Keri sah, wie Tim Raineys Augen groß wurden, aber er sagte nichts. Ray fuhr fort.
Eine Drohne steht bereit, aber wir werden ihn nur einsetzen, wenn es wirklich nötig ist. Er ist fast lautlos und hat eine Reichweite von bis zu hundertfünfzig Meter. Insgesamt sind über zehn Beamte im Einsatz. Sie werden zwar nicht direkt vor Ort sein, können aber in weniger als einer Minute dort sein, wenn irgendetwas schief geht. Das gilt auch für Detective Locke und ich. Wir werden vom Wasser aus alles überwachen, weit genug entfernt um nicht aufzufallen, aber nah genug um mit einem Fernglas guten Sichtkontakt halten zu können. Wir haben uns so gut vorbereitet wie möglich.“
„Das merke ich. Was genau muss ich also tun?“
„Gut, dass Sie fragen. Deswegen sind wir hier. Da Sie bereits die Karte vor sich haben, können wir jetzt sofort alles durchgehen“, sagte Ray.
Sie nehmen rechts und links neben Rainey Platz. Dann ergriff Keri das Wort.
„Sie sollen ihn auf der Brücke zwischen den Pergolas im hinteren Teil des Parks am Wasser treffen. Genau das werden Sie auch tun“, sagte sie. „Offiziell hat der Park nachts geschlossen. Sie können also nicht auf dem eingezäunten Parkplatz hier parken. Wahrscheinlich hat er die Übergabe auf Mitternacht gelegt, damit dort keine Autos stehen. Sie parken am besten im Parkhaus einen Block weiter. Wir geben Ihnen das passende Kleingeld. Sie stellen Ihr Auto ab, zahlen und gehen zum Treffpunkt. Alles klar soweit?“
„Ja“, sagte Rainey. „Wann bekomme ich das Lösegeld?“
„Sie holen es am Waterside Shopping Center in der Nähe des Parks ab.“
„Und wenn der Kidnapper mich beobachtet?“
„Ihr Chef wird Ihnen das Geld persönlich überreichen, direkt bei den Geldautomaten der Amerikanischen Nationalbank. Einer unserer Detectives bereitet ihn auf alles vor. Auch dort werden Sie ein paar Kollegen verdeckt beobachten, falls er versucht, dort an das Geld zu kommen.“
„Ist das Geld mit einem Peilsender ausgestattet?“
„Ja“, gab Ray zu, „und die Tasche auch. Aber die Geräte sind sehr klein. Der eine wird in die Naht der Tasche eingearbeitet. Ein paar weitere Sender sind mit durchsichtigen Aufklebern auf einzelnen Scheinen angebracht. Selbst wenn man einen Schein mit einem Sender in der Hand hält, ist es sehr schwer, ihn zu entdecken.“
Keri wusste, warum Ray die Frage beantwortet hat. Raineys wütender Blick sagte ihr, dass er nicht besonders glücklich darüber war. Wahrscheinlich dachte er, dass die Sender Jessica in Gefahr bringen könnten.
Ray hatte ihn darüber informiert, damit sein Vertrauen zu Keri nicht verletzt wurde. Keri nickte ihrem Partner dankbar zu. Rainey schien das nicht zu bemerken. Was Ray ihm soeben mitgeteilt hatte, hatte ihm offensichtlich nicht gefallen, aber er versuchte auch nicht, sich dagegen zu wehren.
„Was mache ich dann?“, fragte er Keri. Ray würdigte er keines Blickes mehr.
„Wie ich schon sagte, sobald Sie das Lösegeld haben, fahren Sie ins Parkhaus und gehen direkt zu der Brücke in Chace Park. Denken Sie immer daran, unsere Officers sind bei Ihnen, auch wenn Sie sie nicht sehen. Machen Sie sich keine Sorgen, konzentrieren Sie sich nur auf die Brücke und das Geld.“
„Was passiert, wenn er kommt?“, fragte Rainey weiter.
„Sie fragen nach ihrer Tochter. Er soll schließlich denken, dass Sie alleine sind. Es wäre also merkwürdig, wenn Sie ihm ohne jede Gegenwehr das Geld geben. Wahrscheinlich würde er Verdacht schöpfen. Ich bezweifle, dass er sie mitbringen wird, aber er wird Ihnen wahrscheinlich sagen, wo er sie versteckt hat. Vielleicht sagt er auch, dass er Ihnen das Versteck mitteilt, wenn er in sicherer Entfernung ist.“
„Sie wird nicht im Park sein?“, fragte Rainey erstaunt.
