Plötzlich sprach Jilly.
"Wo werde ich schlafen?"
Riley war erleichtert, Jillys Stimme zu hören.
"Du hast dein eigenes Zimmer", sagte sie. "Es ist klein, aber ich denke, dass es genau das Richtige für dich sein könnte."
Jilly schwieg wieder einen Moment.
Dann sagte sie, "Gehörte es jemand anderem?"
Jilly klang besorgt.
"Nicht, seit wir dort leben", erklärte Riley. "Ich habe versucht, es als Büro zu nutzen, aber es war zu groß. Also habe ich das Büro in mein Schlafzimmer gebracht. April und ich haben ein Bett und eine Kommode gekauft, aber wenn wir Zeit haben, kannst du dir ein paar Poster und Bettwäsche aussuchen, die dir gefällt.
"Mein eigenes Zimmer", sagte Jilly.
Riley kam es vor, als klänge sie eher zögerlich als glücklich.
"Wo schläft April?", fragte Jilly.
Riley wollte Jilly fast sagen, dass sie einfach warten sollte, bis sie zu Hause waren, dann würde sie es ja sehen. Aber das Mädchen klang, als bräuchte sie umgehend ein wenig Beruhigung und Bestätigung.
"April hat ihr eigenes Zimmer", sagte Riley. "Du und April teilt euch allerdings ein Badezimmer. Ich habe mein eigenes."
"Wer putzt? Wer kocht?", fragte Jilly. Dann fügte sie besorgt hinzu, "Ich bin kein besonders guter Koch."
"Unsere Haushälterin, Gabriela, kümmert sich um alles. Sie kommt aus Guatemala. Sie lebt bei uns, in ihrer eigenen kleinen Wohnung. Du triffst sie bald. Sie kümmert sich um dich, wenn ich nicht da bin."
Wieder folgte ein Schweigen.
Dann fragte Jilly, "Wird Gabriela mich schlagen?"
Diese Frage machte Riley sprachlos.
"Nein. Natürlich nicht! Wie kommst du denn darauf?"
Jilly antwortete nicht. Riley versuchte zu verstehen, was sie meinte.
Sie versuchte sich zu sagen, dass sie nicht überrascht sein sollte. Sie erinnerte sich daran, was Jilly ihr gesagt hatte, als sie sie in der Fahrerkabine gefunden und ihr gesagt hatte, dass sie nach Hause gehen sollte.
"Ich gehe nicht nach Hause. Mein Vater wird mich schlagen, wenn ich zurückgehe."
Das Jugendamt in Phoenix hatte Jilly dem Sorgerecht des Vaters entzogen. Riley wusste, dass Jillys Mutter vor langer Zeit verschwunden war. Jilly hatte irgendwo einen Bruder, aber niemand hatte von ihm gehört.
Es brach Riley das Herz, als ihr klar wurde, dass sie eine ähnliche Behandlung in ihrem neuen Zuhause erwartete. Es schien, als könne sich das Mädchen kaum ein besseres Leben vorstellen.
"Niemand wird dich schlagen, Jilly", sagte Riley, mit leicht zitternder Stimme. "Nie wieder. Wir werden uns gut um dich kümmern. Verstehst du das?"
Wieder antwortete Jilly nicht. Riley wünschte sich, sie würde sagen, dass sie sie verstand und auch glaubte, was Riley ihr sagte. Stattdessen wechselte Jilly das Thema.
"Ich mag dein Auto", sagte sie. "Kann ich lernen zu fahren?"
"Wenn du älter bist, sicher", sagte Riley. "Jetzt lass uns dich erst einmal nach Hause bringen."
*
Ein wenig Schnee fiel, als Riley vor ihrem Stadthaus hielt und sie mit Jilly ausstieg. Jillys Gesicht zuckte kurz, als eine Schneeflocke ihre Haut traf. Ihr schien dieses neue Gefühl nicht zu gefallen. Sie zitterte vor Kälte.
Wir müssen ihr sofort warme Kleidung besorgen, dachte Riley.
Auf halbem Wege zur Haustür hielt Jilly inne. Sie starrte auf das Haus.
"Ich kann das nicht", sagte sie.
"Warum nicht?"
Jilly schien keine Worte zu finden. Sie sah aus, wie ein verängstigtes Tier. Riley nahm an, dass der Gedanke sie überwältigte, an einem so schönen Ort zu leben.
"Ich werde April im Weg sein oder nicht?", sagte Jilly. "Ich meine, es ist ihr Badezimmer."
Sie schien nach Entschuldigen zu suchen, nach Gründen, warum es nicht funktionieren würde.
"Du bist April nicht im Weg", sagte Riley. "Jetzt komm rein."
