Aus diesem Grunde blieb er, wo er war und widmete sich den übrigen Mitreisenden ihres Bootes. Für die Größe des Bootes waren es recht viele. Die drei Kampfherren, die Ceres gerettet hatte, übernahmen den Großteil der Ruderarbeit. Jetzt, da sie den Hafen hinter sich gelassen hatten, würden sie auch das kleine Segel setzen können. Akila lag auf der Seite, ein Rekrut, den Sartes befreit hatte, kümmert sich um seine Wunde.
Jeva stellte sich zu ihm.
„Du bist ein Schwachkopf, wenn du sie gehen lässt“, sagte Jeva.
„Ein Schwachkopf?“ konterte Thanos. „Ist das der Dank dafür, dass ich dir gerade das Leben gerettet habe?“
Er sah, wie die Frau aus dem Knochenvolk mit den Schultern zuckte. „Auch das war schwachsinnig. Sein Leben für ein anderes aufs Spiel zu setzen, ist dumm.“
Thanos legte seinen Kopf auf die Seite. Er würde sie wohl nie ganz verstehen können. Mit einem Blick auf Ceres gestand er sich ein, dass sich dies wohl nicht nur auf die Frau aus dem Knochenvolk beschränkte.
„Für seine Freunde setzt man auch sein Leben aufs Spiel“, sagte Thanos.
Jeva schüttelte den Kopf. „Ich hätte mein Leben nicht für dich riskiert. Wenn die Zeit gekommen ist, sich mit den Geistern der Urahnen zu vereinen, dann ist die Zeit eben gekommen. Das ist vielmehr eine Ehre.“
Thanos wusste nicht, wie er das verstehen sollte. Meinte sie das ernst? Wenn das so war, dann kam es ihm ein wenig undankbar vor angesichts dessen, was Ceres und er bereit gewesen waren, für ihre Rettung zu riskieren.
„Wenn ich geahnt hätte, welche Ehre es ist, als Galionsfigur an einem der Schiffe des Ersten Steins zu baumeln, dann hätte ich dich natürlich deinem Schicksal überlassen“, sagte Thanos.
Jeva blickte ihn leicht verärgert an. Jetzt war sie an der Reihe, herauszufinden, wie ernst er diese Aussage gemeint hatte.
„Du machst Witze“, sagte sie, „und trotzdem hättest du mich nicht retten sollen. Ich hab dir doch gesagt, nur ein Narr riskiert sein Leben für andere.“
Diese Einstellung konnte Thanos nicht teilen.
„Nun“, sagte er. „Ich bin zumindest froh, dass du noch am Leben bist.“
Jeva schien einen Moment lang nachzudenken. „Ich bin auch froh, was komisch ist. Den Toten wird das nicht gefallen. Vielleicht habe ich noch immer etwas zu tun. Ich werde dir folgen, bis ich herausgefunden habe, was das sein könnte.“
Sie sagte es so als wäre es schon beschlossene Sache, ohne dass Thanos ein Wörtchen hätte mitreden können. Er frage sich, wie es sein musste, wenn man mit der Gewissheit, dass die Toten über alles bestimmten, durch die Welt ging.
„Ist es nicht seltsam?“ fragte er sie.
„Was ist seltsam?“ antwortete Jeva.
„Anzunehmen, dass alle Entscheidungen im Leben von den Toten gemacht werden.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nicht alle Entscheidungen. Sie wissen nur mehr als wir. Sie sind viel mehr als wir hier. Wenn sie sprechen, sollten wir ihnen zuhören. Sieh dich doch mal an.“
Thanos musste die Stirn runzeln. Er gehörte nicht zum Knochenvolk und würde auch keine Anweisungen von einem Stellvertreter der Toten entgegennehmen.
„Mich?“
„Wärst du jetzt etwa hier, wenn deine Eltern und deren Eltern nicht bestimmte Entscheidungen getroffen hätten?“ fragte Jeva. „Du bist ein Prinz. Deine gesamte Macht basiert auf den Toten.“
Da hatte sie Recht, doch Thanos war sich unsicher, ob das das Gleiche war.
„Ich entscheide über die Lebenden nicht die Toten“, sagte er.
Jeva lachte als wäre es ein besonders lustiger Scherz. Dann verengte sie ihre Augen zu Schlitzen. „Oh, du meinst das ernst. Auch unter uns gibt es Menschen, die das behaupten. Meistens sind sie verrückt. Naja, letztlich leben wir in einer verrückten Welt, also warum sollte ich dich verurteilen? Wohin werden wir als nächstes fahren?
Darauf hatte Thanos keine Antwort.