„Es würde mich sehr überraschen. Damit würde er sein einziges Druckmittel riskieren. Für ihn ist es sicherer, wenn sie weiterhin um Jessicas Sicherheit fürchten. Rechnen Sie also am besten damit, dass sie nicht dort sein wird.“
„Ich verstehe. Und dann? Wie geht es dann weiter?“
„Nachdem Sie also mit der Übergabe gezögert und nach Jessica gefragt haben, geben Sie ihm die Tasche. Versuchen Sie nicht mit ihm zu verhandeln. Versuchen Sie nicht, ihn zu überwältigen. Er wird vermutlich ebenso nervös sein wie Sie. Wir wollen keine Konfrontation.“
Tim Rainey nickte zögernd. Keri gefiel diese Reaktion nicht. Sie beschloss, es noch einmal nachdrücklicher zu formulieren.
„Mr. Rainey, Sie müssen mir versprechen, dass Sie keine Dummheiten machen. unsere beste Chance ist, dass er Ihnen Jessicas Aufenthaltsort verrät, oder dass er uns nach dem Treffen zu ihr führt. Bleiben Sie ruhig, auch wenn er Ihnen nichts sagt. Wir werden ihn mit den Sendern verfolgen und wir werden ihn festnehmen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Wenn Sie auf eigene Faust vorgehen, könnte es für Sie und auch für Jessica sehr gefährlich werden. Haben Sie mich verstanden, Sir?“
„Ja. Ich verspreche, dass ich nichts tun werde, das Jessica in Gefahr bringen könnte.“
„Gut, dann bin ich beruhigt“, sagte Keri, obwohl sie immer noch ihre Zweifel hatte. „Sie übergeben die Tasche, gehen zurück zu Ihrem Wagen und kommen wieder hierher. Um alles andere kümmern wir uns. Okay?“
„Werden Sie ein Abhörgerät an mir befestigen?“, fragte er und Keri fiel sofort auf, dass er ihre Anordnung nicht bestätigt hatte.
„Ja, das werden wir“, mischte Ray sich wieder ein. „Ein Abhörgerät und eine kleine Kamera. Aber keine Sorge, beides wird nicht zu sehen sein, besonders bei Nacht. Die Kamera wird uns helfen, ihn zu identifizieren und über das Audio wissen wir, wenn Sie in Gefahr sind.“
„Können wir kommunizieren?“
„Nein“, sagte Ray. „Also, wir werden Sie hören können, aber es wäre zu riskant, Ihnen einen Empfänger ins Ohr zu stecken. Den könnte der Entführer nämlich sehen. Außerdem wollen wir, dass Sie sich ganz und gar auf Ihre Aufgabe konzentrieren.“
„Eine Sache noch“, sagte Keri. „Es besteht die Chance, dass er nicht kommt. Vielleicht ist es im in letzter Minute doch zu riskant, vielleicht hatte er nie vor zu kommen. Bereiten Sie sich innerlich auf darauf vor.“
„Glauben Sie das denn?“, fragte Rainey. Er selbst hatte darüber offenbar noch nicht nachgedacht.
Keri wollte ihm eine ehrliche Antwort geben.
„Ich weiß nicht, was passieren wird, aber bald finden wir es heraus.“
KAPITEL SIEBEN
Keri fühlte sich, als müsse sie sich übergeben. Es war beinahe zum Lachen. Sie hatte so lange auf einem Hausboot gelebt, aber jetzt, als sie auf offenem Wasser trieb und durch ein Fernrohr sah, bekam ihr das Schaukeln plötzlich gar nicht.
Butch hatte vorgeschlagen nahe des Ufers zu ankern, aber Keri und Ray fürchteten, dass das zu auffällig wäre. Natürlich war es nicht viel besser, parallel zum Ufer auf und ab zu segeln, also hatte Butch schließlich Kurs auf eine Anlegestelle gehalten, von der aus man immer noch gute Sicht hatte, aber aufgrund der anderen Boote weniger auffiel. Keri, die nur mit Mühe ihre Übelkeit in Schach hielt, fand den Vorschlag ausgezeichnet. Sie fanden eine freie Stelle und verhielten sich ruhig, bis es langsam auf Mitternacht zuging. Der kalte Winterwind blies über das Boot hinweg. Keri saß auf einer schmalen Bank am Fenster und hörte, wie das Wasser gegen den Bug wusch. Sie versuchte, mit den Wellen im Takt zu atmen und spürte, wie sich der Knoten in ihrem Magen langsam löste und der Schweiß auf ihrer Stirn trocknete.
Es war 11:57 Uhr. Keri schaute durch das Fernglas in den Park. Ray, der nur einen Meter weiter saß, tat das Gleiche.
„Und? Gibt es schon etwas zu sehen?“, fragte Butch. Er fand es spannend bei einer verdeckten Polizeioperation mitzumachen und das merkte man ihm an. Für ihn war es vermutlich der spannendste Abend seit Jahren.
