„Schrei nicht“, sagte er schnell und leise. „Rufe niemanden. Bleib still und du wirst leben. Mache auch nur ein einziges Geräusch und du wirst sterben. Verstanden?“
Ein leises Quieken entwich Elenas Lippen, als sie das Schluchzen unterdrückte, das in ihr aufstieg. Sie nickte, als Tränen in ihre Augen stiegen. Sie nickte noch immer, als Elias mit seinem Gesicht flach auf den gefliesten Boden fiel.
Er sah sie von oben bis unten an. Sie war zierlich, aber ihre Kleidung war etwas ausgeleiert und der Bund war elastisch. „Zieh dich aus“, sagte er zu ihr.
Elenas Mund fiel vor Entsetzen auf.
Rais lächelte. Er konnte die Verwirrung jedoch verstehen; er war schließlich immer noch nackt. „Ich bin keins dieser Monster“, versicherte er ihr. „Ich brauche Kleidung. Ich werde nicht noch einmal fragen.“
Die junge Frau zitterte, zog ihr Oberteil und dann ihre Hose über ihre weißen Schuhe aus, während sie neben Elias’ Blutlache stand. Rais nahm die Kleidungsstücke entgegen und zog sie etwas unbeholfen einhändig an, während er die Sig auf das Mädchen gerichtet hielt. Die Kleidung war eng, die Hose etwas zu kurz, aber es würde reichen. Er steckte die Pistole in den hinteren Hosenbund und nahm die andere Waffe vom Bett.
Elena stand in ihrer Unterwäsche da und umklammerte ihre Körpermitte. Rais bemerkte es; er hob sein Patientengewand auf und reichte es ihr. „Bedecke dich. Dann lege dich ins Bett.“ Als sie tat, wie er ihr befohlen hatte, fand er einen Schlüsselbund an Lucas Gürtel und öffnete seine andere Handschelle. Dann schlang er die Kette um das Stahlgeländer des Bettes und fesselte Elenas Hände damit.
Er legte die Schlüssel auf die äußerste Kante des Nachttisches, außerhalb ihrer Reichweite. „Jemand wird kommen und dich befreien, nachdem ich gegangen bin“, sagte er zu ihr. „Aber zunächst habe ich ein paar Fragen. Du musst ehrlich zu mir sein, denn wenn du es nicht bist, dann komme ich zurück und bringe dich um. Verstehst du?“
Sie nickte verzweifelt und Tränen rollten über ihre Wangen.
„Wie viele andere Krankenschwestern sind heute Nacht auf dieser Station?“
„B-bitte verletzen Sie sie nicht“, stammelte sie.
„Elena. Wie viele Krankenschwestern sind heute Nacht auf dieser Station?“, wiederholte er.
„Z-zwei …“, schniefte sie. „Thomas und Mia. Aber Tom macht gerade Pause. Er wird vermutlich unten sein.“
„Okay.“ Das Namensschild, welches an seiner Brust befestigt war, hatte die ungefähre Größe einer Kreditkarte. Es hatte ein kleines Foto von Elena und einen schwarzen Magnetstreifen, der über die Länge der Rückseite verlief. „Ist dies nachts eine abgeschlossene Station? Und deine Karte, ist sie der Schlüssel?“
Sie nickte und schniefte wieder.
„Gut.“ Er steckte die zweite Pistole in seinen Hosenbund und kniete sich neben Elias Leiche. Dann zog er ihm beide Schuhe aus und rutschte mit seinen Füßen hinein. Sie waren etwas eng, aber gut genug, um zu fliehen. „Eine letzte Frage. Weißt du, was Francis fährt? Der Nachtwächter?“ Er deutete auf den toten Mann in weißer Uniform.
„I-ich bin mir nicht sicher. Einen … einen Geländewagen, glaube ich.“
Rais griff in Francis’ Taschen und zog einen Schlüsselbund hervor. Daran war ein elektronischer Anhänger; das würde helfen, das Fahrzeug zu finden. „Danke für deine Ehrlichkeit“, sagte er zu ihr. Dann riss er einen Streifen von der Ecke des Bettlakens ab und stopfte ihn in ihren Mund.
Der Flur war leer und hell beleuchtet. Rais hielt die Sig hinter seinem Rücken versteckt in der Hand, als er den Gang entlangschlich. Er führte zu einem breiteren Bereich mit einer u-förmigen Krankenschwesternkabine und dahinter zum Ausgang der Station. Eine Frau mit runden Brillengläsern und einem braunen Bobschnitt saß mit dem Rücken zu ihm am Computer.
„Drehen Sie sich bitte um“, sagte er zu ihr.
