Jenn drehte ihren Computerbildschirm wieder zu sich und schwieg.
Riley ließ sich eine Phrase, die Jenn benutzt hatte, durch den Kopf gehen …
„…eine ziemlich unübliche Art jemanden umzubringen.“
Riley dachte sich…
Unüblich, aber nicht unerhört.
Jetzt fragte sie sich, ob die Mordfälle zwischen 1874 und 1910 alle von diesen alten Theaterstücken inspiriert waren, in denen die Figuren an Gleise gefesselt wurden. Riley konnte sich in der jüngsten Vergangenheit auch an andere grauenhafte Umsetzungen von Kunst ins eigentliche Leben erinnern –– dort waren Mörder von Büchern oder Filmen oder Videospielen inspiriert worden.
Vielleicht hatten sich die Dinge gar nicht so sehr verändert.
Vielleicht hatten sich die Menschen gar nicht so sehr verändert.
Und was war mit dem Killer, nach dem sie sich bald auf die Suche machen würden?
Es schien lächerlich anzunehmen, dass sie nach einem Psychopaten suchten, der einen heimtückischen, melodramatischen, Schnurrbart-zwirbelnden Bösewicht nachahmte, welcher nie wirklich existiert hatte –– nicht einmal im Film.
Aber was könnte dann diesen Killer antreiben?
Die Situation war ihr klar und allzu gut bekannt. Riley und ihre Kollegen würden diese Frage so bald wie möglich beantworten müssen, sonst würden weitere Menschen sterben.
Riley sah Jenn dabei zu, wie diese an ihrem Laptop arbeitete. Es war ein ermutigender Anblick. Gegenwärtig schien Jenn ihre Sorgen was die mysteriöse “Tante Cora” anging beiseite gelegt zu haben.
Doch wie lange wird das anhalten? fragte sich Riley.
Jenns Anblick rief Riley zurück zu ihren eigenen Rechercheaufgaben. Sie hatte nie an einem Fall gearbeitet der Züge involvierte und musste sich daher noch vieles aneignen. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Bildschirm.
*
Genau wie Meredith es versprochen hatte, wurden Riley und ihre Kollegen in O’Hare von zwei uniformierten Eisenbahnpolizisten empfangen. Alle stellten sich vor und Riley stieg zusammen mit Bill und Jenn in den Dienstwagen.
„Wir sollten uns beeilen“, sagte der Polizist, der im Beifahrersitz saß. Die Eisenbahnlobby macht dem Chief grade echt die Hölle heiß, weil die Leiche immer noch auf den Gleisen ist.“
Bill fragte: „Wie lange brauchen wir denn dahin?“
Der Polizist am Lenkrad antwortete: „Normalerweise `ne Stunde, aber wir werden nicht solange brauchen.“
Er schaltete die Lichter und Sirene ein und das Auto begann sich durch den dichten Feierabendverkehr zu winden. Es war eine angespannte, chaotische, sehr schnelle Fahrt, die sie schließlich zu einem kleinen Städtchen Namens Barnwell, Illinois brachte. Kurz nachdem sie den Ort passierten, kamen sie an einer Eisenbahnkreuzung vorbei.
Der Polizist im Beifahrersitz zeigte aus dem Fenster.
„Es sieht ganz danach aus, als wäre der Killer in einem Geländewagen genau hier von der Straße abgebogen und die Gleise entlang gefahren bis zu dem Ort, an dem er mordete.“
Kurz danach parkten sie an einem Waldstück. Ein anderes Polizeiauto und der Van des Gerichtsmediziners standen auch schon dort.
Die Bäume waren nicht besonders dicht und die Cops führten Riley und ihre Kollegen direkt durch das Waldstück zu den Eisenbahngleisen, die nur etwa zwanzig Meter entfernt lagen.
Genau in diesem Augenblick sah Riley den Tatort.
Sie musste schlucken.
Weit weg waren die kitschigen Vorstellungen über schnurrbärtige Bösewichte und hilflose junge Damen.
Das hier war allzu echt –– und allzu grausam.
KAPITEL FÜNF
Eine ganze Weile lang starrte Riley den Körper auf den Gleisen an. Sie hatte alle möglichen, auf schreckliche Art und Weise entstellten Leichen gesehen. Trotzdem, dieses Opfer bot einen besonders schockierenden Anblick. Der Kopf der Frau war von den Eisenbahnrädern sauber abgetrennt worden, fast wie von der Klinge einer Guillotine.