Er war genau, wie sie ihn in Erinnerung hatte: Vom Wetter gezeichnete Haut, ein wilder weißer Haarschopf und ein unterschwelliger Geruch von Whiskey. Unter normalen Umständen wäre es verboten, in diesem Zustand ein Boot zu führen, aber die Umstände waren nicht normal.
„Leider wird meine Sicht von ein paar Bäumen beeinträchtigt“, flüsterte sie. „Außerdem ist es schwierig durch das Fenster zu sehen, obwohl die Lichter aus sind.“
„Gegen die Bäume kann ich nichts tun, aber die Fenster lassen sich zur Seite schieben“, sagte Butch.
„Das wusste ich nicht. Danke“, sagte Keri.
„Wie lange hast du auf einem Boot gelebt?“, fragte Ray.
Keri, die erleichtert feststellte, dass er sie wieder neckte, streckte ihm die Zunge heraus. „Scheinbar nicht lang genug“, sagte sie dann.
Eine Stimme ertönte aus dem Funkgerät und unterbrach die lockere Stimmung. Es war Lieutenant Hillman.
„Einheit eins an alle Einheiten. Fracht wurde übernommen, Fahrzeug geparkt und der Bote ist jetzt unterwegs zum Ziel.“
Hillman war einer der Männer, die sich im zweiten Stockwerk des Windjammers Club bereithielten. Von dort hatte er den ganzen Park im Blick, auch die Brücke. Er verwendete zuvor abgesprochene Ausdrücke, um nicht zu viele Informationen über Funk preiszugeben. Immer wieder kam es vor, dass Zivilisten den Polizeifunk abhörten. Rainey war der Bote, die Tasche mit dem Lösegeld war die Fracht und die Brücke das Ziel. Den Kidnapper würden sie nur als das Subjekt bezeichnen und Jessica war der Tauschwert.
„Hier Einheit vier. Haben Blickkontakt mit Ziel“, sagte Keri, als sie endlich einen guten Winkel gefunden hatte, von dem aus sie freie Sicht auf die Brücke hatte. „Niemand zu sehen.“
„Hier Einheit Zwei“, meldete sich Officer Jamie Castillo, die als Obdachlose getarnt im Park saß. „Der Bote ist soeben an mir vorbeigekommen. Ansonsten sehe ich nur zwei obdachlose Personen, die schon den ganzen Nachmittag hier waren. Sie scheinen zu schlafen.“
„Am besten beide im Auge behalten, Einheit Zwei“, sagte Hillman. „Wir haben keine Ahnung vom Subjekt. Alles wäre denkbar.“
„Verstanden, Einheit Eins.“
„Ich hoffe, Sie können mich hören“, flüsterte Tim Rainey nervös in sein Mikrofon. „Ich bin im Park und gehe jetzt auf die Brücke zu.“
Ray rutschte unruhig hin und her. „Hoffentlich kommentiert er nicht die ganze verdammte Übergabe.“
„Er ist nervös, Ray. Das ist doch verständlich“, beschwichtigte Keri ihn.
„An alle Einheiten, hier spricht das Hauptquartier“, meldete sich Manny Suarez aus dem Van, der auf dem Parkplatz des Shopping Centers geparkt war. „Wir haben alles im Blick, aber abgesehen von unserem Boten ist keine Bewegung auszumachen. Noch etwa zwanzig Meter bis zum Ziel.“
Keri sah auf die Uhr. 23:59 Uhr. In der Ferne hörte sie ein Motorboot im Yachthafen starten. Ein paar Seerobben, die sich tagsüber auf den Felsen sonnten, raunten in der Dunkelheit. Wind, Wellen. Ansonsten war alles still.
„Bewegung am Mindanao Way in Richtung Park gesichtet“, ertönte eine aufgeregte Stimme, die Keri nicht bekannt vorkam.
„Identifizieren Sie Ihre Einheit“, bellte Hillman, „keine Namen!“
„Entschuldigen Sie, hier spricht Einheit Drei. Ein Fahrzeug nähert sich dem Park… Scheinbar ein Motorrad.“
Jetzt wusste Keri, wer sprach – Officer Roger Gentry. West LA war keine besonders große Division des LAPD und da sie um diese Uhrzeit nicht genügend beamte zur Verfügung hatten, hatte Hillman jeden verfügbaren Officer hinzugezogen, einschließlich Gentry. Er war jung und seit weniger als einem Jahr bei der Polizei. Er hatte etwa zur gleichen Zeit wie Castillo angefangen, aber er schien um einiges unsicherer zu sein.
„Kann das jemand bestätigen?“, fragte Hillman.
