Dort stand Rea nun, verblüfft und wehrlos, doch vor allem verwirrt. Der Schlag des Ritters hatte sie nicht töten wollen. Warum?
Noch bevor sie ihren Gedanken zu Ende führen konnte, hatte sich der Reiter noch im Ritt zu ihr hinabgebeugt und nach ihr gegriffen; sie fühlte den metallenen Gantelet, der sich in ihre Brust bohrte, als er mit beiden Händen nach ihrem Hemd griff, sie in einer einzigen Bewegung zu sich auf das Pferd zog und sie vor sich platzierte. Sie schrie überrascht auf und landete unsanft auf dem sich bewegenden Pferd. Er hielt sie eisern vor sich und seine metallenen Arme schlangen sich fest um sie. So eingezwängt, hatte sie kaum Zeit, über irgendetwas nachzudenken, geschweige denn überhaupt Luft zu holen. Rea wand sich, rutschte von einer Seite auf die andere, doch es hatte keinen Zweck. Er war zu stark.
„Hör auf , dich zu wehren“, befahl er ihr. „Ich versuche, dein Leben zu retten.“
Zwar war Rea von der Wahrheit seiner Worte nicht überzeugt, und doch hörte sie auf, sich zu wehren. Er ritt weiter durch das Dorf und bahnte sich seinen Weg durch die Schreckensszenerie der Straßen. Dabei entfernte er sich auch immer weiter von ihrem Zuhause. Ein anderer Ritter näherte sich ihnen mit erhobenem Schwert.
„Sie gehört mir“, zischte ihr Peiniger, und der andere Ritter senkte sein Schwert.
„Ich gehöre dir nicht“, sagte Rea und spürte, wie sich Panik in ihr breit zu machen begann. „Ich gehöre niemandem.“
„Diese Bauern-Huren sind ganz schön kratzbürstig, oder?“ lachte der andere Ritter.
Reas Entführer erwiderte nichts. Sie ritten aus dem Dorf hinaus und gelangten schließlich in die umliegende Natur. Plötzlich war es ganz still. Sie entfernten sich immer weiter von dem Chaos, von den Plünderungen, dem Geschrei, und Rea kam nicht umhin, sich für die Erleichterung, die sie verspürte wieder in sicherer Umgebung zu sein, schuldig zu fühlen. Sie spürte, dass sie ohne weiteres mit ihren Leuten dort hätte sterben können. Doch unter dem immer enger werdenden Griff musste sie auch erkennen, dass sie ein vielleicht noch viel grausameres Schicksal erwartete.
„Bitte“, mühte sie sich zu sagen.
Doch er drückte sie nur noch enger an sich und galoppierte noch schneller durch die endlosen Wiesen, die Hügel auf und ab bis sie an einen Ort vollkommener Stille gelangten. Es war so still und friedlich hier, dass es beinahe unheimlich war, so als wäre die Welt ein friedfertiger Ort.
Endlich hielt er unter einem alten Baum auf einer Anhöhe hoch über der Landschaft an. Es war ein Baum, den sie sofort wiedererkannte, denn sie hatte viele Male zuvor unter ihm gesessen.
In einer schnellen Bewegung sprang er ab ohne jedoch in seiner Umklammerung auch nur einen Deut nachzugeben. Sie landeten strauchelnd und stolpernd auf dem feuchten Gras, und Rea verschlug das Gewicht seines eng an sie gedrückten Körpers den Atem. Sie bemerkte, dass er ohne weiteres auch auf ihr hätte landen und sie dabei hätte ernsthaft verletzen können, doch hatte er dies nicht getan. Eigentlich hatte er ihren Fall sogar abgefangen.
„Wer bist du?“ fragte Rea. „Was willst du von mir?“
„Das würdest du nicht verstehen“, sagt der Ritter und setzte sich auf. Ein weißes Visier versperrte Rea den Blick auf sein Gesicht. Nur die mächtigen beinahe violett glänzenden Augen blitzten durch die Sehschlitze des Helmes hindurch. An seinem Pferd erblickte sie erneut das Banner, dessen Insignien sie dieses Mal genauer betrachtete: zwei Schlangen, die sich um einen Mond schlangen, ein von einem goldenen Kreis umschlossener Dolch ragte zwischen ihnen empor.
