersucht hatten.
Je weiter sie in das Haus vordrangen, desto mehr Lichter schaltete Palmetto ein – im Eingangsbereich, im Flur, im Wohnzimmer. Im hellen Schein der Deckenlampe sah Kate zuerst den Blutfleck auf den Holzdielen. Dann noch einen, und noch einen.
Palmetto führte sie zur Vorderseite der Couch und wies auf das Blut.
„Die Leichen waren hier, eine auf der Couch, die andere auf dem Boden. Es hatte den Anschein, als dass die Mutter zuerst umgebracht wurde, wahrscheinlich durch den Schnitt quer über ihren Hals, wobei dieser sehr nah am Herzen endete, aber auf der Rückseite. Theoretisch muss es einen Kampf mit dem Vater gegeben haben. Er hat Hämatome an den Unterarmen, aus seinem Mund ist Blut gedrungen, und der Couchtisch liegt auf der Seite.“
„Irgendwelche frühen Eingebungen, was den Zeitrahmen angeht, von den Morden bis die Tochter die Leichen entdeckte?“, fragte Kate.
„Nicht mehr als ein Tag“, antwortete Palmetto. „Eher zwölf bis sechszehn Stunden. Ich bin sicher, der Gerichtsmediziner wird im Laufe des Tages etwas Konkreteres für Sie haben.“
„Sonst noch irgendwas von Bedeutung?“, fragte DeMarco.
„Tatsächlich, ja“, sagte Palmetto, griff in die Innentasche seiner dünnen Jacke und zog ein unscheinbares Beweismitteltütchen hervor. „Ein Beweismittel. Das einzige. Ich habe es bei mir behalten. Habe mir auch die Erlaubnis geholt, also machen Sie sich keinen Kopf. Hab mir gedacht, Sie wollen es sicher haben und sich darum kümmern. Es ist die einzige Spur, die wir gefunden haben, und sie ist ziemlich unheimlich.“
Er übergab die kleine Plastiktüte an Kate. Sie griff danach und betrachtete den Inhalt. Es sah aus wie ein Stück einfachen Stoffs, zehn mal fünf Zentimeter. Es war dick, blau und flauschig. Die gesamte rechte Seite war voller Blut.
„Wo ist das gefunden worden?“, fragte Kate.
„Tief reingestopft in den Rachen der Mutter. Fast bis ganz runter in den Hals hinein.“
Kate hielt es gegen das Licht.
„Sieht aus wie einfach irgendein Fetzen Stoff.“
Aber da war sich Kate nicht so sicher. Ihre großmütterliche Intuition sagte ihr, dass dies nicht einfach irgendein Fetzen Stoff war. Nein… er war weich, hellblau, und sah flauschig aus.
Dies war das Stück einer Decke. Vielleicht von der Kuscheldecke eines Kindes.
„Haben Sie noch andere Überraschungsbeweise für uns auf Lager?“, fragte DeMarco.
„Nein, mehr gibt es von meiner Seite aus nicht“, meinte Palmetto und war schon auf dem Weg zur Tür. „Falls die Damen weitere Hilfe benötigen, dann melden Sie sich gern beim State Police Department.“
Hinter seinem Rücken tauschten Kate und DeMarco einen genervten Blick aus. Ohne dass eine von ihnen etwas sagen musste, war klar, dass ihnen beiden die Floskel „die Damen“ sauer aufgestoßen war.
„Kurz und knapp, der Mann“, meinte DeMarco, als Palmetto von der Haustür aus die Hand zum Gruß erhob und dann ging.
„Auch gut“, meinte Kate. „Dann können wir schon einmal anfangen, den Fall mit unseren eigenen Augen zu betrachten, ohne davon beeinflusst zu werden, war jemand anderes gefunden hat.“
„Glaubst du, wir sollten zuerst mit der Tochter sprechen?“
„Wahrscheinlich. Und dann untersuchen wir den ersten Tatort und sehen, was wir dort herausfinden können. Hoffentlich treffen wir dort auf jemanden, der etwas gesprächiger ist als unser guter Freund Palmetto.“
Sie verließen das Haus und schalteten nacheinander dabei alle Lichter aus. Als sie vor die Tür traten, ließen sich die ersten Sonnenstrahlen blicken. Kate steckte die Plastiktüte mit dem Inhalt, den sie für den Stofffetzen einer Decke hielt, vorsichtig in ihre Tasche und konnte nicht umhin zu denken, dass ihre Enkelin unter einer ganz ähnlichen Decke schlief.