Die erschrockene Frau wirbelte herum und sah ihren Patienten/Gefangenen in einem Krankenhauskittel, mit einem blutbeschmierten Arm und einer Waffe, die auf sie gerichtet war. Sie bekam keine Luft und ihre Augen weiteten sich.
„Sie müssen Mia sein“, sagte Rais. Die Frau war wahrscheinlich um die vierzig, korpulent und hatte dunkle Ringe unter ihren großen Augen. „Hände hoch.“
Sie hob die Hände.
„Was ist mit Francis passiert?“, fragte sie leise.
„Francis ist tot“, antwortete Rais leidenschaftslos. „Wenn Sie ihm folgen wollen, tun Sie ruhig etwas Unüberlegtes. Wenn Sie leben wollen, hören Sie aufmerksam zu. Ich werde durch diese Tür gehen. Sobald sie sich hinter mir schließt, werden Sie langsam bis dreißig zählen. Dann gehen Sie in mein Zimmer. Elena lebt, aber sie braucht Ihre Hilfe. Danach können Sie das tun, wozu Sie in einer solchen Situation ausgebildet wurden. Verstehen Sie?“
Die Krankenschwester nickte einmal kräftig.
„Habe ich Ihr Wort dafür, dass Sie diese Anweisungen befolgen werden? Ich bevorzuge es, Frauen nicht zu töten, wenn ich es vermeiden kann.“
Sie nickte wieder, diesmal langsamer.
„Gut.“ Er ging um die Schwesternkabine herum, zog die Karte von seinem Kittel und schob sie durch den Kartenschlitz an der rechten Seite der Tür. Ein kleines Licht wechselte von rot auf grün und das Schloss klickte. Rais drückte die Tür auf, warf Mia, die sich nicht bewegt hatte, einen weiteren Blick zu und sah dann zu, wie sich die Tür hinter ihm schloss.
Und dann rannte er los.
Er eilte den Flur entlang und steckte dabei die Sig zurück in seine Hose. Er rannte die Treppe hinunter in den ersten Stock, nahm zwei Stufen auf einmal, und stürmte dann aus einer Seitentür in die Schweizer Nacht hinaus. Kühle Luft wusch wie eine reinigende Dusche über ihn und er nahm sich einen Augenblick Zeit, um frei zu atmen. Seine Beine schwankten und drohten, nachzugeben. Das Adrenalin seiner Flucht ließ rasch nach und seine Muskeln waren immer noch ziemlich schwach. Er zog Francis’ Schlüsselanhänger aus der Kitteltasche und drückte den roten Alarmknopf. Der Alarm eines SUVs ertönte und die Scheinwerfer blinkten. Er stellte ihn schnell ab und rannte hinüber. Sie würden nach diesem Auto suchen, das wusste er, aber er würde sich nicht für sehr lange darin aufhalten. Er würde es bald loswerden müssen, neue Kleidung finden und am Morgen zur Hauptpostfiliale gehen, wo er alles hatte, was er brauchte, um unter einer falschen Identität aus der Schweiz zu fliehen. Und sobald er konnte, würde er Kent Steele finden und töten.
KAPITEL VIER
Reid hatte gerade die Einfahrt verlassen, um sich mit Maria zu treffen, als er auch schon Thompson anrief, um ihn zu bitten, das Haus der Lawsons zu überwachen. „Ich habe entschieden, den Mädchen heute Abend ein wenig Unabhängigkeit zu geben“, erklärte er. „Ich werde nicht allzu lange weg sein. Aber trotzdem, halten Sie bitte Ihre Augen und Ohren offen.“
„Selbstverständlich“, stimmte der alte Mann zu.
„Und, ähm, wenn es irgendeinen Grund zur Beunruhigung gibt, gehen Sie bitte sofort zu ihnen hinüber.“
„Das werde ich, Reid.“
„Sie wissen schon, wenn Sie sie nicht sehen können oder so, können Sie an die Tür klopfen oder das Festnetztelefon anrufen …“
Thompson kicherte. „Keine Sorge, ich habe alles unter Kontrolle. Und sie auch. Sie sind Teenager. Sie brauchen ab und zu etwas Freiheit. Genießen Sie Ihr Date.“
Mit Thompsons wachsamem Auge und Mayas Entschlossenheit, sich selbst als verantwortungsbewusst zu beweisen, dachte Reid, dass er beruhigt sein und wissen konnte, dass die Mädchen in Sicherheit waren. Natürlich wusste er, dass dies nur ein weiterer seiner mentalen Ausflüge war. Er würde den gesamten Abend daran denken müssen.
Er musste die GPS-Karte auf seinem Handy aufrufen, um den Ort zu finden. Er kannte sich in Alexandria und der Umgebung noch nicht aus, nicht so gut wie Maria, mit der Nähe zu Langley und dem CIA-Hauptquartier. Und trotzdem hatte sie einen Ort ausgewählt, an dem sie noch nie zuvor gewesen war, wahrscheinlich, um sozusagen Ausgleich zu schaffen.