Er griff nach ihr, und Rea begann, mit den Armen zu rudern und gegen seine Rüstung zu schlagen. Doch es half nichts. Ihre zarten Hände trafen auf hartes Metall. Sie hätte genauso gut, auf einen Felsbrocken einhämmern können.
„Ich habe nicht vor, dir wehzutun“, sagte der Ritter. „Ich werde nichts tun, was du nicht auch willst.“
Rea wusste, was er damit meinte und war wie erstarrt. Sie war siebzehn. Sie hatte auf den perfekten Mann warten wollen. Sie wollte nicht, dass es so geschah. Sie hatte es sich ganz anders vorgestellt. Oder etwa nicht? In diesem Moment fiel ihr der Traum wieder ein, der sie aufgeweckt hatte und den sie seit vielen Monden geträumt hatte. Sie kannte diese Szene. Diesen Baum, das Gras, diese Anhöhe. Diesen Sturm. Diesen Mann.
Sie hatte er vorhergesehen, und sie erkannte, dass er es war, auf den sie gewartet hatte.
„Auch ich habe von dir geträumt“, sagte er. „Ich habe geträumt, dass du in Gefahr schwebtest, und ich habe von dem geträumt, was aus diesem Ort und zwischen uns hervorgehen wird. Wenn du im Dorf geblieben wärest, hätten sie dich in Stücke zerfetzt, egal wie mutig du gewesen wärest. Wir können hier jetzt etwas Neues schaffen, wenn du es denn auch willst.“
Rea erinnerte sich an die Träume, in denen sie diesem Mann begegnet war, und daran, wie es für sie gewesen war. Die Vorstellung daran ließ sie ihre Hände nach ihm ausstrecken.
„Ja“, flüsterte sie über das Prasseln des Regens hinweg.
Seine Hände glitten unter ihr Kleid während er sie sanft auf den Boden unter den Baum drückte. Rea hatte noch nie bei einem Mann gelegen. Doch hatte sie die Tiere in ihrem Dorf gesehen. Das hier war ganz anders. Der Mann über ihr entledigte sich nur von den absolut notwendigen Teilen seiner Rüstung. Nicht einmal einen Blick auf sein Gesicht durfte sie werfen. Und doch war er zärtlich mit ihr, sodass sie sich im Augenblick des Höhepunkt fest an ihn drückte.
Schon war es vorbei, und Rea blieb auf dem Gras liegen, denn sie wusste nicht, was sie als nächstes tun sollte. Sie hörte das Klimpern des Metalls als der Ritter die abgestreiften Teile seiner Rüstung wieder anlegte. Er beugte sich zu ihr, streckte die Hand aus und drückte ihr etwas zwischen die Finger.
Sie blinzelte im Regen und sah verdutzt eine goldene Kette mit einem Anhänger in ihrer Hand: zwei Schlangen um einen Mond geschlungen mit einem Dolch zwischen ihnen.
„Ich bin keine Hure, die man bezahlen muss“, zischte sie.
„Nach seiner Geburt“, antwortete er, „gib ihm das von mir und schick ihn zu mir.“
Sie blickte ihn an.
„Und jetzt verschwindest du, oder?“ sagte sie. „Einfach so.“
„Hier wirst du in Sicherheit sein“, antwortete er, „wenn ich mich zu lange entferne, werden sie anfangen, nach mir zu suchen. Es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“
„Besser für wen?“ erwiderte Rea. Sie schloss ihre Augen. Unter dem prasselnden Regen konnte sie hören, wie der Ritter sein Pferd bestieg. Wie durch einen Nebel nahm sie das Geräusch des davongaloppierenden Pferdes wahr.
Reas Augen wurden schwer. Sie war zu erschöpft, um sich zu rühren. Dort lag sie im Regen, ihr Herz gebrochen. Sie spürte, wie süßer Schlaf sie rief, und sie erlaubte ihm, sie zu rufen. Vielleicht würden die Alpträume nun endlich ein Ende haben.
Bevor sie ihre Augen schloss, starrte sie auf das Emblem der Halskette. Sie drückte es, spürte es in ihrer Hand, das dicke Gold, das so dick war, das es ihr gesamtes Dorf ein Leben lang hätte versorgen können.
Warum hatte er es ihr gegeben? Warum hatte er sie nicht getötet?