„Ich bin mir nicht sicher“, gab er zu. „Mein Vater hat mir gesagt, wo ich meine wahre Mutter finden kann, und dann hat die Königin mir etwas anderes erzählt.“
„Na dann“, sagte Jeva. „Wir sollten dorthin fahren. Nachrichten von Toten sollten niemals ignoriert werden. Oder wir kehren in das Land meiner Leute zurück. Wir müssen ihnen noch berichten, was aus unserer Flotte geworden ist.“
Die Aussicht ihrem Volk die Nachricht so vieler Tode zu überbringen, schien sie nicht zu bekümmern. Auch schien sie Ceres immer wieder ehrfurchtsvolle Blicke zuzuwerfen.
„Sie ist genau so, wie du sie beschrieben hast. Was auch immer zwischen euch steht, räum’ es aus dem Weg.“
Aus ihrem Mund klang das so einfach als wäre es eine Leichtigkeit, diesen Worten Taten folgen zu lassen. Thanos bezweifelte, dass die Dinge so einfach waren.
„Ich versuche es.“
„Dann gib dir mehr Mühe“, sagte sie.
Nichts lieber wollte Thanos. Er wollte Ceres seine Liebe gestehen. Mehr noch, er wollte sie fragen, ob sie sein werden wollte. Es schien als warteten sie schon eine Ewigkeit darauf.
Sie winkte ab. „Geh, geh zu ihr.“
Thanos war sich nicht sicher, ob es ihm gefiel, so sehr gedrängt zu werden, und doch musste er zugeben, dass Jeva Recht hatte, wenn es darum ging, an Ceres dran zu bleiben. Er ging zu ihr und den anderen hinüber. Ihr Gesichtsausdruck war ernster, als er erwartet hatte.
Ihr Vater drehte sich um und griff Thanos’ Hand.
„Schön dich wieder hier zu haben, Junge“, sagte er. „Die Dinge wären ohne dich weitaus komplizierter.“
„Ihr hättet schon einen Weg gefunden“, wehrte Thanos ab.
„Jetzt müssen wir unseren Weg erst einmal finden“, antwortete Berin. „Ich habe den Eindruck, dass jeder irgendwo anders hin will.“
Thanos sah Ceres nicken.
„Die Kampfherren meinen, wir sollten uns dort draußen als Söldner anbieten“, sagte sie. „Sartes zieht es auf das Land in der Nähe des Reichs, und ich habe darüber nachgedacht, zur Insel jenseits des Nebels zurückzufahren.“
„Jeva will zu ihrem Volk zurückfahren“, sagte Thanos.
„Und du?“ fragte Ceres.
Er wollte ihr über die Lande der Wolkenberge erzählen, über seine vermisste Mutter und die Möglichkeit, sie dort zu finden. Mit Ceres hätte er überall leben können. Doch dann blickte er zu Akila.
„Ich gehe dorthin, wo du hingehst“, sagte er, „allerdings glaube ich nicht, dass Akila eine lange Reise überleben würde.“
„Das glaube ich auch nicht“, sagte Ceres.
Thanos kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich bereits ein Ziel in den Kopf gesetzt hatte. Thanos war überrascht, dass sie noch nicht das Ruder übernommen hatte. Er konnte sich jedoch vorstellen, warum das so war. Als sie das letzte Mal das Kommando übernommen hatte, war Delos erst Stephania und dann den Besatzern in die Hände gefallen.
„Keine Sorge“, sagte Thanos und ergriff ihren Arm. „Ich vertraue dir. Was immer du entscheidest, ich werde dir folgen.“
Er vermutete, dass er damit nicht allein sein würde. Auch Ceres’ Familie würde ihr nicht von der Seite weichen und die Kampfherren hatten ihr ihre Treue geschworen, auch wenn sie davon sprachen, zu neuen Abenteuern aufbrechen zu wollen. Was Jeva anging... nun, Thanos hätte nicht von sich behauptet, dass er sie gut genug kannte, um zu wissen, was sie tun wollte, doch konnten sie sie immer noch irgendwo absetzen, wenn es das war, was sie wollte.
„Das Schmugglerboot das dich nach Delos gebracht hat, werden wir nicht einholen können“, sagte Ceres. „Selbst wenn wir wüssten, wo es sich gerade befindet, werden wir mit diesem kleinen Boot nicht schnell genug sein. Und wenn wir uns zu viel vornehmen... dann, denke ich, wird Akila es nicht schaffen.“
Thanos nickte. Er hatte die Wunde, die der Erste Stein ihrem Freund zugefügt hatte, gesehen. Dass Akila überhaupt noch lebte, war vor allem seiner Willenskraft geschuldet. Jetzt würde er jedoch einen echten Heiler brauchen.
„Wohin dann?“ fragte Thanos.
