Jetzt wollte er es wagen und die eine Frage stellen, die ihn die ganze Zeit schon unter den Nägeln brannte. Doch als er den Mund öffnete, kam nur ein lautes Gähnen heraus.
„Du bist ja ganz müde“, sagte Armando. „Ich habe ein Gästezimmer, in dem du dich hinlegen kannst, wenn du möchtest. Ich hole dir eine Decke. Es ist wirklich kalt draußen.“
Oliver sah ihn erstaunt an. „Mich hinlegen?“
Armando nickte. „Du willst doch nicht wieder in diesen Sturm hinausgehen, oder? Bei der letzten Radioansage habe sie dazu geraten, noch ein paar Stunden in Deckung zu bleiben.“
Erst jetzt dachte Oliver an seine Eltern. Sie hatten ganz sicher auch die Warnung gehört. Was würde wohl passieren, wenn sie feststellten, dass nur einer ihrer Söhne zu Hause angekommen war? Er hatte keine Ahnung, wie lange er in dieser Mülltonne bewusstlos gelegen hatte. Ob sie sich schon Sorgen um ihn machten? Ob sie sich überhaupt Sorgen machen würden?
Dann schüttelte Oliver den Gedanken ab. Seine Eltern hatten ganz bestimmt noch gar nicht bemerkt, dass er weg war. Wieso sollte er die Gelegenheit, in einem richtigen Bett zu schlafen, einfach aufgeben? Zu Hause wartete doch nur die kalte Nische im Wohnzimmer auf ihn.
Er sah Armando entschlossen an.
„Das klingt wunderbar. Vielen Dank.“ Endlich hatte er einen ganzen Satz herausgebracht. Nach einer kurzen Pause fügte er einen weiteren hinzu. „Ich habe so viele Fragen, die ich Ihnen stellen möchte.“
„Die laufen nicht weg, mein Junge. Jetzt ruh‘ dich erstmal richtig aus. Wenn du wieder wach bist, können wir weiterreden.“
Er sah ihn an, als wüsste er etwas über Oliver, das er selbst noch nicht verstanden hatte. Ob Armando etwas über seine seltsamen Kräfte und Visionen wusste? Er schüttelte den Kopf. Natürlich nicht. Armando war schließlich kein Hellseher. Er war ein Erfinder, das hatte nichts mit Magie zu tun.
Dann überwältigte die Müdigkeit ihn. Der Sturm, der Stress der letzten Tage, der Hunger und die Begeisterung über die Fabrik, das alles war zu viel für ihn.
„Einverstanden“, sagte Oliver schließlich. „Nur ein kleines Nickerchen.“
„Na also“, sagte Armando zufrieden.
Oliver stand auf und rieb seine müden Augen. Armando stützte sich auf seinen Stock. „Hier entlang“, sagte er und zeigte auf einen schmalen, finsteren Gang.
Langsam ging Oliver hinter dem alten Mann her. Sein Körper fühlte sich träge und schwer an.
Am Ende des Ganges befand sich eine niedrige, geschwungene Holztür, wie Oliver sie aus kleinen Kirchen kannte. In der Tür war sogar ein kleines Fenster mit einem polierten Metallrahmen.
Armando öffnete die Tür und schob Oliver in das Zimmer. Als Oliver über die Schwelle trat, war er überrascht.
Das Zimmer war viel größer, als er vermutet hatte, und auch viel ordentlicher, wenn man es mit dem Zustand der kleinen Küche verglich. In der Mitte stand ein großes Bett mit einer dicken, weichen Decke und passenden Kissen. Am Fußende lag noch eine zusätzliche Wolldecke ordentlich gefaltet. Unter dem Fenster mit den langen blauen Vorhängen stand ein kleiner Holztisch, auf dem unzählige Zinnsoldaten standen. In einer Ecke stand ein hübscher Sessel, daneben ein großes Bücherregal, das vollgestopft war mit interessant aussehenden Abenteuergeschichten.
Es war in jeder Hinsicht ein Zimmer, in dem ein elfjähriger Junge wie Oliver wohnen sollte, anstatt in einer kalten, schummrigen Nische in einem unmöblierten Wohnzimmer. Er wurde auf einmal wahnsinnig traurig. Noch stärker war das Gefühl von Dankbarkeit für diese unverhoffte Chance, seine verkorkste Welt für ein paar Stunden hinter sich zu lassen.