Auf der Fahrt dorthin verpasste er zwei Ausfahrten, obwohl die GPS-Stimme ihm mitteilte, welche Strecke er wann nehmen musste. Er dachte an die merkwürdigen Erinnerungen, die er nun zwei Mal gehabt hatte – zum ersten Mal, als Maya ihn fragte, ob Kate über ihn Bescheid wusste, und dann noch einmal, als er das Parfum roch, welches seine verstorbene Frau geliebt hatte. Es nagte an ihm und lenkte ihn so sehr ab, dass er, selbst als er versuchte, auf die Anweisungen zu hören, schnell wieder abgelenkt wurde.
Der Grund dafür, dass es ihm so seltsam vorkam, war, dass jede andere Erinnerung an Kate so lebhaft in seinem Kopf war. Im Gegensatz zu Kent Steele hatte sie ihn nie verlassen; er erinnerte sich daran, als er sie traf. Er erinnerte sich daran, als er mit ihr ausging. Er erinnerte sich an Ferien und den Kauf ihres ersten Hauses. Er erinnerte sich an ihre Hochzeit und die Geburten seiner Kinder. Er erinnerte sich sogar an ihre Streitereien – zumindest dachte er, dass er das tat.
Die reine Vorstellung, irgendeinen Teil von Kate zu verlieren, erschütterte ihn. Der Gedächtnisunterdrücker hatte bereits einige Nebenwirkungen gezeigt, wie beispielsweise die gelegentlichen Kopfschmerzen, die durch eine hartnäckige Erinnerung ausgelöst wurden – es war ein experimentelles Verfahren und die Methode der Entfernung war alles andere als operativ verlaufen.
Was, wenn mehr als nur meine Vergangenheit als Agent Null von mir genommen wurde? Der Gedanke gefiel ihm überhaupt nicht. Es war ein beunruhigender Gedanke; es dauerte nicht lange, bis er überlegte, ob er möglicherweise auch Erinnerungen an die Zeit mit seinen Mädchen vergessen haben könnte. Und noch schlimmer war es, dass es keinen Weg für ihn gab, die Antwort darauf zu finden, ohne sein volles Gedächtnis wiederherstellen zu können.
Es war alles zu viel und er spürte, wie sich erneut Kopfschmerzen bemerkbar machten. Er schaltete das Radio ein und drehte es laut auf, um sich abzulenken.
Die Sonne ging unter, als er auf den Parkplatz des Restaurants fuhr – ein „Gastropub“ mit dem Namen „Der Weinkeller“. Er war ein paar Minuten zu spät dran. Er stieg schnell aus dem Auto und ging zur Vorderseite des Gebäudes.
Dann blieb er stehen.
Maria Johansson stammte aus der dritten Generation schwedisch-amerikanischer Einwanderer und ihre CIA-Tarnung war, dass sie eine zertifizierte Wirtschaftsprüferin aus Baltimore war – obwohl Reid der Meinung war, dass sie ein Model für Titelblätter oder Poster hätte sein sollen. Sie war nur wenige Zentimeter kleiner als er. Ein Meter achtzig, lange, glatte, blonde Haare, die schwerelos auf ihre Schultern fielen. Ihre Augen waren schiefergrau und ihr Blick irgendwie intensiv. Sie stand bei etwa zwölf Grad Celsius vor der Tür. Sie trug ein einfaches, dunkelblaues Kleid mit tiefem V-Ausschnitt und ein weißes Tuch über den Schultern.
Sie entdeckte ihn, als er sich näherte, und ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. „Hallo. Lange nicht gesehen.“
„Ich … wow“, platzte es aus ihm heraus. „Ich meine, ähm … du siehst toll aus.“ Es kam ihm in den Sinn, dass er Maria noch nie zuvor geschminkt gesehen hatte. Der blaue Lidschatten passte zu ihrem Kleid und ließ ihre Augen fast leuchtend erscheinen.
„Du siehst auch nicht schlecht aus.“ Sie nickte zustimmend über seine Kleiderwahl. „Sollen wir reingehen?“
Danke Maya, dachte er. „Ja. Natürlich.“ Er griff nach der Tür und öffnete sie. „Aber bevor wir das tun, habe ich eine Frage. Was zur Hölle ist ein „Gastropub“?“
Maria lachte. „Ich glaube, es ist, was wir früher eine Kneipe genannt haben, nur mit vornehmerem Essen.“
„Verstehe.“
Das Restaurant war gemütlich, wenn auch ein wenig klein, mit gemauerten Innenwänden und freiliegenden Holzbalken an der Decke. Die Beleuchtung bestand aus hängenden Edison-Glühbirnen, die für ein warmes und gedämpftes Ambiente sorgten.