Riley stellte überrascht fest, dass der Körper der Frau unberührt von dem Zug geblieben schien, der über ihr entlang gerast war. Das Opfer war mit Panzertape gefesselt worden. Ihre Hände und Arme waren dicht an ihren Körper gefesselt und ihre Knöchel fest aneinander gebunden. Ihr Körper, gekleidet in ein attraktives Outfit, war in einer entsetzten, sich windenden Position erstarrt. Wo ihr Hals durchtrennt worden war, befand sich überall Blut –– auf den Schottersteinen, den Holzschwellen und dem Gleis. Der Kopf war einige Meter weit weggeschleudert worden. Die Augen und der Mund der Frau waren weit aufgerissen und starrten in einer Grimasse des unerträglichen Horrors in den Himmel.
Riley sah mehrere Menschen um den Körper stehen, einige von ihnen in Uniform, andere nicht. Riley glaubte, dass es eine Gruppe aus Eisenbahn- und örtlichen Polizisten war. Ein uniformierter Mann näherte sich Riley und ihren Kollegen.
Er fing an: „Ich nehme an Sie sind die FBI Leute. Ich bin Jude Cullen, Deputy Chief der Eisenbahnpolizei für die Umgebung von Chicago –– `Bull` Cullen, so nennt man mich.“
Er klang stolz auf den Spitznamen. Riley wusste durch ihre Recherche, dass „Bull“ ein generelles Slangwort für die Bezeichnung eines Eisenbahnpolizisten darstellte. Eigentlich hatte die Eisenbahnpolizei Titel des Agenten und des Spezialagenten, ähnlich wie bei der FBI. Anscheinend bevorzugte dieser Kollege es aber nicht durch seinen Titel hervorgehoben zu werden.
„Es war meine Idee Sie hierher zu bringen“, fuhr Cullen fort. „Ich hoffe der Trip wird sich lohnen. Je schneller wir den Körper hier wegbewegen können, desto besser.“
Während Riley und ihre Kollegen sich vorstellten, musterte sie Cullen. Er schien außergewöhnlich jung und außerordentlich muskulös zu sein. Seine Arme wölbten sich in praller Muskulatur aus dem kurzärmligen Hemd seiner Unifom, welche eng an seinem Oberkörper anlag und diesen dadurch noch mehr betonte.
Der Spritzname „Bull“ passte gut zu ihm, dachte sie. Jedoch war Riley immer eher unbeeindruckt von Männern, die so offensichtlich viel Zeit im Fitnessstudio verbrachten, um so auszusehen, als sich von ihnen angezogen zu fühlen.
Sie fragte sich wie ein so durchtrainierter Typ wie Cullen überhaupt noch Zeit für andere Dinge fand. Dann bemerkte sie, dass er keinen Ehering trug. Sie schätzte, dass sein Leben sich um seine Arbeit und das Training im Fitnessstudio drehen musste, und um nicht viel mehr.
Er war frohen Muts und schien nicht besonders geschockt von dem außergewöhnlich grausamen Anblick des Tatortes. Natürlich war er hier schon seit einigen Stunden –– lange genug um nicht mehr so mitgerissen davon zu sein. Trotzdem erschien er Riley auf den ersten Blick als ziemlich selbstverliebt und oberflächlich.
Sie fragte ihn: „Konnte das Opfer identifiziert werden?“
Cullen nickte.
„Ja, ihr Name war Reese Fisher, 35 Jahre alt. Sie lebte hier in der Nähe, in Barnwell, wo sie in der öffentlichen Bibliothek arbeitete. Sie war mit einem Chiropraktiker verheiratet.“
Riley schaute nach links und rechts entlang der Gleise. Dieser Abschnitt der Gleise war gekrümmt, sodass sie in keine der beiden Richtungen besonders weit schauen konnte.
„Wo ist der Zug, der sie überfuhr?“, fragte sie Cullen.
Cullen zeigte mit der Hand in die Richtung und sagte: „Ungefähr einen Kilometer hier entlang. Genau dort, wo er zum Stehen gekommen war.“
Riley bemerkte einen fettleibigen Mann in schwarzer Uniform, der sich über die Leiche beugte.
„Ist das der Gerichtsmediziner?“, fragte sie Cullen.