Er drehte sich zu Armando um. „Das ist wirklich ein sehr hübsches Zimmer“, sagte er. „Sind Sie sicher, dass es Ihnen nichts ausmacht, wenn ich ein wenig hier bleibe?“
Armando lächelte gütig und warf einen besorgten Blick auf Olivers nasse Kleidung. Oliver war bewusst, dass er eine nasse Spur durch die ganze Fabrik gezogen hatte. Doch Armando schien das kein bisschen zu stören. Nicht wie seine Mutter, die am Tag zuvor deswegen ganz wütend geworden war.
„Ich hoffe du schläfst gut und fühlst dich frisch und erholt, wenn du wieder wach wirst“, sagte er. Dann drehte er sich um und ging.
Ehrfürchtig stand Oliver noch einen Augenblick im Zimmer, bevor er spürte, dass seine Beine fast vor Erschöpfung nachgaben. Er wollte so gerne über all seine Erlebnisse nachdenken und versuchen, die Kette von Ereignissen zu verstehen, die ihn hierher geführt hatten, aber sein Körper wollte mit aller Macht schlafen.
Er zog seine nasse Kleidung aus und zog einen zu großen Pyjama an, der im Schrank hing. Dann kroch er ins Bett. Die Matratze war wahnsinnig gemütlich, die Decke war schnell warm und duftete nach frischem Lavendel.
In diesem großen, weichen Bett fühlte sich Oliver sicherer als je zuvor in seinem Leben.
Es kam ihm vor, als hätte er endlich seinen Platz in der Welt gefunden.
KAPITEL SECHS
Die Welt war still und leise. Sonnenlicht wärmte Olivers Augenlider. Langsam öffnete er sie.
Durch den Schlitz im Vorhang fiel ein goldener Lichtstrahl. Es dauerte einen Moment, bis Oliver begriff, wo er sich befand. Er setzte sich auf und sah sich blinzelnd in dem schönen Zimmer in Armandos Fabrik um. Es war also kein Traum. Er war wirklich hier!
Es musste der nächste Morgen sein. Sein kleines Nickerchen hatte sich als Tiefschlaf entpuppt. Er war nicht überrascht. Er lag schließlich im wärmsten, bequemsten Bett der Welt. Für Oliver fühlte sich Armandos Fabrik jetzt schon mehr nach Zuhause an, als all die Häuser, in denen er bisher gewohnt hatte. Zufrieden kuschelte er sich noch einmal unter die Decke. Er empfand eine tiefe Verbundenheit mit diesem Ort und er wollte nie wo anders sein.
Aber was ist mit meiner Familie? dachte er beklommen. Sie mussten sein Fehlen inzwischen bemerkt haben. Er war eine ganze Nacht lang nicht nach Hause gekommen. Vielleicht dachten sie, dass der Sturm ihn weggespült hatte. Wahrscheinlich machten sie sich Sorgen.
Einerseits tat ihm das leid, aber ein anderer Gedanke machte sich in seinem Kopf breit. Wenn sie wirklich dachten, dass der Sturm ihn weggespült hatte, dann musste er nie wieder zurückgehen…
Oliver überlegte hin und her. Schließlich entschied er, dass er zuerst mit Armando sprechen sollte. Er würde bestimmt Rat wissen.
Bestens erholt sprang er aus dem Bett und eilte aus dem Zimmer. Er musste Armando finden! Schnell huschte er die Gänge des riesigen Kaninchenbaus entlang und fand bald zurück zur Küche, wo Horatio in der Ecke schlummerte. Von dort aus irrte er weiter. Dieses Gebäude war ein wahres Labyrinth. Türen, an die er sich vom Abend zuvor genau zu erinnern glaubte, waren auf einmal verschwunden.
Aber irgendwann hatte er es geschafft. Er war wieder in der großen Fabrikhalle. Im Tageslicht erschien sie ihm noch großartiger. Er konnte bis zur Decke sehen, die ihm so hoch vorkam wie die einer Kathedrale. Dort, an den schweren Holzbalken, sah er einige mechanische Vögel sitzen und zwischen den Dachbalken entlangflattern. Sie bewegten sich so natürlich, dass sie von echten Vögeln kaum zu unterscheiden waren, abgesehen davon dass ihre Flügel aus Messing waren und rot schimmerten. Dort oben sah er auch Fledermäuse, die kopfüber von den Latten hingen und ihre metallenen Flügel um die Brust gelegt hatten.