Die Sonne konnte den kalten Schauer, der ihr über den Rücken lief, nicht unterdrücken.
KAPITEL VIER
Zum Frühstück fuhren sie durch den Drive-Through eines Panera Bread. Während sie dort in der Schlange warteten, tätigte DeMarco mehrere Anrufe, um ein Treffen mit Olivia Nash zu organisieren, der Tochter des zuletzt ermordeten Ehepaares. Sie war bei ihrer Tante in Roanoke und, nach den Worten der Tante, ein totales Wrack.
Nachdem sie die Zustimmung der Tante sowie eine Wegbeschreibung eingeholt hatten, fuhren sie um kurz nach 7 Uhr morgens zum Haus der Tante. Die frühe Uhrzeit war kein Problem, denn die Tante hatte gesagt, dass Olivia sich weigerte zu schlafen, seitdem sie ihre Eltern ermordet aufgefunden hatte.
Die Tante saß auf der Veranda, als Kate und DeMarco das Haus erreichten. Cami Nash erhob sich zwar, als Kate aus dem Auto stieg, machte aber keinerlei Anstalten, ihnen entgegen zu kommen. Sie hielt einen Kaffeebecher in der Hand und hatte ein solch müdes Gesicht, dass Kate annahm, dass sie schon lange wach und dies nicht ihr erster Kaffee des Tages war.
„Cami Nash?“, fragte Kate.
„Ja“, sagte sie.
„Zuerst einmal, unser herzliches Beileid für Ihren Verlust“, sagte Kate. „Standen Sie Ihrem Bruder nahe?“
„Ziemlich nahe, ja. Aber im Moment kann ich darüber nicht nachdenken. Ich kann noch nicht… trauern, denn Olivia braucht jemanden an ihrer Seite. Sie ist nicht mehr die gleiche wie vor einer Woche, als wir telefoniert haben. Etwas in ihr ist zerbrochen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es gewesen sein muss… sie so vorzufinden und…“
Ihre Worte verloren sich und sie trank schnell ihren Kaffee, wie um sich abzulenken von den Tränen, die gleich aus ihr herauszubrechen drohten.
„Wird sie mit uns sprechen können?“, fragte DeMarco.
„Vielleicht kurz. Ich habe ihr gesagt, dass Sie kommen und sie schien es verstanden zu haben. Deshalb habe ich Sie auch hier draußen erwartet. Ich möchte Ihnen sagen, dass sie eine normale, junge Frau ist. Aber in ihrem derzeitigen Zustand… ich möchte nicht, dass Sie denken, dass sie psychische Probleme hat.“
„Vielen Dank“, sagte Kate. Sie hatte schon Leute erlebt, die auf Grund ihrer Trauer völlig fertig waren, und es war nie ein schöner Anblick. Sie konnte nicht umhin sich zu fragen, wie viel Erfahrung DeMarco damit hatte.
Cami führte sie ins Haus. Drinnen war es still wie in einem Grab. Das einzige Geräusch war das Summen der Klimaanlage. Kate bemerkte, dass Cami langsam ging, damit sie keinen Lärm machte. Kate tat es ihr gleich und fragte sich, ob Cami hoffte, dass Olivia durch die Stille einschlief, oder ob sie die ohnehin schon erschöpfte junge Frau nicht verängstigen wollte.
Sie betraten das Wohnzimmer, wo sich eine junge Frau auf der Couch befand, halb sitzend, halb liegend. Ihr Gesicht war gerötet und ihre Augen waren geschwollen vom vielen weinen. Sie sah aus, als hätte sie schon seit einer Woche nicht mehr geschlafen, und nicht erst seit gestern. Sie richtete sich auf, als sie Kate und DeMarco sah.
„Hallo, Miss Nash“, sagte Kate. „Danke, dass Sie zugestimmt haben, mit uns zu sprechen. Herzliches Beileid.“
„Nennen Sie mich bitte Olivia.“ Ihre Stimme war heiser und klang müde – fast so mitgenommen wie ihre Augen.