Ceres blickte erst ihn und dann die anderen an. Sie schien beinahe ängstlich das auszusprechen, was ihr in den Sinn gekommen war.
„Dann gibt es nur noch einen Ort“, sagte Ceres. Sie hob ihre Stimme so, dass das ganze Schiff sie vernehmen konnte. „Wir müssen nach Haylon fahren.“
Ihr Vater und ihr Bruder fingen gleichzeitig an die Köpfe zu schütteln. Selbst einige der Kampfherren schienen nicht sonderlich glücklich mit dieser Entscheidung.
„Haylon wird kein sicherer Ort sein“, sagte Berin. „Jetzt da Delos gefallen ist, wird Haylon das nächste Ziel sein.“
„Dann müssen wir ihnen helfen, es zu verteidigen“, sagte Ceres. „Vielleicht fällt uns dieses Mal wenigstens niemand in den Rücken.“
Damit hatte sie natürlich Recht. Delos hatten sie aus vielen verschiedenen Gründen verloren: die schiere Größe der Felldustflotte, die Städter, die geflohen waren anstatt zu kämpfen, und die fehlende Stabilität, die Stephanias Coup in die Hände gespielt hatte. Vielleicht würde es auf Haylon anders werden.
„Sie haben keine Flotte mehr“, hob Thanos hervor. „Ich musste sie überzeugen, Delos zu helfen.“
Er fühlte sich schuldig. Wenn er Akila nicht überredet hätte, dann wären viele gute Leute jetzt noch am Leben, und Haylon könnte sich jetzt selbst verteidigen. Sein Freund würde nicht verwundet auf ihrem Boot liegen und Hilfe benötigen.
„Wir haben entschieden... nach Delos zu fahren“, brachte Akila heraus.
„Und wenn sie keine Flotte haben, dann müssen wir ihnen erst recht helfen“, sagte Ceres. „Denk doch mal nach, Haylon ist der einzige uns nicht feindliche gesinnte Ort in unserer Nähe. Haylon hat das Reich besiegt als dieses noch so stark war, dass Felldust nicht gewagt hat, es anzugreifen. Sie brauchen unsere Hilfe. Genauso wie Akila. Wir werden nach Haylon fahren.“
Gegen keines dieser Argumente konnte Thanos etwas einwenden. Nicht nur das, er konnte sehen, wie die anderen ihre Meinung änderten. Ceres hatte schon immer diese Fähigkeit besessen. Es war ihr Name gewesen und nicht seiner, der das Knochenvolk überzeugt hatte. Sie war es gewesen, die Lord Wests Männer und die Rebellion überzeugt hatte. Mit jedem Mal war seine Bewunderung für sie gewachsen.
Es genügte, dass Thanos ihr überall hin gefolgte wäre, ob nach Haylon oder noch weiter. Er würde die Suche nach seinen Eltern vorerst auf Eis legen. Ceres war jetzt wichtiger; Ceres und den Schaden in Schach zu halten, den Felldust verursachen würde, wenn es sich einmal über Delos hinaus ausbreitete. Er hatte es im Hafen von Port Leyward gehört: es würde kein schneller Beutezug werden.
„Es gibt da nur ein einziges Problem“, hob Sartes hervor. „Wenn wir nach Haylon wollen, wird sicherlich eine Flotte von Felldust an uns vorbeikommen. Sie kamen doch aus dieser Richtung oder? Und ich glaube nicht, dass sie alle in Delos’ Hafen rumsitzen werden.“
„Mit Sicherheit nicht“, stimmte Thanos zu und dachte an das, was er zuvor in Felldust gesehen hatte. Mehrere kleine Flotten waren noch gar nicht zum Reich aufgebrochen; die Schiffe der anderen Steine trieben im Hafenbecken und wartetet ab, oder sie verluden Vorräte, um sich an den Plünderungen zu beteiligen.
Sie würden zu einer echten Gefahr, wenn ihr kleines Boot versuchen würde, auf direkter Route nach Haylon zu segeln. Ob sie auf ihrem Weg an Feinden vorbeikommen würden, wäre mit einem Glücksspiel zu vergleichen, und Thanos war sich nicht sicher, ob Ceres noch einmal in der Lage sein würde, ihren Trick, sie verschwinden zu lassen, anzuwenden.
„Wir müssen sie umschiffen“, sagte er. „Wir meiden die Küste, bis wir alle Routen kennen, die sie nehmen könnten. Dann können wir uns Haylon von der ihnen abgewandten Seite nähern.“
Er konnte sehen, dass den anderen diese Idee nicht sonderlich gefiel, und Thanos vermutete, dass das nicht nur an dem zusätzlichen Zeitaufwand lag. Er wusste, was sie dieser Weg kosten würde.
