„Ich habe gelesen, dass in 2016 durch das Schmelzen einer Eiskappe, Anthrax in einer Wasserversorgung gefunden wurde “, kommentierte Renault.
„Das stimmt. Ich wurde mit diesem Fall beauftragt. So wie auch mit dem Fall der spanischen Grippe, der in Alaska aufgetreten ist.“
„Was ist aus dem Jungen geworden?“, fragte der junge Franzose. „Der Pockenfall von vor fünf Monaten.“ Er wusste, dass der Junge, so wie auch die fünfzehn anderen infizierten Menschen aus seinem Dorf, unter Quarantäne gestellt worden waren, aber an dieser Stelle hatte die Berichterstattung geendet.
„Er ist gestorben“, sagte Cicero. In seiner Stimme lag keinerlei Emotion; nicht vergleichbar, wie wenn er von seiner Frau Phoebe sprach. Nach Jahrzehnten in seinem Berufsfeld hatte Cicero die subtile Kunst der innerlichen Abgrenzung gelernt. „Gemeinsam mit vier anderen. Es konnte dadurch allerdings ein Impfstoff gegen den Pockenstamm entwickelt werden, sodass ihr Tod nicht völlig umsonst war.“
„Trotzdem“, sagte Renault leise, „was für eine Schande.“
Die Ausgrabungsstätte befand sich weniger als einen Steinwurf vom Flussufer entfernt. Es handelte sich um ein zwanzig Quadratmeter großes Stück Tundra, das mit Metallpfählen und leuchtend gelbem Klebeband abgesperrt worden war. Es war die vierte Ausgrabungsstätte, die das Forschungsteam im Rahmen ihrer Ermittlungen bisher enthoben hatte. Vier weitere Forscher in Dekontaminierungsanzügen befanden sich in der abgesperrten Zone und sie alle lehnten sich über einen kleinen Bereich in der Nähe des Zentrums. Einer von ihnen sah die zwei Männer ankommen und eilte zu ihnen hinüber.
Es handelte sich um Dr. Bradlee, eine ausgeliehene Archäologin der Universität von Dublin.
„Cicero“, sagte sie. „Wir haben etwas gefunden.“
„Was ist es?“, fragte er, als er sich unter dem Absperrband hindurchschlängelte. Renault folgte ihm.
„Einen Arm.“
„Wie bitte?“, stieß Renault hervor.
„Zeigen Sie ihn mir“, sagte Cicero.
Bradlee führte sie zu der Stelle ausgehobenem Permafrosts. In den Permafrost zu graben – und dabei so vorsichtig zu sein – war keine leichte Aufgabe, wusste Renault. Die obersten Schichten gefrorener Erde tauten gewöhnlich im Sommer auf, aber die tieferen Schichten wurden so genannt, weil sie in den Polargebieten dauerhaft gefroren waren. Das Loch, welches Bradlee und ihr Team gegraben hatten, war fast zwei Meter tief und breit genug, sodass ein ausgewachsener Mann darin liegen konnte.
Nicht viel anders als ein Grab, dachte Renault grimmig.
Und wie sie gesagt hatte, waren die eingefrorenen Überreste eines menschlichen Arms am Boden des Loches sichtbar, gewunden, fast skelettartig und durch die Zeit und die Erde geschwärzt.
„Mein Gott“, sagte Cicero fast flüsternd. „Wissen Sie, was das ist Renault?“
„Eine Leiche?“, vermutete er. Zumindest hoffte er, dass an dem Arm noch mehr dranhing.
Cicero sprach schnell und gestikulierte mit seinen Händen. „In den 1880er Jahren gab es nicht weit von hier direkt am Ufer des Kolyma eine kleine Siedlung. Die ursprünglichen Siedler waren Nomaden, aber aufgrund ihrer wachsenden Bevölkerungszahl beabsichtigten sie, hier ein Dorf zu errichten. Dann geschah das Undenkbare. Eine Pockenepidemie brach aus und tötete vierzig Prozent ihres Stammes innerhalb von wenigen Tagen. Sie glaubten, der Fluss sei verflucht, und die Überlebenden flüchteten schnell.
„Aber bevor sie dies taten, begruben sie ihre Toten – genau hier, in einem Massengrab am Ufer des Kolyma-Flusses.“ Er zeigte in das Loch und auf den Arm. „Die Fluten zerstören die Ufer. Der schmelzende Permafrost würde diese Leichen bald aufdecken und danach würde es nicht mehr als die einheimische Fauna benötigen, um an ihnen zu nagen und um dadurch ein Träger der Krankheit zu werden, durch die wir einer völlig neuen Epidemie ausgesetzt werden würden.“
Renault vergaß für einen Moment zu atmen, während er einen der in Gelb gekleideten Forscher in dem Loch dabei beobachtete, wie er Proben von dem zerfallenden Arm kratze.