„Wie um alles in der Welt hat er das geschafft?“, flüsterte Oliver, während er fassungslos die fliegenden Maschinen über seinem Kopf beobachtete.
„Ah, Oliver! Guten Morgen!“, ertönte Armandos Stimme.
Oliver wandte den Blick von den Vögeln ab. Armando stand neben der Maschine, an der er auch am Abend zuvor gearbeitet hatte.
Sofort verließ Oliver der Mut. Er konnte ihn nicht einfach fragen, ob er in der Fabrik bleiben durfte.
„Hast du gut geschlafen?“, fragte der alte Mann.
„Ja, das habe ich“, sagte Oliver. „Um genau zu sein habe ich besser geschlafen als je zuvor. Dabei wollte ich mich doch nur ganz kurz hinlegen. Warum haben Sie mich nicht geweckt, als der Sturm vorbei war?“
Armando lachte leise. „Das habe ich versucht, mein Junge, aber du hast tief und fest geschlafen. Ich glaube, das hast du gebraucht.“ Er lächelte herzlich. „Aber jetzt will ich dir etwas über meine Fabrik und meine Erfindungen erzählen. Das habe ich dir doch versprochen. Möchtest du davor noch etwas essen? Oder eine heiße Dusche nehmen? Vielleicht frische Kleidung?“
Erst jetzt merkte Oliver, dass er immer noch den Pyjama trug.
Er wägte das Angebot ab. Frühstück, eine heiße Dusche und frische Kleidung bekam er zu Hause nicht jeden Tag. Es konnte doch nicht schaden, noch ein wenig zu bleiben. Er wollte sich auf jeden Fall anhören, was Armando zu erzählen hatte.
„Wenn du möchtest, kannst du auch deine Familie anrufen, damit sich deine Eltern keine Sorgen machen“, fügte der alte Erfinder hinzu, dem Olivers Zögern nicht entgangen war.
Doch das war das Letzte, was Oliver jetzt wollte. Rasch schüttelte er den Kopf. „Nicht nötig. Ich würde lieber zuerst die Fabrik besichtigen.“
Der alte Mann lehnte sich nach vorne und legte seine schwere Hand auf Olivers Schulter. Er sah ihn aus matten Augen an, doch Oliver erkannte die Warmherzigkeit darin. Er vertraute ihm. Zum wiederholten Male bekam Oliver das Gefühl, dass Armando mehr wusste, als er zu verstehen gab. Er wies mit einer ausladenden Handbewegung auf den Hallenboden.
„Hier entlang, bitte“, sagte er.
Sofort vertrieb die Neugier alle Gedanken an seine Familie und Oliver schlenderte langsam neben Armando her.
„Als ich meine ersten eigenen Geräte erfunden habe, war ich etwa so alt wie du, Oliver“, begann er. „Aber nichts wollte funktionieren“, lachte er. „Eine Steinschleuder habe ich hinbekommen, aber das war vorerst alles, was ich an mechanischem Geschick vorzeigen konnte.“
Oliver dachte an die Steinschleuder, mit der er auf Chris geschossen hatte. Was für ein Zufall, dass es ihm genauso ging.
Armando redete weiter. „In der Schule habe ich immer geglänzt, aber die anderen Kinder haben es mir nicht gerade leicht gemacht.“
„Mir machen es die anderen auch nicht leicht“, sagte Oliver leise.
Sie kamen zu einem Zimmer, dessen Tür geschlossen war. Armando öffnete sie und Oliver stockte der Atem. Es war eine Bibliothek, deren Regale bis ganz oben an die hohe Decke ragten. Eine hölzerne Wendeltreppe führte auf ein zweites Stockwerk, auf dem ein sehr gemütlich aussehender Sessel und eine große Leselampe standen.
Armando nahm ein Buch aus dem Regal. Es war in Leder eingebunden und der Titel war mit goldenen Buchstaben eingeprägt. Odontodactylus scyllarus. Es sah alt und sehr wertvoll aus.