Jeva war schließlich diejenige, die es aussprach.
„Wenn wir diesen Weg wirklich einschlagen, dann müssen wir durch den Pass der Ungeheuer“, sagte sie. „Vielleicht sollten wir doch besser versuchen, es mit Felldust aufzunehmen.“
Thanos schüttelte den Kopf. „Wir werden in der Falle sitzen, wenn sie uns bemerken. Auf diesem Weg haben wir wenigstens eine Chance, keine Aufmerksamkeit zu erwecken.“
„Dafür werden wir vielleicht auch aufgefressen“, bemerkte die Frau aus dem Knochenvolk.
Thanos zuckte die Schultern. Er sah keine anderen Optionen. Ihnen blieb keine Zeit, irgendwo anders hinzufahren, und letztlich gab es keine andere Route als diese. Sie konnten es riskieren oder hier herumsitzen und Akila beim Sterben zusehen. Thanos konnte seinen Freund nicht so im Stich lassen.
Ceres schien das genauso zu sehen.
„Der Pass der Ungeheuer also. Lasst uns die Segel setzen!“
KAPITEL FÜNF
Ulren, der Zweite Stein, näherte sich dem fünfeckigen Turm mit der ruhigen Entschlossenheit eines Mannes, der glaubte, alle Fäden in der Hand zu halten. Um ihn wirbelte der Staub in seinem gewohnt endlosen Tanz, der ihn husten ließ, wenn er seinen Mund nicht mit einem Tuch bedeckte. Ulren jedoch tat weder das eine noch das andere. Er musste jetzt stark erscheinen.
Vor den Türen standen wie immer Wachen. Offiziell wurden sie von allen fünf Steinen bezahlt, tatsächlich waren sie jedoch Irriens Männer. Aus diesem Grund kreuzten sie ihre Speere, denn so erinnerten sie jeden niedriger gestellten Stein an seinen Stand.
„Wer da?“ rief einer.
Ulren grinste. „Der neue Erste Stein von Felldust.“
Er genoss den Anblick ihrer erschrockenen Blicke, bevor seine Männer mit erhobenen Armbrüsten aus dem Staub traten. Er besaß nicht die gleiche physische Stärke wie Irrien oder die durchtriebenen Spione von Vexa, den Reichtum von Kas oder die blaublütigen Freunde von Borion, aber er besaß von jeder dieser Stärken ein wenig. Jetzt hatte er endlich den Mut gefasst, diese Stärken auch auszuspielen.
Er weidete sich am Anblick der befederten Pfeile in den Brustkörben der Wächter, die ihn so viele Male abgewiesen hatten. Es war belanglos, aber diesem Moment gebührte ein gewisses Maß an Belanglosigkeit. Das war der Moment, in dem er alles das bekam, was er schon immer gewollt hatte.
Er öffnete mit seinem Schlüssel die Tür und trat hinein in das Licht des Turms. Was sagte es über die Stadt, dass die vom Rauch der Lampen erfüllte Luft hier drinnen noch immer besser war als die vor der Tür? Doch selbst das war etwas, das er heute in vollen Zügen genoss.
„Zügig“, rief er den Männern und Frauen zu, die ihm folgten. „Schlagt schnell zu.“
Sie schwärmten aus und der Glanz ihrer Waffen ermattete unter dem Ruß der Lampen. Als aus einem der Korridore Wachen kamen, schlugen sie geräuschlos zu. Ulren wandte seinen Blick nicht von dem Blutbad ab. All das spielte jetzt keine Rolle mehr.
Er machte sich über die scheinbar endlosen Treppenaufgänge auf den Weg zu den ganz oben gelegenen Räumlichkeiten. Unzählige Male war er schon hier hinauf gestiegen immer in dem Bewusstsein der Minderwertigkeit oder Zweit- oder Drittklassigkeit in einer Stadt, in der allein der erste von fünfen das Sagen hatte.
Das war in Ulrens Augen die Ironie dieser Stadt. Jeder kämpfte, um ganz oben zu stehen, fünf arbeiteten zusammen und doch war der Erste Stein der stärkste unter ihnen. Ulren strebte schon so lange danach, die Nummer Eins zu sein, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte, jemals etwas anderes gewollt zu haben.
Er war vorsichtig gewesen, auch wenn diese Position schon immer die seine hätte sein sollen. Er hatte sich seine Machtposition schwer erarbeitet, angefangen mit den Ländereien seiner Familie. Er hatte seine ihm zur Verfügung stehenden Mittel gepflegt, wie ein Gärtner seine Pflanzen pflegt. Er war geduldig gewesen, so geduldig. Dann hatte er kurz vor der Ergreifung des Sitzes des Ersten Steins gestanden.