Die Entdeckung war ziemlich aufregend; bis vor fünf Monaten war der letzte bekannte Ausbruch dieser Pocken in 1977 in Somalia gewesen. Die Weltgesundheitsorganisation hatte die Krankheit 1980 für ausgerottet erklärt. Und doch standen sie nun am Rand eines Grabes, von dem bekannt war, dass es mit einem gefährlichen Virus infiziert war, der die Bevölkerung einer Großstadt innerhalb weniger Tage stark verringern könnte – und ihr Job war es, ihn auszugraben, zu überprüfen und Proben an die WHO zurückzuschicken.
„Genf wird es bestätigen müssen“, sagte Cicero leise. „Aber wenn meine Spekulationen korrekt sind, dann haben wir gerade einen achttausend Jahre alten Pockenstamm entdeckt.“
„Achttausend?“, fragte Renault. „Ich dachte, Sie sagten, die Besiedlung sei Ende des 19. Jahrhunderts gewesen.“
„Ja, das habe ich“, sagte Cicero. „Aber dann stellt sich die Frage, woher sie – ein isoliertes Nomadenvolk – den Virus bekommen haben. Auf ähnliche Weise, würde ich mir vorstellen. Sie gruben im Boden und stießen auf etwas, das seit langer Zeit gefroren war. Der Pockenstamm, der vor fünf Monaten in dem aufgetauten Karibu Kadaver gefunden wurde, konnte bis zum Beginn der Holozänepoche zurückverfolgt werden.“ Der ältere Virologe schien seinen Blick nicht von dem Arm abwenden zu können, welcher aus dem gefrorenen Schmutz herausragte. „Renault, holen Sie bitte den Behälter.“
Renault holte den Probenbehälter aus Stahl und stellte ihn auf die gefrorene Erde nahe der Lochkante. Er öffnete die vier Verschlüsse, die ihn verriegelten, und hob den Deckel. Dort, wo er sie vorhin versteckt hatte, befand sich eine MAB PA-15. Es war eine alte Pistole, die mit ihrem vollem fünfzehn Schuss-Magazin und einem in der Kammer mit einem knappen Kilogramm allerdings nicht allzu schwer war.
Die Waffe hatte seinem Onkel gehört, einem Veteranen der französischen Armee, der in Maghreb und Somalia gekämpft hatte.
Der junge Franzose mochte Waffen jedoch nicht; sie waren ihm zu direkt, zu diskriminierend und viel zu künstlich für seinen Geschmack. Nicht wie ein Virus – die perfekte Maschine der Natur, die in der Lage war, eine komplette Spezies auszulöschen, sowohl systematisch als auch kritiklos zugleich. Emotionslos, unnachgiebig und plötzlich; genau das, was er jetzt sein musste.
Er griff in die Stahlkiste und schlang seine Hand um die Waffe. Er schwankte leicht. Er wollte die Waffe nicht benutzen. Er hatte tatsächlich Gefallen an Ciceros ansteckendem Optimismus und dem Funkeln in den Augen des älteren Mannes gefunden.
Aber alle Dinge müssen ein Ende haben, dachte er, die nächste Erfahrung wartet bereits.
Renault stand dort mit der Pistole in der Hand. Er entfernte die Sicherung an der Pistole und schoss den beiden Forschern, die auf der anderen Seite des Loches standen, emotionslos direkt in die Brust.
Dr. Bradlee stieß wegen des plötzlichen Schusses der Pistole einen erschrockenen Schrei aus. Sie stolperte zwei Schritte rückwärts, bevor Renault ebenfalls zweimal auf sie schoss. Der englische Arzt, Scott, machte einen schwachen Versuch, aus dem Loch zu klettern, bevor der Franzose es mit einem einzigen Schuss in den Kopf zu seinem Grab machte.
Die Schüsse waren donnernd und ohrenbetäubend, aber es war für über hundertfünfzig Kilometer niemand um sie herum, der sie hätte hören können.
Cicero war wie versteinert und vor Schock und Angst gelähmt. Renault hatte nur sieben Sekunden gebraucht, um vier Leben zu nehmen – nur sieben Sekunden, um die Forschungsexpedition in einen Massenmord zu verwandeln.