Er, hatte er gesagt. Nicht sie. Er wusste, dass sie schwanger würde. Und er wusste, dass es ein Junge würde.
Doch wie?
Plötzlich kurz bevor der Schlaf sie holte, leuchtete es vor ihr in aller Klarheit auf. Es war der letzte Teil ihres Traumes.
Ein Junge. Sie hatte einem Jungen das Leben geschenkt. Einem aus einer zornigen und gewaltsamen Nacht geborenen.
Ein Junge, bestimmt König zu sein.
KAPITEL ZWEI
Drei Monde später
Rea stand benommen und wie in ihrer eigenen Welt verloren alleine auf der Waldlichtung. Sie hörte weder das Bächlein unter ihren Füßen noch den Vogelgesang in den dichten Wäldern, die sie umgaben. Weder bemerkte sie das Sonnenlicht, das durch die Äste brach, noch das Rudel Rehe, das sie aus der Nähe beobachtete. Die gesamte Welt schien still zu stehen während sie auf das eine Ding, das sie in ihren zitternden Händen hielt, starrte: die Adern des Ukandablattes. Sie zog ihre Hand von dem breiten grünen Blatt zurück und musste mit Schrecken beobachten, wie sich die Farbe des Blattes langsam vom Grünen ins Weiße verfärbte.
Diese Veränderung zu sehen, war als würde jemand ihr ein Messer ins Herz rammen und es umdrehen.
Das Ukandablatt veränderte seine Farbe nur, wenn die Person, die es berührte, ein Kind erwartete.
Reas Welt schien aus den Fugen zu geraten. Sie schien jegliches Zeit- und Raumgefühl eingebüßt zu haben als sie dort stand und ihr das Blut in den Ohren rauschte, ihre Hände zitterten und sie an jene schicksalshafte Nacht drei Monde zuvor dachte, als ihr Dorf geplündert und zu viele Menschen ihr Leben gelassen hatten. Als er sie genommen hatte. Sie strich langsam mit der Hand über ihren Bauch, spürte die Wölbung und die Welle der Übelkeit, und endlich verstand sie, warum. Sie tastete nach der Goldkette, die sie versteckt um ihren Hals trug, tief weit unter ihren Kleidern, so dass die anderen sie nicht sehen konnten, und sie fragte sich zum tausendsten Mal, wer dieser Ritter gewesen war.
Sie hatte versucht, seine letzten Worte aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, doch sie holten sie immer wieder ein.
Schick ihn zu mir.
Ein plötzliches Rascheln hinter ihr veranlasste Rea, sich erschrocken umzudrehen. Sie erblickte die Knopfaugen von Prudence, ihrer Nachbarin, die sie anstarrte. Ein vierzehn Jahre altes Mädchen, das ihre Familie bei dem Anschlag verloren hatte, eine Plaudertasche, die wie versessen darauf war, mit jedem zu tratschen, und so war Prudence die letzte, die von Reas Umständen erfahren sollte. Rea musste mit Schrecken beobachten, wie Prudences Augen von Reas Hand zu dem sich verändernden Blatt glitten und sich vor Überraschung weiteten.
Mit einem angewiderten Blick lies Prudence ihren Korb mit Tüchern fallen, drehte sich um und rannte davon. Rea wusste, dass ihre Flucht nur eines bedeuten konnte: sie würde die Dorfbewohner in Kenntnis setzen.
Rea verließ aller Mut und sie spürte eine erste Welle der Angst. Die Dorfbewohner würden natürlich von ihr verlangen, das Baby zu töten. Sie wollten nichts, das sie an den Angriff der Adligen erinnern würde. Aber warum jagte ihr das solche Angst ein? Wollte sie dieses Kind wirklich behalten, das Nebenprodukt dieses Monsters?
Ihre Angst überraschte sie, und als sie über die Angst nachdachte, erkannte sie, dass es eine Angst war, die ihrem Baby Sicherheit geben sollte. Das überraschte sie. Ihr Verstand sagte, dass sie das Baby nicht haben sollte, denn es würde ihr Dorf in Gefahr bringen. Es würde die Adligen stärken, die das Dorf in Schutt und Asche gelegt hatten. Es wäre so einfach, das Baby zu verlieren; sie könnte einfach eine Yukabawurzel kauen und mit dem nächsten Bad, das sie nähme, wäre auch das Kind verloren.