Riley öffnete die Tür. Drinnen warteten April und Rileys Exmann Ryan. Sie lächelten sie freundlich an.
April eilte direkt auf Jilly zu und nahm sie in die Arme.
"Ich bin April", sagte sie. "Ich bin so froh, dass du hier bist. Es wird dir bestimmt gefallen."
Riley war von dem Unterschied zwischen den beiden Mädchen überrascht. Sie hatte immer gedacht, April wäre recht dünn und schlaksig. Aber neben Jilly, die im Vergleich dünn aussah, wirkte sie regelrecht robust. Riley nahm an, dass Jilly mehr als einmal in ihrem Leben gehungert hatte.
Es gibt so viel, was ich nicht weiß, dachte Riley.
Jilly lächelte nervös, als Ryan sich vorstellte und sie kurz umarmte.
Plötzlich kam Gabriela herein und stellte sich ebenfalls mit einem breiten Lächeln vor.
"Willkommen in der Familie!", rief Gabriela und gab Jilly eine Umarmung.
Riley bemerkte, dass die Haut der guatemalischen Frau nur ein wenig dunkler war, als Jillys olivfarbener Teint.
"Vente!", sagte Gabriela und nahm Jilly bei der Hand. "Lass uns nach oben gehen. Ich zeige dir dein Zimmer!"
Aber Jilly zog ihr die Hand weg und stand zitternd vor ihr. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie setzte sich auf die Stufen und weinte. April setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern.
"Jilly, was ist los?", fragte April.
Jilly schüttelte traurig den Kopf.
"Ich weiß es nicht", schluchzte sie. "Es ist einfach … ich weiß nicht. Es ist zu viel."
April lächelte und streichelte ihr leicht über den Rücken.
"Ich weiß, ich weiß", sagte sie. "Komm mit nach oben. Du fühlst dich bestimmt bald wie zu Hause."
Jilly stand gehorsam auf und folgte April nach oben. Riley freute sich, dass ihre Tochter die Situation so gut gelöst hatte. Natürlich hatte April immer gesagt, dass sie eine kleine Schwester wollte. Aber April hatte schwierige Jahre durchgemacht und war von Verbrechern traumatisiert worden, die sich an Riley rächen wollten.
Vielleicht, dachte Riley hoffnungsvoll, versteht April Jilly besser, als ich es kann.
Gabriela sah den beiden Mädchen mitfühlend nach.
"¡Pobrecita!", sagte sie. "Ich hoffe, dass alles gut wird."
Gabriela ging wieder nach unten und ließ Riley und Ryan alleine. Ryan blickte geistesabwesend die Stufen nach oben.
Ich hoffe, dass er es sich nicht anders überlegt hat, dachte Riley. Ich werde seine Unterstützung brauchen.
Zwischen ihnen war viel passiert. Während der letzten Jahre ihrer Ehe war er ein untreuer Ehemann und ein distanzierter Vater gewesen. Sie hatten sich getrennt und geschieden. Aber Ryan schien sich in letzter Zeit verändert zu haben und sie verbrachten wieder mehr Zeit miteinander.
Sie hatten über die Herausforderung gesprochen, Jilly in ihre Leben zu bringen. Ryan war begeistert von der Idee gewesen.
"Ist es immer noch okay für dich?", fragte Riley ihn.
Ryan sah sie an und sagte, "Ja. Ich kann allerdings sehen, dass es nicht einfach werden wird."
Riley nickte. Dann folgte eine peinliche Pause.
"Ich denke, ich sollte besser gehen", sagte Ryan.
Riley war erleichtert. Sie küsste ihn flüchtig, er zog seinen Mantel an und ging. Riley goss sich einen Drink ein und saß dann alleine im Wohnzimmer.
Wo habe ich uns da nur hingeführt? fragte sie sich.
Sie hoffte, dass ihre guten Absichten nicht wieder ihre Familie auseinander reißen würde.
KAPITEL ZWEI
Riley wachte am nächsten Morgen mit ängstlicher Erwartung auf. Dies würde der erste Tag von Jilly in ihrem neuen Zuhause werden. Sie hatten viel zu tun und Riley hoffte, dass es keine Probleme geben würde.
Letzte Nacht war ihr klar geworden, dass Jillys Übergang in ein neues Leben harte Arbeit für sie alle werden würde. Aber April hatte sich eingebracht und Jilly geholfen, sich einzuleben. Sie hatten zusammen ausgesucht, was Jilly heute anziehen würde – nicht aus der mageren Auswahl, die sie in einer Supermarkttüte mitgebracht hatte, sondern von den neuen Sachen, die Riley und April ihr gekauft hatten.
Jilly und April waren schließlich schlafen gegangen.
