Um was zu tun?
Ezatullah war ein erfahrener Dschihadist. Er musste wissen, dass das, was er hier andeutete, unmöglich war. Was auch immer er zu tun gedachte, Eldrick wusste, dass sie nicht einmal in die Nähe kommen würden. Er stellte sich den Wagen vor, von Einschusslöchern durchsiebt, dreihundert Meter vom Zaun des Weißen Hauses oder Pentagons oder des Kapitols entfernt.
Das war keine Selbstmordmission. Es war nicht einmal eine Mission. Es war eine politische Botschaft.
„Keine Sorge,“ sagte Ezatullah. „Freu dich. Man hat dich für diese große Ehre auserkoren. Wir werden es schaffen, auch wenn du dir das gerade noch nicht vorstellen kannst. Das Vorgehen wird dir rechtzeitig einleuchten.“ Er drehte sich um und ließ die Seitentür des Lieferwagens aufgleiten.
Eldrick blickte zu Momo. Er hatte das hintere Nummernschild fast angebracht. Momo hatte schon eine Weile nicht mehr gesprochen. Er fühlte sich wahrscheinlich selbst nicht besonders gut.
Eldrick trat einen Schritt zurück. Dann einen weiteren. Ezatullah war mit irgendetwas im Inneren des Wagens beschäftigt. Er hatte ihm den Rücken zugewandt. Das Seltsame des Moments war, dass er sich wahrscheinlich nicht noch einmal anbieten würde. Eldrick stand dort im toten Winkel und niemand schaute zu ihm. Eldrick war in der Schule Mittelstrecke gelaufen. Er war gut darin. Er erinnerte sich an die Menge im Armory in der hundertsechsundachtzigsten Straße in Manhattan, an die Platzierungen auf der große Anzeigetafel, wie das Startsignal ertönte. Er erinnerte sich an das flaue Gefühl im Magen kurz vor dem Rennen und an die unglaubliche Geschwindigkeit auf der neuen Bahn, schlanke schwarze Gazellen, rangelnd, die sich abstießen, die Ellenbogen in der Luft, die sich so schnell bewegten, als wäre es ein Traum.
Seitdem war Eldrick nie wieder so schnell gerannt wie damals. Doch wenn er seine gesamte Energie bündelte, dann würde er vielleicht noch einmal so schnell laufen können. Es erschien sinnlos zu warten oder länger darüber nachzudenken.
Er drehte sich um und rannte los. Eine Sekunde später hörte er Momos Stimme hinter ihm: „EZA!“
Dann folgte etwas auf Farsi. Das verlassene Gebäude befand sich vor ihm. Die Übelkeit kam zurück. Er würgte, Blut floss auf sein T-shirt, aber er lief weiter. Er war bereits außer Atem.
Er hörte etwas zuklappen wie ein Tacker. Es hallte verhalten an den Wänden des Gebäudes wider. Ezatullah schoss, natürlich tat er das. Seine Waffe hatte einen Schalldämpfer.
Ein scharfer Stich fuhr durch Eldricks Rücken. Er fiel auf den Boden und schürfte sich seinen Arm an dem kaputten Asphalt auf. Den Bruchteil einer Sekunde später erschallte ein weiterer Schuss. Eldrick stand auf und rannte weiter. Der Zaun war nah. Er schwenkte um und lief auf das Loch zu.
Ein zweiter Stich durchdrang ihn. Er fiel nach vorne und klammerte sich an den Zaun. Seinen Beinen schien die gesamte Kraft zu entweichen. Er hing dort, an seinen Finger, die sich an die Maschen des Zauns klammerten.
„Beweg dich,“ krächzte er. „Beweg dich.“
Er fiel auf seine Knie, krabbelte auf den zerrissen Zaun zu und zwängte sich durch das Loch. Hohes Gras umgab ihn. Er stand auf wankte ein paar Schritte nach vorne, stolperte über etwas, das er nicht gesehen hatte und rollte eine Aufschüttung herunter. Er unternahm keinen Versuch zum Stehen zu kommen und überließ es dem Schwung, ihn zum Fuße der Aufschüttung zu befördern.
Er kam zum Stehen. Er atmete schwer. Der Schmerz in seinem Rücken war enorm. Sein Gesicht war von Schmutz bedeckt. Es war nass und matschig hier, er befand sich direkt am Ufer. Er konnte sich in das dunkle Wasser rollen, wenn er wollte. Doch stattdessen kroch er tiefer in das Gehölz. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Wenn er hier blieb, sich nicht bewegte und keinen Mucks machte, dann wäre es kaum möglich…
Er berührte mit der Hand seine Brust. Seine Finger tasteten Blut.