Die Lippen des älteren Arztes zitterten hinter seiner Atemmaske, als er versuchte, zu sprechen. Nach einer Weile stotterte er ein einziges Wort: „Wi-wieso?“
Renaults eisiger Blick war stoisch, so distanziert, wie jeder Virologe sein musste. „Doktor“, sagte er sanft. „Sie hyperventilieren. Nehmen Sie Ihre Maske ab, bevor Sie ohnmächtig werden.“
Ciceros Atemzüge waren unregelmäßig und schnell – zu schnell für sein Beatmungsgerät. Sein Blick schweifte von der Waffe in Renaults Hand, die er locker an seiner Seite hielt, zu dem Loch hinüber, in dem der nun tote Dr. Scott lag. „Ich … das kann ich nicht“, stotterte Cicero. Seine Atemschutzmaske abzunehmen, würde ihn möglicherweise der Krankheit aussetzen. „Renault, bitte …“
„Mein Name ist nicht Renault“, sagte der junge Mann. „Ich heiße Cheval – Adrian Cheval. Es gab einen Universitätsstudenten namens Renault, der dieses Praktikum erhielt. Er ist jetzt tot. Es sind seine Aufzeichnungen und seine These, die Sie gelesen haben.“
Ciceros blutunterlaufene Augen öffneten sich noch weiter. Die Ränder seines Blicks verschwommen und wurden dunkel und er drohte, sein Bewusstsein zu verlieren. „Ich … ich verstehe nicht … warum?“
„Dr. Cicero, bitte. Nehmen Sie die Atemmaske ab. Wenn Sie schon sterben, würden Sie es nicht vorziehen, dies in Würde zu tun? Mit der Sonne im Gesicht, als hinter einer Maske? Wenn Sie Ihr Bewusstsein verlieren, dann versichere ich Ihnen, dass Sie nie wieder aufwachen werden.“
Mit zitternden Fingern griff Cicero langsam nach seiner gelben Kapuze und zog sie über seine weißen Haare. Dann packte er die Atemschutzmaske und das Beatmungsgerät und nahm es ab. Der Schweiß, der sich auf seiner Stirn geformt hatte, kühlte sofort und fror.
„Ich möchte, dass Sie wissen“, sagte der Franzose, „dass ich Sie und Ihre Arbeit respektiere, Cicero. Das hier macht mir keinen Spaß.“
„Renault – oder Cheval, wer auch immer Sie sein mögen – hören Sie auf Ihre Vernunft.“ Ohne das Atemgerät und die Maske hatte Cicero genug Kraft zurückerlangt, um eine Bitte zum Ausdruck zu bringen. Es konnte nur eine einzige Motivation geben, die den jungen Mann vor ihm zu einer solch grausamen Tat treiben würde. „Was auch immer Sie damit vorhaben, bitte, überdenken Sie es noch einmal. Es ist extrem gefährlich –“
Cheval seufzte. „Ich bin mir dessen bewusst, Doktor. Sehen Sie, ich war tatsächlich ein Student der Universität in Stockholm und ich verfolgte wirklich meinen Doktortitel. Letztes Jahr habe ich jedoch einen Fehler gemacht. Ich habe Fakultätsunterschriften auf einem Anforderungsformular gefälscht, um Proben eines seltenen Enterovirus zu bekommen. Sie haben es herausgefunden. Ich wurde exmatrikuliert.“
„Dann … dann lassen Sie mich Ihnen helfen“, bat Cicero. „I-ich kann eine solche Anfrage unterschreiben. Ich kann Sie bei Ihrer Forschungsarbeit unterstützen. Alles außer dem …“
„Forschung“, sagte Cheval leise. „Nein, Doktor. Ich bin nicht hinter der Forschung her. Meine Leute warten und sie sind keine geduldigen Männer.“
Ciceros Augen füllten sich mit Tränen. „Es wird nichts Gutes dabei herauskommen. Das wissen Sie.“
„Sie liegen falsch“, sagte der junge Mann. „Viele werden sterben, ja. Aber sie werden ehrenhaft sterben und den Weg für eine bessere Zukunft ebnen.“ Cheval wandte sich ab. Er wollte den freundlichen alten Doktor nicht erschießen. „Aber in einem Punkt hatten Sie recht. Meine Claudette, sie ist echt. Und Abwesenheit lässt die Liebe tatsächlich wachsen. Ich muss jetzt los, Cicero, und Sie auch. Aber ich respektiere Sie und bin bereit, Ihnen eine letzte Bitte zu gewähren. Gibt es irgendetwas, was Sie zu Ihrer Phoebe sagen möchten? Sie haben mein Wort, ich werde die Nachricht übermitteln.“
Cicero schüttelte langsam seinen Kopf. „Es gibt nichts, was ich ihr sagen möchte, das so wichtig sein könnte, ein Monster wie Sie in ihre Richtung zu schicken.“
„Also gut. Auf Wiedersehen Doktor.“ Cheval hob die PA-15 und feuerte einen einzelnen Schuss in Ciceros Stirn. Die Wunde schäumte, als der ältere Arzt taumelte und auf der Tundra zusammenbrach.