„Wir werden uns so kurz wie möglich fassen,“ meinte Kate. „Sie waren gerade vom College nach Hause gekommen. Wissen Sie, ob Ihre Eltern für diesen Tag Besuch erwarteten?“
„Wenn das der Fall war, dann weiß ich nichts davon.“
„Entschuldigen Sie bitte die Frage, aber wissen Sie, ob Ihre Eltern Feinde hatten?“
Olivia schüttelte den Kopf. „Dad war vorher schon einmal verheiratet… bevor er Mama kennenlernte. Aber auch mit seiner Ex-Frau hat er sich gut verstanden.“
Leise fing Olivia an zu weinen. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht und sie machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen.
„Ich möchte Ihnen gern etwas zeigen. Ich weiß nicht, ob Sie dies zuordnen können. Falls ja, könnte dies schmerzhaft werden. Könnten Sie sich dies hier ansehen und uns sagen, ob Sie es wiedererkennen?“
Olivia blickte erschrocken, vielleicht auch ein wenig ängstlich drein. Kate konnte sie verstehen und scheute sich fast davor, ihr den Stofffetzen zu zeigen, den Palmetto ihnen überlassen hatte. Ein wenig widerwillig zog sie ihn aus der Tasche.
Sie sah sofort, dass Olivia ihn nicht erkannte. Ein Ausdruck von Erleichterung und Verwirrung zeigte sich sogleich in ihrem Gesicht, als sie die Plastiktüte und deren Inhalt sah.
Olivia schüttelte den Kopf, behielt aber die durchsichtige Plastiktüte im Blick. „Nein, das sagt mir nichts. Warum?“
„Das können wir Ihnen im Moment noch nicht sagen“, antwortete Kate. Tatsächlich wäre es legitim gewesen, es der Angehörigen mitzuteilen, aber Kate sah keinen Sinn darin, Olivia Nash noch mehr zu traumatisieren.
„Haben Sie eine Ahnung, wer das getan haben könnte?“, fragte Olivia. Sie wirkte verloren, so als wisse sie nicht, wo sie sich befand, oder wer sie selbst war. Kate sich nicht erinnern, wann sie zum letzten mal jemanden erlebt hatte, der sich so gelöst hatte von allem.
„Noch nicht“, sagte sie, „aber wir werden Sie auf dem Laufenden halten. Und bitte…“, und sie blickte dabei erst Olivia und dann Cami an, „kontaktieren Sie uns, sobald Ihnen irgendetwas einfällt, das helfen könnte.“
Mit der Bemerkung zog DeMarco eine Visitenkarte aus ihrer Innentasche und gab sie Cami.
Ob es die Zeit war, in der sie pensioniert gewesen war, oder ihre Schuldgefühle, dass sie der Großmutterrolle nicht gerecht geworden war, konnte Kate nicht sagen, doch sie fühlte sich furchtbar, als sie aus dem Raum ging und Olivia mit ihrer intensiven Trauer zurückließ. Als sie und DeMarco auf die Veranda traten, hörten sie, wie ihnen ein dumpfes Klagen folgte.
Kate und DeMarco tauschten einen hilflosen Blick aus, als sie zum Auto gingen. Kate konnte das Plastiktütchen in ihrer Innentasche fühlen, und plötzlich schien es sehr schwer zu wiegen.
KAPITEL FÜNF
Als Kate aus dem Städtchen Whip Springs heraus und in Richtung Roanoke fuhr, sah DeMarco die Berichte zum ersten Fall durch. Sie waren fast identisch mit den Berichten zum Tatort der Familie Nash; ein Ehepaar war in seinem Zuhause auf besonders grausame Art und Weise ermordet worden. Vorläufig gab es keine Verdächtigen, und es gab auch keinerlei Zeugen.
„Steht da irgendetwas darüber drin, dass im Rachen der Opfer etwas gefunden wurde?“, fragte Kate.
DeMarco überflog den Report und schüttelte den Kopf. „Ich sehe dazu nichts. Vielleicht ist es… doch Moment, hier ist es, im Bericht des Gerichtsmediziners. Es wurde erst gestern gefunden, anderthalb Tage nachdem die Leichen gefunden wurden. Aber ja… im Bericht steht, dass sich ein kleines Stückchen Stoff im Rachen der Mutter befand.“
„Gibt es eine Beschreibung?“
„Nein. Ich rufe in der Gerichtsmedizin an und sehe zu, ein Foto zu bekommen.“
DeMarco verlor keine Zeit und rief sofort an. Während sie telefonierte, versuchte Kate, eine Parallele zu finden zwischen diesen beiden Doppelmorden, die auf den ersten Blick nur insofern etwas miteinander zu tun hatten, als dass etwas im Rachen des weiblichen Opfers gefunden worden war. Obwohl sie noch nicht das Foto davon gesehen hatte, erwartete Kate, dass das Stückchen Stoff, das im Rachen der Frau gefunden wurde, haargenau zu dem passte, das sich im Rachen von Mrs. Nash befunden hatte.