*
Ezatullah stand neben dem Loch im Zaun. Die Welt um ihn herum drehte sich. Ihm war schwindlig geworden, als er versucht hatte Eldrick hinterherzulaufen.
Seine Hand umfasste stützend die Maschen des Zauns. Er dachte, er müsse sich übergeben. Es war dunkel dort im Gebüsch. Sie könnten eine Stunde dort nach ihm suchen. Wenn er es in das große verlassene Haus geschafft hatte, würden sie ihn vielleicht nie finden.
Mohammar stand in seiner Nähe. Er hatte sich nach vorn übergebeugt, seine Hände hatte er auf die Knie stützt, er atmete tief ein und aus. Sein Körper zitterte. „Sollen wir hinterher?“ fragte er.
Ezatullah schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Zeit. Ich habe ihn zwei Mal angeschossen. Wenn die Strahlung ihn nicht umbringt, dann die Kugeln. Lass ihn hier alleine verrecken. Vielleicht wird Allah mit diesem Feigling Mitleid haben. Ich hoffe es. Wie auch immer wir müssen weiter, auch ohne ihn.“
Er drehte sich um und lief zum Lieferwagen zurück. Es schien, als parkte der Wagen weit weg. Er war müde und abgezehrt aber er setzte weiter einen Fuß vor den anderen. Jeder Schritt brachte ihn näher zum Paradies.
Kapitel 9
6.05 Uhr
Kommandozentrale der Anti-Terrorismus Einheit – Midtown Manhattan
„Luke, es wäre jetzt das Beste, deine Leute zusammenzurufen und zurück nach Washington zu fahren,“ sagte der Mann in dem Anzug.
Luke stand etwas abseits des geschäftigen Chaos, das sich im Hauptraum der Zentrale abspielte. Der Tag war bereits angebrochen und schwaches Licht drang durch die Fenster zwei Stockwerke über dem Arbeitsbereich. Die Zeit verging zu schnell und die Kommandozentrale war noch immer ein unkoordiniertes Schlachtfeld.
Zweihundert Menschen befanden sich im Raum. Es gab mindestens vierzig Arbeitsstationen, von denen einige mit fünf Computerbildschirmen ausgestattet und von zwei oder drei Personen besetzt waren. Auf der großen Wand ganz vorne befanden sich zwanzig verschiedene Fernseh- und Computerbildschirme. Die Monitore zeigten digitale Karten von Manhattan, der Bronx, Brooklyn, Live-Schaltungen aus den Eingängen zum Holland und Lincoln Tunnel, Fahndungsfotos von arabischen Terroristen, von denen bekannt war, dass sie sich im Land aufhielten.
Drei der Bildschirme zeigten gerade Bürgermeister DeAngelo, während er ins Mikrofon sprach und den tapferen Menschen New Yorks mitteilte mit ihren Kindern zu Hause zu bleiben. Er schien mit seinen fast zwei Metern seine Berater neben ihm in den Schatten zu stellen. Die Rede war vorbereitet und er las sie von einem Manuskript ab.
„Im schlimmsten Fall,“ sagte der Bürgermeister, dessen Stimme aus Lautsprechern kam, die in allen Winkeln des Raums aufgestellt worden waren, „würde die erste Explosion viele Menschen töten und eine Massenpanik im betroffenen Gebiet auslösen. Der Kontakt mit der Strahlung würde Angst und Schrecken in der Region und wahrscheinlich im gesamten Land verbreiten. Viele Menschen, die bei der Explosion mit der Strahlung in Kontakt kommen würden, würden erste Symptome zeigen und schließlich sterben. Die Aufräumkosten wären enorm, aber sie wären marginal im Vergleich zu den psychologischen und ökonomischen Kosten. Der Einsatz einer radioaktiven Bombe in einem größeren Bahnhof in New York City würde das Transportsystem entlang der Ostküste für lange Zeit erheblich einschränken.“
„Wie erfreulich,“ bemerkte Luke. „Ich frage mich, wer seine Reden schreibt.“
Sein Blick fuhr durch den Raum. Alle waren sie hier vertreten und sie alle kämpften um Status und Geltung. Es war förmlich eine Buchstabensuppe. NYPD, FBI, NSA, ATF, DEP und sogar die CIA. Sogar die DEA. Luke wunderte sich, wie der Diebstahl von radioaktivem Material mit Drogenkriminalität zusammenpasste.