In der atemberaubenden Stille, die folgte, nahm sich Cheval einen Moment, kniete sich hin und murmelte ein kurzes Gebet. Dann machte er sich wieder an die Arbeit.
Er wischte die Fingerabdrücke und das Pulver von der Waffe und schleuderte sie in den fließenden, eisigen Kolyma. Dann rollte er die vier Leichen in das Loch zu Dr. Scott. Mit einer Schaufel und einer Hacke verbrachte er die nächsten neunzig Minuten damit, sie und den freiliegenden, zersetzenden Arm mit teilweise gefrorenem Dreck zu bedecken. Er nahm die Ausgrabungsstätte auseinander, zog die Pfähle heraus und riss das Absperrband ab. Er nahm sich Zeit, arbeitete akribisch – niemand würde für die nächsten acht bis zwölf Stunden überhaupt versuchen, das Forschungsteam zu kontaktieren und es würde mindestens vierundzwanzig Stunden dauern, bevor die WHO jemanden zur Ausgrabungsstätte schickte. Eine Untersuchung würde sicherlich die vergrabenen Leichen aufdecken, aber Cheval wollte es ihnen nicht leicht machen. Schließlich nahm er die Glasampullen, die die Proben des zersetzenden Arms enthielten, und schob sie vorsichtig nacheinander in die sicheren Schaumstoffröhren in der Edelstahlbox, wobei er sich bewusst war, dass jede Einzelne von ihnen das Potenzial hatte, extrem tödlich zu sein. Dann versiegelte er die vier Verschlüsse des Behälters und trug die Proben zurück zum Lager. Im provisorischen Reinraum trat Cheval in die mobile Dekontaminierungsdusche. Sechs Düsen sprühten ihn aus jedem Winkel mit heißem Wasser und einem eingebauten Emulgierungsmittel ab. Als er fertig war, zog er vorsichtig und methodisch den gelben Schutzanzug aus und ließ ihn auf dem Zeltboden liegen. Es war möglich, dass sein Haar oder sein Speichel, Faktoren um ihn zu identifizieren, am Anzug sein konnten – aber er hatte noch einen letzten Schritt vor sich.
Im Kofferraum von Ciceros Geländewagen befanden sich zwei rechteckige rote Benzinkanister. Er brauchte nur einen, um zurück zur Zivilisation zu gelangen. Den anderen schüttete er großzügig über den Reinraum, die vier Neoprenzelte und die Segeltuchüberdachung.
Dann zündete er das Feuer an. Die Flamme stieg schnell und augenblicklich auf und schickte schwarzen, öligen Rauch in den Himmel. Cheval stieg mit dem stählernen Probenbehälter in den Jeep und fuhr davon. Er fuhr nicht schnell und schaute auch nicht in den Rückspiegel, um das Lager brennen zu sehen. Er nahm sich Zeit.
Imam Khalil würde ihn erwarten. Aber der junge Franzose hatte noch viel zu tun, bevor der Virus bereit war.
KAPITEL EINS
Reid Lawson spähte zum zehnten Mal in weniger als zwei Minuten durch die Jalousien seines Heimbüros. Er wurde nervös; der Bus sollte inzwischen angekommen sein.
Sein Büro befand sich im zweiten Stock, im kleinsten der drei Schlafzimmer in ihrem neuen Zuhause in der Spruce Street in Alexandria, Virginia. Es war ein willkommener Kontrast zu dem engen, kastenförmigen Arbeitszimmer in der Bronx, welches eher der Größe eines Schranks geglichen hatte. Die Hälfte seiner Sachen war ausgepackt; der Rest befand sich immer noch in Kartons, welche im Raum verteilt standen. Seine Bücherregale waren aufgebaut, seine Bücher lagen jedoch in alphabetischer Ordnung aufeinandergestapelt auf dem Boden. Die einzigen Möbel, für die er sich Zeit genommen hatte, sie fertig aufzubauen, waren sein Schreibtisch und sein Computer.
Reid hatte sich selbst gesagt, dass heute der Tag sein würde, an dem er endlich alles sortierte und sein Büro aufräumen würde, fast einen ganzen Monat nach dem Einzug.