Riley auch, aber ihr Schlaf war unruhig und rastlos gewesen.
Jetzt stand sie auf, zog sich an, und ging direkt in die Küche, wo April Gabriela half, Frühstück zu machen.
"Wo ist Jilly?", fragte Riley.
"Sie ist noch nicht aufgestanden", sagte April.
Rileys Sorge nahm zu.
Sie ging zum Aufgang der Treppe und rief, "Jilly, es ist Zeit aufzustehen."
Sie hörte keine Antwort. Sie wurde von einer Welle der Panik gefasst. War Jilly in der Nacht weggelaufen?
"Jilly, hast du mich gehört?", rief sie wieder. "Wir müssen dich heute Morgen für die Schule anmelden."
"Ich komme", rief Jilly zurück.
Riley atmete erleichtert auf. Jilly klang mürrisch, aber zumindest war sie hier und kooperierte.
In den vergangenen Jahren hatte Riley diesen Ton mehr als einmal von April gehört. April schien es im Großen und Ganzen hinter sich zu haben, fiel aber von Zeit zu Zeit zurück. Riley fragte sich, ob sie wirklich dafür geeignet war, Teenager aufzuziehen.
Da klopfte es an die Haustür. Als Riley sie öffnete, stand ihr Nachbar, Blaine Hildreth, davor.
Riley war überrascht ihn zu sehen, aber freute sich. Er war einige Jahre jünger als sie, ein charmanter und attraktiver Mann, dem ein Restaurant in der Stadt gehörte. Tatsächliche hatte sie eine unmissverständliche Anziehung zwischen sich gespürt, was die Frage nach einer möglichen Versöhnung mit Ryan verkomplizierte. Vor allem aber war Blaine ein wundervoller Nachbar und ihre Töchter waren beste Freunde.
"Hallo Riley", sagte er. "Ich hoffe, es ist nicht zu früh."
"Ganz und gar nicht", lächelte Riley. "Was gibt es?"
Blaine sah sie mit einem traurigen Lächeln an.
"Ich dachte einfach, ich komme vorbei, um mich zu verabschieden", sagte er.
Riley starrte ihn überrascht an.
"Was meinst du?", fragte sie.
Er zögerte und bevor er antworten konnte, sah Riley den riesigen Umzugslaster, der vor seinem Haus stand. Umzugshelfer trugen Möbel aus Blaines Haus in den Laster.
Riley blieb der Mund offen stehen.
"Ihr zieht aus?", fragte sie.
"Es schien mir eine gute Idee zu sein", sagte Blaine.
Riley wäre fast eine "Warum?", herausgerutscht.
Aber es war einfach zu erraten. Neben Riley zu wohnen hatte sich als gefährlich und erschreckend herausgestellt, sowohl für Blaine, als auch für seine Tochter, Crystal. Der Verband, der immer noch sein Gesicht zierte, war eine harsche Erinnerung daran. Blaine war bei dem Versuch, April vor einem Mörder zu beschützen, schwer verletzt worden.
"Es ist nicht, was du wahrscheinlich denkst", sagte Blaine.
Aber Riley konnte es an seinem Gesicht sehen – es war genau das, was sie dachte.
Er fuhr fort, "Es hat sich einfach herausgestellt, dass das Haus hier nicht sehr praktisch ist. Es ist zu weit vom Restaurant weg. Ich habe ein schönes Haus in der Nähe gefunden. Ich bin sicher, das verstehst du."
Riley war zu verwirrt und aus der Fassung gebracht, um zu antworten. Erinnerungen an den schrecklichen Zwischenfall kamen zurück.
Sie hatte im Norden von New York an einem Fall gearbeitet, als sie erfahren hatte, dass ein brutaler Mörder auf freiem Fuß war. Sein Name war Orin Rhodes. Sechzehn Jahre zuvor hatte Riley seine Freundin in einem Schusswechsel getötet und ihn ins Gefängnis gebracht. Als Rhodes schließlich aus Sing Sing entlassen wurde, hatte er Riley und ihrer Familie Rache geschworen.
Bevor Riley es nach Hause schaffte, war Rhodes in ihr Zuhause eingedrungen und hatte April und Gabriela angegriffen. Nebenan hatte Blaine den Kampf gehört und war ihnen zur Hilfe geeilt. Er hatte wahrscheinlich Aprils Leben gerettet. Aber er war dabei schwer verletzt worden.
Riley hatte ihn zweimal im Krankenhaus besucht. Das erste Mal war sie entsetzt gewesen. Er hatte, mit einer Infusion im Arm und einer Sauerstoffmaske auf dem Gesicht, bewusstlos auf der Intensivstation gelegen. Riley hatte sich bittere Vorwürfe gemacht.