Ed Newsam war in der Menge auf die Suche nach Personal vom Spezialeinsatzkommando gegangen. „Luke, hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?“ Luke kehrte mit seinen Gedanken zurück. Er stand neben Ron Begley vom Verfassungsschutz.
Sicherheit. Ron hatte schütteres Haar und war Ende fünfzig. Er hatte einen Bauch und dickliche kleine Finger. Luke kannte seine Geschichte. Er war ein Bürohengst, ein Mann der es durch den Bürokratieapparat der Regierung zu etwas gebracht hatte. Am elften September hatte er für das Finanzministerium gearbeitet und ein Team geleitet, das sich mit Steuerhinterziehung und Ponzi-Schemes beschäftigte. Er hatte zur Anti-Terrorismus-Einheit gewechselt als der Verfassungsschutz gegründet wurde. Er hatte noch nie jemanden verhaften lassen oder im Affekt seine Waffe benutzt.
„Du sagtest, ich solle nach Hause gehen.“
„Du trittst hier Leuten auf die Füße, Luke. Kurt Myerson hat seinen Chef angerufen und ihm erzählt, dass du die Leute im Krankenhaus wie deine persönlichen Angestellten behandelt hast. Und dass du einem SWAT-Team Anweisungen gegeben hast. Mal ehrlich? Einem SWAT-Team? Hör zu, das ist deren Zuständigkeit. Du bist derjenige, der ihren Anweisungen folgt. So herum läuft der Hase.“
„Ron, die New Yorker Polizeibehörde hat uns angerufen. Ich nehme stark an, dass sie das getan haben, weil sie uns brauchen. Die Leute wissen, wie wir arbeiten.“
„Cowboys,“ sagte Begley. „Ihr benehmt euch wie Rodeo Cowboys.“ „Don Morris hat mich aus dem Bett geholt, damit ich herkomme. Du kannst mit ihm sprechen…!“
Begley zuckte mit den Schultern. Ein Lächeln zuckte über sein Gesicht. „Don wurde abberufen. Er hat vor zwanzig Minuten den Helikopter genommen. Ich würde vorschlagen, dass du das auch machst.“
„Was?“
„Es ist wahr. Er wurde auf höhere Ebene berufen. Sie haben ihn gebeten einen Situationsüberblick im Pentagon zu geben. Hochrangiges Zeug. Ich vermute, sie hatten keinen Praktikanten, der das machen konnte, deshalb haben sie Don herbeizitiert.“
Begley dämpfte seine Stimme, doch Luke konnte ihn immer noch gut verstehen. „Kleiner Ratschlag. Was bleibt Don denn noch, drei Jahre bis zur Pensionierung? Don ist eine aussterbende Gattung. Er ist ein Dinosaurier genauso wie das Spezialeinsatzkommando. Ihr wisst es und ich weiß es auch. Alle diese kleinen geheimen Einheiten innerhalb der Einheit werden auf der Strecke bleiben. Wir fusionieren und zentralisieren, Luke. Was wir jetzt brauchen sind datenbasierte Analysen. So werden die Verbrechen in der Zukunft aufgeklärt. Und so werden wir auch die Terroristen heute kriegen. Wir brauchen keine testosterongesteuerten Super-Spione und in die Jahre gekommene Kommandeure, die sich an Gebäudeseiten abseilen. Das ist vorbei. Das Helden-Spielen hat ein Ende. Es ist fast ein wenig komisch, wenn man darüber nachdenkt.“
„Toll,“ sagte Luke. „Ich werde das in meine Überlegungen miteinbeziehen.“
„Ich dachte, du würdest am College unterrichten,“ sagte Begley. „Geschichte, Politikwissenschaft, so was in der Art.“
Luke nickte. „Ja das stimmt.“ Begley legte seine fleischige Hand auf Lukes Arm. „Du solltest dabei bleiben.“ Luke schüttelte die Hand ab und verschwand in der Menge, um nach seinen Leuten zu suchen.
*
„Was haben wir soweit?“ fragte Luke.
Sein Team kampierte in einem etwas außerhalb liegenden Büro. Sie hatten sich ein paar leere Tische geschnappt und ihre eigene kleine Kommandostation mit Laptops und Satellitenverbindung eingerichtet. Trudy und Ed Newsam waren da, sowie ein paar andere. Swann saß mit drei Laptops alleine in einer Ecke.