Wieso bin ich nervös?, dachte er, als sie sich setzten. Er kannte diese Frau. Sie hatten zusammen eine internationale Terrororganisation davon abgehalten, Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Menschen zu ermorden. Aber das hier war anders; es war kein Auftrag oder Diensteinsatz. Das hier war zum Vergnügen und irgendwie machte das einen Unterschied.
Lerne sie kennen, hatte Maya zu ihm gesagt. Sei interessant.
„Also, wie läuft es auf der Arbeit?“, fragte er schließlich. Er stöhnte innerlich über seinen halbherzigen Versuch.
Maria lächelte. „Du solltest wissen, dass ich darüber nicht wirklich reden kann.“
„Stimmt“, sagte er. „Natürlich.“ Maria war eine aktive CIA-Feldagentin. Selbst wenn er selber auch aktiv wäre, wäre sie nicht in der Lage, Details eines Einsatzes mit ihm zu besprechen, an dem er nicht ebenfalls beteiligt war.
„Und bei dir?“, fragte sie. „Wie ist der neue Job?“
„Nicht schlecht“, gab er zu. „Ich bin in einer Nebenstelle, es ist also vorläufig nur Teilzeit, ein paar Vorlesungen die Woche. Ein paar Benotungen und so weiter. Aber nichts besonders Spannendes.“
„Und die Mädchen? Wie geht es ihnen?“
„Ähm … sie kommen zurecht“, sagte Reid. „Sara redet nicht darüber, was passiert ist. Und Maya hat eigentlich gerade …“ Er stoppte sich selbst, bevor er zu viel sagte. Er vertraute Maria, aber gleichzeitig wollte er nicht zugeben, dass Maya sehr genau erraten hatte, was es war, worin Reid involviert war. Seine Wangen wurden rosig, als er sagte: „Sie neckt mich. Darüber, dass dies hier ein Date ist.“
„Ist es das nicht?“, fragte Maria ausdruckslos.
Reid spürte, wie sein Gesicht wieder rot wurde. „Ja, ich denke, das ist es.“
Sie lächelte wieder. Es schien so, als würde sie seine Unbeholfenheit genießen. Bei der Arbeit, als Kent Steele, hatte er bewiesen, dass er selbstbewusst, fähig und gesammelt sein konnte. Aber hier, in der realen Welt, war er nach zwei Jahren Enthaltsamkeit genauso unbeholfen, wie jeder andere.
„Und wie geht es dir?“, fragte sie. „Wie schlägst du dich?“
„Mir geht es gut“, sagte er. „Prima.“ Sobald er es gesagt hatte, bereute er es. Hatte er nicht gerade von seiner Tochter gelernt, dass Ehrlichkeit die beste Strategie war? „Das ist eine Lüge“, fügte er sofort hinzu. „Ich schätze, es läuft nicht so gut. Ich beschäftige mich selbst mit allen möglichen unnützen Aufgaben und erfinde Entschuldigungen, denn, wenn ich lange genug aufhöre, um mit meinen Gedanken alleine zu sein, erinnere ich mich an ihre Namen. Ich sehe ihre Gesichter, Maria. Und ich kann nicht anders, als zu denken, dass ich nicht genug getan habe, um es zu verhindern.“
Sie wusste genau, wovon er sprach – von den neun Personen, die in der einen erfolgreichen Explosion, welche Amun in Davos auslösen konnte, ums Leben gekommen waren. Maria griff über den Tisch und nahm seine Hand. Ihre Berührung schickte ein elektrisches Kribbeln seinen Arm hinauf und schien seine Nerven etwas zu beruhigen. Ihre Finger waren warm und weich in seiner Hand.
„Das ist die Realität, der wir ausgesetzt sind“, sagte sie. „Wir können nicht jeden retten. Ich weiß, dass du nicht all deine Erinnerungen als Null zurückhast, sonst wüsstest du das.“
„Vielleicht will ich es gar nicht wissen“, sagte er leise.
„Ich verstehe dich. Wir versuchen es trotzdem. Aber zu denken, dass du die Welt vor jedem Unheil bewahren könntest, wird dich verrückt machen. Neun Leben wurden genommen, Kent. Es ist passiert und es gibt keinen Weg zurück. Aber es hätten Hunderte sein können. Es hätten Tausende sein können. So musst du das sehen.“
„Was ist, wenn ich das nicht kann?“
„Dann … suche dir vielleicht ein gutes Hobby? Ich stricke.“
Er konnte nicht anders, als zu lachen. „Du strickst?“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass Maria strickte. Dass sie Stricknadeln als Waffe nutzte, um einen Feind lahmzulegen? Mit Sicherheit. Aber tatsächliches Stricken?