Aber das nächste Mal war deutlich erfreulicher gewesen. Er war wach und fröhlich gewesen und hatte sogar über seinen Übermut gescherzt.
Vor allem aber erinnerte sie sich an das, was er gesagt hatte …
"Es gibt wenig, was ich nicht für dich und April tun würde."
Offensichtlich hatte er es sich anders überlegt. Die Gefahr neben Riley zu wohnen, war zu viel für ihn und er ging weg. Sie wusste nicht, ob sie verletzt sein sollte oder sich schuldig fühlen. Sie war ohne Zweifel enttäuscht.
Rileys Gedanken wurden durch Aprils Stimme unterbrochen.
"Oh mein Gott! Blaine, ziehen du und Crystal weg? Ist Crystal noch da?"
Blaine nickte.
"Ich muss zu ihr gehen und mich verabschieden", rief April.
April rannte aus der Tür nach nebenan.
Riley kämpfte immer noch mit ihren Gefühlen.
"Es tut mir leid", sagte sie.
"Was tut dir leid?", fragte Blaine.
"Du weißt schon."
Blaine nickte. "Es war nicht deine Schuld, Riley", sagte er leise.
Riley und Blaine standen sich einen Moment schweigend gegenüber. Dann zwang Blaine sich zu einem Lächeln.
"Hey, es ist ja nicht so, als ob wir die Stadt verlassen", sagte er. "Wir können uns treffen, wann wir wollen. Genau wie die Mädchen. Schließlich gehen sie immer noch auf die gleiche Schule. Es wird sein, als hätte sich nichts geändert."
Ein bitterer Geschmack breitete sich in Rileys Mund aus.
Das stimmt nicht, dachte sie. Alles hat sich geändert.
Die Enttäuschung machte langsam Ärger Platz. Riley wusste, dass es falsch war, wütend zu sein. Sie hatte kein Recht. Sie wusste nicht, warum sie so fühlte. Alles was sie wusste war, dass sie es nicht verhindern konnte.
Und was sollten sie jetzt tun?
Sich umarmen? Die Hände schütteln?
Sie spürte, dass Blaine sich ähnlich fühlte.
Die schafften es, sich kurz angebunden zu verabschieden. Blaine ging zurück zu seinem Haus und Riley in die Küche. Sie fand Jilly beim Frühstück. Gabriela hatte Riley ebenfalls Frühstück auf den Tisch gestellt, also setzte sie sich und aß zusammen mit Jilly.
"Also, freust du dich auf heute?"
Rileys Frage war aus ihrem Mund, bevor sie bemerkte, wie lahm und ungelenk es klang.
"Ich schätze schon", sagte Jilly, während sie mit der Gabel in ihrem Pfannkuchen stocherte. Sie sah nicht einmal zu Riley auf.
*
Später gingen Riley und Jilly durch den Eingang der Brody Middle School. Das Gebäude war attraktiv, mit hellen Schließfächern, die die Flure säumten und von Studenten gemalten Bildern an den Wänden.
Ein freundlicher und höflicher Schüler bot ihnen Hilfe an und wies sie in die Richtung des Direktorats. Riley dankte ihm und ging den Flur hinunter, mit Jillys Anmeldeunterlagen in der einen und ihrer Hand in der anderen Hand.
Die Anmeldung in der Schulbehörde hatten sie schon hinter sich. Sie hatte alle Unterlagen mitgenommen, die von dem Jugendamt in Phoenix zusammengestellt worden waren – Impfunterlagen, Schulnachweise, Jillys Geburtsurkunde, und eine Bescheinigung, dass Riley Jillys Vormund war. Jillys Vater war das Sorgerecht entzogen worden, auch wenn er angedroht hatte, dagegen vorzugehen. Riley wusste, dass der Weg bis zur Adoption nicht schnell und einfach sein würde.
Jilly hielt Rileys Hand fest gedrückt. Riley spürte, dass sich das Mädchen äußerst unwohl fühlte. Es war nicht schwer sich vorzustellen, warum. So hart es auch in Phoenix gewesen war, es war das einzige Leben, das Jilly gekannt hatte.
"Warum kann ich nicht mit April zur Schule gehen?", fragte Jilly.
"Nächstes Jahr gehst du zur gleichen Highschool", sagte Riley. "Erst musst du die achte Klasse abschließen."
Sie fanden das Büro und Riley zeigte die Unterlagen der Sekretärin.
"Wir möchten gerne mit jemandem sprechen, um Jilly in der Schule anzumelden", sagte Riley.
"Da müssen Sie mit einem Vertrauenslehrer sprechen", sagte die Sekretärin mit einem Lächeln. "Kommen Sie hier entlang."