„Genau, lassen Sie mich vorstellen. Das ist der Barnweller Gerichtsmediziner, Corey Hammond.“
Riley hockte sich neben den Mann. Sie bemerkte, dass, im Gegensatz zu Cullen, Hammond den anfänglichen Schock immer noch nicht überwunden hatte. Sein Atem war keuchend, er schnappte immer wieder nach Luft –– zum Teil war dies wegen seines Gewichts, nahm Riley an, aber auch aus Ekel und vor Grauen. Er war sicherlich noch nie so etwas in seiner Arbeit begegnet.
„Was können Sie uns soweit sagen?“ fragte Riley den Gerichtsmediziner.
„Keine Zeichen sexueller Gewalt, soweit ich das beurteilen kann“, antwortete Hammond. „Das gilt auch für die Autopsie des ersten Opfers vor vier Tagen, der Fall in der Nähe von Allardt.“
Hammond zeigte auf zerrissene Stücke des breiten silbrigen Klebebands um den Hals und Schultern des Körpers.
„Der Killer hat sich an Händen und Füßen gefesselt, hat ihren Hals an die Gleise festgeklebt und ihre Schultern mit dem Klebeband bewegungsunfähig gestellt. Sie muss wie eine Verrückte gekämpft haben um sich hier wegzureißen, aber sie hatte nie eine Chance.“
Riley drehte sich zu Cullen: „Sie wurde nicht geknebelt. Hätte sie irgendjemand schreien hören können?“
„Wir denken nicht“, sagte Cullen und zeigte Richtung Bäume. „Es gibt dort ein paar Häuser hinter dem Wald, aber die sind außer Hörweite. Einige meiner Jungs sind Tür zu Tür gegangen und haben die Leute befragt, ob jemand etwas gehört hat oder irgendwas mitbekommen hat zur Tatzeit. Niemand hat was gemerkt. Sie haben es erst im Nachhinein im Fernsehen und Online erfahren. Die Bewohner wurden dazu angehalten sich vom Tatort fernzuhalten. Soweit hatten wir keine Probleme mit Gaffern.“
Bill fragte: „Könnte irgendwas gestohlen worden sein?“
Cullen zuckte mit den Schultern.
„Das glauben wir nicht. Wir haben ihre Handtasche gleich hier in der Nähe gefunden und Dokumente, Geld und Kreditkarten waren alle drin. Oh, und ihr Handy.“
Riley betrachtete den Körper und versuchte sich vorzustellen wie der Mörder es geschafft hatte, das Opfer in diese Position zu kriegen. Manchmal konnte sie ein starkes, sogar unheimliches Gefühl für den Mörder bekommen indem sie sich auf die Umgebung und die Umstände des Tatorts konzentrierte. Manchmal schien es ihr fast so, als könne sie in seine Gedanken eindringen, verstehen, was in seinem Kopf vor sich ging, als er die Tat begangen hatte.
Aber jetzt nicht.
Die Atmosphäre war zu ablenkend mit all diesen Leuten, die umherwanderten.
Sie sagte: „Er musste sie irgendwie stillgestellt haben, bevor er sie so fesseln konnte. Was ist mit der anderen Leiche, dem Opfer von vor einigen Tagen? Hat der dortige Gerichtsmediziner irgendwelche Substanzen in ihrem Kreislauf gefunden?“
„Man hat Flunitrazepam in ihrem Kreislauf festgestellt“, sagte Hammond.
Riley blickte zu ihren Kollegen hinüber. Sie wusste was Flunitrazepam war und sie wusste, dass Jenn und Bill das auch wussten. Der Handelsname der Substanz war Rohypnol und sie war gemeinhin als „Roofie“ bekannt, oder als K.O. Tropfen. Sie war illegal, aber es war allzu einfach sie sich auf der Straße zu besorgen.
Und es hätte das Opfer jedenfalls effektiv ruhiggestellt und komplett hilflos gemacht, wenn auch nicht komplett bewusstlos. Riley wusste, dass Flunitrazepam einen Amnesie-Effekt hatte, wenn seine Wirkung abklang. Sie schauderte, als sie begriff…
Die Wirkung der Droge hat möglicherweise direkt hier nachgelassen –– kurz vor ihrem Tod.
Wenn dem so gewesen war, hatte die arme Frau keinerlei Erinnerung oder Einsicht darüber gehabt wie oder wieso diese schreckliche Sache mir ihr geschah.
Bill kratze sich das Kinn, als der hinunter auf den Körper schaute.
Er sagte: „Vielleicht war das also am Anfang eine Art Vergewaltigungsszenario, wo der Killer ihr die Droge in einer Bar oder auf einer Party in den Drink getan hat.“
Der Gerichtsmediziner schüttelte den Kopf.