„Sie haben Don zurückgerufen,“ sagte Trudy. „Ich weiß. Hast du mit ihm gesprochen?“ Sie nickte. „Vor zwanzig Minuten. Kurz vor seinem Abflug. Er hat gesagt, dass wir bis auf weiteres an dem Fall dranbleiben sollen. Freundlich ausgedrückt für: Ignoriert alle, die das Gegenteil fordern.“ „Klingt gut. Also was haben wir?“ Ihr Gesicht war ernst. „Wir sind ziemlich gut vorangekommen und konnten den Kreis an Fahrzeugen mit hoher Priorität auf sechs einschränken. Alle haben in einer Straße Reichweite das Krankenhaus letzte Nacht passiert. Sie alle haben etwas, das nicht zusammenpasst oder verdächtig ist.“
„Kannst du mir ein Beispiel geben?“
„Klar. Einer ist ein Lebensmitteltransporter, der auf einen ehemaligen russischen Fallschirmjäger läuft. Wir konnten ihn mit Hilfe der Überwachungskameras folgen, so weit können wir sagen, dass er die ganze Nacht durch Manhattan gefahren ist, er hat Hot Dogs und Pepsi an Prostituierte, Zuhälter und Freier verkauft.“
„Wo ist er jetzt?“
„Er parkt auf der elften Avenue, südlich vom Jacob Javits Convention Center. Er hat sich eine Weile lang nicht bewegt. Wir glauben, dass er gerade schläft.“
„Okay, klingt als wäre er damit von niedriger Priorität. Leite das nur für den Fall weiter zum NYPD. Die können ihn aufscheuchen, seinen Truck auf den Kopf stellen und herausfinden, was er sonst noch so verkauft. Nächster.“
Trudy ging zum Nächsten über. Ein Kleinwagen, der bei Uber registriert war und einem in Ungnade gefallenen ehemaligen Atomphysiker gehörte. Ein vierzig Tonnen schwerer Traktorschlepper, für den nach einem Unfall mit anschließender Verschrottung Schadensersatz beantragt wurde. Der Lieferwagen einer kommerziellen Wäscherei mit Nummernschildern, die auf ein Geschäft für Fußbodenbelag in Long Island registriert sind. Ein vor drei Jahren als gestohlen gemeldeter Krankenwagen.“
„Ein gestohlener Krankenwagen?“ fragte Luke. „Das klingt doch nach etwas.“
Trudy zuckte die Schultern. „Das ist normalerweise der Schwarzmarkt für Organhandel. Sie entnehmen den Verstorbenen kurz nach ihrem Dahinscheiden Organe, die sie dann verpacken und schnell aus dem Krankenhaus bringen. Ein Krankenwagen fällt schließlich auf einem Krankenhausparkplatz nicht auf.“
„Aber vielleicht haben sie heute nicht auf Organe gewartet. Wissen wir, wo sie gerade sind?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Den einzigen Standort, den wir kennen, ist der von dem Russen. Das ist immer noch eher Kunst als Wissenschaft. Überwachungskameras sind noch längst nicht überall, vor allem wenn man einmal Manhattan verlassen hat. Man sieht einmal einen Wagen an einer Kamera vorbeifahren und dann siehst du ihn nie wieder. Oder du findest ihn zehn Straßen entfernt wieder oder zehn Kilometer. Der Traktorschlepper ist über die George Washington Brücke nach New Jersey gefahren, bevor wir ihn verloren haben. Der Wäschereiwagen ist zur hundertachtunddreißigsten Straße Richtung Süd-Bronx gefahren, bevor er verschwand. Momentan versuchen wir ihn mit anderen Mitteln wiederzufinden. Wir haben das Fuhrunternehmen, Uber, das Fußbodengeschäft und die Wäscherei kontaktiert. Wir sollten bald Bescheid bekommen. Außerdem durchforsten acht Leute im Headquarter Videoaufnahmen um den Krankenwagen wiederzufinden.“
„Gut. Halt mich auf dem Laufenden. Wie läuft es mit der Bankgeschichte?“ Trudys Gesicht versteinerte. „Diesbezüglich solltest du Swann fragen.“ „Okay.“ Er trat einen Schritt auf Swanns Ecke zu. „Luke?“
Er blieb stehen. „Ja.“ Ihre Augen streiften durch den Raum. „Können wir uns mal unter vier Augen unterhalten?“
*
„Du willst mich feuern, nur weil ich nicht bereit bin für dich das Gesetz zu brechen?“ „Trudy, ich werde dich nicht feuern. Warum sollte ich das tun?“ „Das ist aber genau das, was du gesagt hast, Luke.“ Sie standen in einem kleinen Lagerraum. Zwei leere Tische standen dort, es gab ein kleines Fenster. Der Bodenbelag war neu. Die Wände waren makellos weiß. Eine Überwachungskamera war in einer der Ecken in Höhe der Decke angebracht worden.