Nach drei Minuten beendete DeMarco das Gespräch. Nur Sekunden später erhielt sie eine Nachricht. Sie blickte auf ihr Handy und sagte „Es passt.“
Als sie sich auf dem Weg ins Stadtzentrum von Roanoke einer Ampel näherten, schaute Kate auf DeMarcos Handy, das sie ihr hinhielt. Wie erwartet war der Stofffetzen weich und hellblau – exakt genau wie der andere.
„Wir haben einiges in den Akten zu beiden Ehepaaren, richtig?“, fragte Kate.
„So einiges, ja“, sagte DeMarco. „Wir haben vieles in den Akten und in den Berichten zu den Fällen – klar, einiges wird fehlen – aber trotzdem haben wir schon das Eine oder Andere, mit dem wir arbeiten können.“ Hier hielt sie inne, da ihre GPS-App auf ihrem iPad einen Ton von sich gab. „Hier an der Ampel links abbiegen“, sagte sie. „Das Haus liegt keinen Kilometer entfernt in der nächsten Straße.“
Kates Gedanken überschlugen sich, als sie sich dem ersten Tatort näherten.
Zwei Ehepaare, auf brutale Weise umgebracht. Stücke irgendeiner alten Decke in den Rachen der Frauen.
Man konnte auf vielerlei Weise mit den Hinweisen umgehen. Aber bevor sich Kate auf einen bestimmten Ansatz konzentrieren konnte, sprach DeMarco.
„Hier ist es“, sagte sie und wies auf ein kleines Steinhaus auf der rechten Seite.
Kate hielt am Kantstein. Das Haus lag in einer schmalen Seitenstraße, die zwei Hauptstraßen miteinander verband. Es war eine ruhige Straße, in der mehrere kleine Häuser standen. Die Straße strahlte einen fast historischen Flair aus; die Bürgersteige waren zugewachsen und rissig, und die Grundstücke und Häuser sahen ähnlich aus.
LANGLEY stand in verblichenen, weißen Buchstaben am Briefkasten. Kate erblickte auch ein dekorierendes L über der Haustür, gefertigt aus altem Holz. Es stand in krassem Gegensatz zu dem hellem Gelb des Polizeiabsperrbands, das vom Geländer der Veranda hing.
Als Kate und DeMarco auf die vordere Veranda zugingen, wiederholte DeMarco halb lesend, halb aus dem Gedächtnis, die Informationen aus den Berichten zu der Familie Langley.
„Scott und Bethany Langley – Scott war neunundfünfzig Jahre alt, Bethany einundsechzig. Scott wurde tot in der Küche gefunden und Bethany in der Waschküche. Gefunden hat sie ein Fünfzehnjähriger, der bei Scott Gitarrenunterricht hatte. Allem Anschein nach sind sie erst einige Stunden, bevor sie gefunden wurden, getötet worden.“
Als sie das Haus der Langleys betraten, blieb Kate einen Augenblick in der Tür stehen, um sich das Layout einzuprägen. Es war ein kleineres Haus, aber gut in Schuss. Durch die Haustür betrat man einen sehr kleinen Eingangsbereich, der dann in das Wohnzimmer überging. Ein Tresen teilte das Wohnzimmer von der Küche ab. Rechter Hand zweigte ein Flur ab, von dem der restliche Teil des Hauses zu erreichen war.
Allein durch das Layout war Kate in der Lage zu sagen, dass höchstwahrscheinlich der Mann als erstes getötet worden war. Doch von der Haustür aus konnte man quasi direkt bis in die Küche sehen. Scott Langley musste stark beschäftigt gewesen sein, um nicht zu bemerken, dass jemand durch die Haustür herein kam.
Vielleicht ist der Killer auf anderem Wege ins Haus gelangt, dachte Kate.
Sie betraten die Küche, auf deren Laminat die Blutflecken deutlich hervortraten. Eine Pfanne und eine Spray mit Sonnenblumenöl standen neben dem Herd.