„Das ist unwahrscheinlich“, sagte er. „Es gab keine Spur von der Droge im Magen des ersten Opfers. Die Droge musste ihr injiziert worden sein.“
Jenn sagte: „Merkwürdig.“
Deputy Chief Bull Cullen sah Jenn neugierig an.
„Wieso das?“, fragte er.
Jenn zuckte leicht mit den Schultern.
Sie sagte: „Es ist einfach irgendwie ein bisschen schwer vorstellbar. Flunitrazepam wirkt nicht sofort, egal wie es verabreicht wird. In Situationen der Rendezvous-Vergewaltigungen ist das meistens egal. Das nichtsehnende Opfer hat vielleicht ein paar Drinks mit ihrem baldigen Vergewaltiger, irgendwann fühlt sie sich dann benebelt ohne genau zu wissen wieso, und bald darauf ist sie dann komplett hilflos. Aber wenn unser Killer sie mit einer Nadel gestochen hätte, wüsste sie sofort, dass etwas nicht stimmt und hätte zumindest einige Minuten vor dem Einsetzen der Wirkung um sich zu wehren. Es klingt einfach nicht sehr…effizient.“
Cullen lächelte Jenn an –– ein bisschen flirtend, wie Riley fand.
„Ich finde, das macht vollkommen Sinn“, entgegnete er. „Lassen Sie mich zeigen.“
Er stellte sich hinter Jenn, die merklich kleiner als er war. Es begann ihren Hals von hinten mit seinem Arm zu umgreifen. Jenn trat zur Seite.
„Hey, was soll das?“, fragte sie.
„Nur ’ne kleine Demonstration. Keine Sorge, ich tu’ Ihnen nicht wirklich weh.“
Jenn machte ein höhnisches Geräusch und hielt Abstand von ihm.
„Da haben Sie verdammt Recht“, sagte sie. „Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, was Sie Sich denken. Sie meinen, der Mörder habe irgendeine Art Würgegriff benutzt.“
„Genau“, sagte Cullen, weiterhin lächelnd. „Genauer gesagt, einen sogenannten Blood Choke.“
Er winkelte seinen Arm entsprechend an, um seinen Punkt zu verdeutlichen.
„Der Mörder schlich sich von hinten an sie an und legte dann seinen Arm auf diese Weise um ihren Hals. Das Opfer konnte immer noch atmen, aber ihre Halsschlagader war komplett blockiert, sodass die Blutzufuhr ins Gehirn gehindert war. Das Opfer verlor das Bewusstsein innerhalb weniger Sekunden. So war es einfach für den Killer die Injektion zu tätigen, die sie dann langfristiger ruhigstellte.“
Riley spürte die Spannung zwischen Cullen und Jenn. Cullen war offensichtlich ein klassischer „Mansplainer“ –– einer der Typen, die Frauen gerne von oben herab ihnen wohlbekannte Dinge erklärte –– und seine Einstellung Jenn gegenüber war nicht nur herablassend, sondern auch flirtend.
Es war klar, dass Jenn ihn kein Stückweit leiden konnte, genau wie Riley selbst. Der Mann war oberflächlich, das stimmte zwar, und noch dazu mit dubiosen Vorstellungen darüber, wie man sich weiblichen Kollegen gegenüber verhielt und noch problematischeren Vorstellung über das angemessene Verhalten am Tatort.
Trotzdem musste Riley zugeben, dass Cullens Theorie hieb- und stichfest war.
Er war vielleicht persönlich unausstehlich, aber er war nicht dumm.
Tatsächlich könnte er wirklich eine wahre Hilfe bei den Ermittlungen darstellen.
Naja, das heißt, wenn wir es schaffen, seine Gegenwart zu ertragen, dachte Riley sich.
Cullen stieg herab von den Gleisen und ging in die Richtung eines abgesperrten Geländes.
Er sagte: „Wir haben hier Fahrzeugspuren gefunden, die von der Straße an der Eisenbahnkreuzung abführen und sich bis hierher ziehen. Es sind Spuren eines großen Fahrzeugs –– offensichtlich handelt es sich um einen Geländewagen. Es gibt auch einige Schuhabdrücke.“
Riley sagte: „Sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen Fotos von denen machen. Wir schicken die nach Quantico und bitten unsere Techniker sie durch die Datenbanken zu jagen.“
Cullen stand einen Moment da, seine Arme in die Hüften gestemmt, und schaute sich die ganze Szenerie an, fast schon mit einem Eindruck von Genugtuung, wie Riley fand.