„Hören Sie das?“, fragte Tim Rainey aufgeregt, als hätte er vergessen, dass sie ihm nicht antworten können. „Da kommt jemand.“
„Hier Einheit Zwei“, sagte Castillo von ihrer Position im Park. „Ich habe Sichtkontakt. Es ist ein Motorrad. Kleines Modell, ich glaube eine Honda. Nur ein Fahrer. Es ist soeben in den Park eingebogen und fährt jetzt den Fahrradweg entlang auf das Ziel zu.“
Keri konnte das Motorrad jetzt auch sehen. Es folgte dem Fahrradweh, der direkt am Ufer entlang führte. Sie sah zu Tim Rainey, der jetzt völlig erstarrt mitten auf der Brücke stand und mit der rechten Hand die Tasche umklammert hielt.
„Hier Einheit Eins“, meldete sich Hillman wieder. „Wir haben das Subjekt im Visier und sind bereit einzugreifen.“
„Hier Einheit Vier“, meldete Ray sich zu Wort. „Haben Sichtkontakt. Das Motorrad fährt mit etwa fünfzig km/h am Ufer entlang, biegt jetzt rechts ab in nördlicher Richtung zum Ziel.“
„Ich glaube es ist ein Motorrad“, sagte Tim Rainey. „Kann irgendjemand sehen, wer es ist? Ist es der Kidnapper? Hat er Jessi?“
„Hier wieder Einheit Eins“, sagte Hillman, ohne auf Raineys Fragen einzugehen. „Einheit Vier, könnte Ihr sehen ob das Subjekt bewaffnet ist?“
„Feuer bereit“, hörten sie leise den Scharfschützen neben Hillman sagen.
„Hier Einheit Vier“, sagte Ray. „Keine Waffen zu sehen, aber die Dunkelheit und die Geschwindigkeit des Fahrzeugs lassen keine genauen Aussagen zu.“
Keri beobachtete, wie das Motorrad plötzlich bremste und sich schwungvoll mehrfach um sich selbst drehte. Sobald der Vorderreifen wieder griff, gab der Fahrer Gas und raste wieder in die Richtung, aus der es gekommen war.
„hier Einheit Vier“, sagte sie schnell, „Nicht schießen. Ich wiederhole, nicht schießen. Ich glaube es handelt sich nicht um das Subjekt sondern um einen Möchtegern-Stuntman.“
„Nicht schießen“, wiederholte Hillman.
Und tatsächlich drehte das Motorrad noch eine Runde, fuhr ein paar Tricks und verschwand dann wieder auf derselben Straße, auf der es gekommen war.
„Hier Einheit Eins. Hat jemand Sichtkontakt mit dem Boten?“, fragte Hillman.
„Hier Einheit Vier“, meldete sich Keri. „Der Bote steht nach wie vor in Position. Er sieht verunsichert aus. Wie soll es jetzt weitergehen?“
„Am besten alle in Position bleiben. Das kann nur eine Ablenkung gewesen sein“, entgegnete Hillman.
„Kommt mich jemand holen?“, fragte Rainey, „oder soll ich hier stehen bleiben? Ich bleibe wohl einfach hier, solange mir nichts anderes gesagt wird.“
„Oh Mann, ich wünschte er würde endlich die Klappe halten“, murmelte Ray. Er hatte mit der Hand das Mikrofon verdeckt, sodass nur Keri und Butch ihn hören konnten. Keri sagte nichts.
Nach weiteren zehn Minuten sah Keri, wie Rainey, der immer noch auf der Brücke stand, auf sein Handy sah.
„Könnt ihr mich hören?“, sagte er aufgeregt. „Ich habe eine Nachricht bekommen: Sie haben mein Vertrauen missbraucht und die Polizei eingeschalten. Damit haben Sie die Gelegenheit verspielt, das Kind einzutauschen. Jetzt muss ich entscheiden, ob ich den bösen Geist selbst austreibe oder ob ich Ihnen den Ungehorsam vergebe und noch eine letzte Chance gewähre, ihre Seele zu reinigen. Ihr Schicksal lag in Ihren Händen. Jetzt liegt es in meinen. Er wusste, dass die Polizei hier ist. Die ganzen Vorbereitungen waren für die Katz. Vielleicht meldet er sich nie wieder bei mir! Sie haben meine Tochter auf dem Gewissen!“
Bei diesem letzten Satz war seine Stimme zu einem schrillen Kreischen angeschwollen. Keri hörte ihn bis hinüber zur Anlegestelle und sah, wie er auf die Knie sank, die Tasche fallen ließ und die Hände vors Gesicht schlug. Sie konnte seinen Schmerz förmlich spüren.
Über die Abhörgeräte hörte sie das verzweifelte Schluchzen eines Vaters, der seine Tochter für immer verloren glaubte. Keri kannte dieses Schluchzen, weil sie selbst eins so geschluchzt hatte. Damals hatte sie begriffen, dass ihre Tochter verschwunden war und niemand etwas dagegen tun konnte.