Instinktiv jedoch fühlte sie das Kind in sich, und ihr Körper sprach eine andere Sprache als ihr Verstand: Sie wollte es behalten, um es zu beschützen. Es war immerhin ein Kind. Ein Kind, das man ihr in ihren Träumen verheißen hatte.
Rea, die ein Einzelkind gewesen war und ihre Eltern niemals kennengelernt hatte, hatte in dieser Welt, in der sie niemand liebte und sie niemanden liebte, sehr gelitten und so hatte sie sich stets nach jemandem gesehnt, der sie liebte und den sie lieben konnte. Sie war es leid, alleine zu sein, abgeriegelt in dem ärmsten Teil des Dorfes zu leben, von morgens bis abends zu schuften, nur um ohne jegliche Perspektive gerade das Nötigste zu haben. Ihr Stand würde es ihr verwehren, einen Mann finden, das wusste sie. Zumindest keinen Mann, den sie nicht verachtete. Sie würde wahrscheinlich niemals ein Kind haben.
Rea verspürte ein plötzliches Sehnen. Dieses Kind war ihre einzige Chance, erkannte sie. Und jetzt, da sie schwanger war, erkannte sie auch, wie sehr sie dieses Kind wollte. Sie wollte es mehr als alles andere.
Rea begab sich auf den Weg zurück ins Dorf, aufgewühlt von einem Überschwang unterschiedlichster Gefühle getrieben, war sie auf die Ablehnung, die sie erwartete, nicht vorbereitet. Die Dorfbevölkerung würde darauf bestehen, dass nichts von den Plünderern ihrer Stadt übrig bliebe, von den Männern, die ihnen alles genommen hatten. Sie würden nicht verstehen, dass dieser Mann anders gewesen war; dass er sie beschützt hatte. Rea konnte ihnen ihren Unmut nicht verübeln; es war eine übliche Taktik von Plünderern, Frauen zu schwängern, um die Dörfer des Königreiches zu dominieren und zu kontrollieren. Manches Mal hatten sie nach einem Kind schicken lassen. Ein solches Kind zu haben, befeuerte nur noch weiter die Gewaltspirale.
Dennoch konnte nichts von dem das ändern, was sie fühlte. Leben wuchs in ihr. Sie konnte es mit jedem Schritt, den sie tat, fühlen und mit jedem Schritt wuchs auch ihr Entschluss. Sie konnte es mit jedem Herzschlag hören, der in ihr schlug.
Rea überquerte das Zentrum der Dorfstraßen in Richtung ihres Ein-Raum-Häuschens. Ihre Welt war wie auf den Kopf gestellt und sie wusste nicht, was sie denken sollte. Schwanger. Sie wusste nicht, was es hieß, schwanger zu sein. Sie wusste nicht, was es bedeutete, ein Kind zu gebären. Oder wie sie es aufziehen sollte. Sie hatte gerade genug, um sich selbst zu versorgen. Wie würde sie es sich leisten können?
Doch sie spürte eine aufkeimende Kraft in sich. Sie pulsierte in ihren Adern, eine Kraft, deren sie sich in den letzten drei Monden nur unterschwellig bewusst gewesen war, die jedoch jetzt ganz klar zum Vorschein kam. Es war eine Kraft, die ihre eigene überstieg. Eine Kraft der Zukunft, der Hoffnung. Eine Chance. Es war eine Kraft des Lebens, das sie niemals würde führen können.
Es war eine Kraft, die ihr mehr abverlangte als sie eigentlich war.
Als Rea langsam die Straße hinablief, nahm sie ihre Umgebung und die Blicke der sie beobachtenden Dorfbewohner nur verschwommen wahr. Sie drehte sich um und sah zu beiden Seiten der Straße die neugierigen und missbilligenden Blicke alter und junger Frauen, alter Männer und Jungen, einsamer Überlebender und verstümmelter Männer, die die Narben dieser Nacht trugen. Ihnen allen stand das Leiden ins Gesicht geschrieben. Sie alle starrten sie an, ihren Bauch, als wäre es ihre Schuld.
Sie sah Frauen ihres Alters, unter ihnen verstörte Gesichter, die sie ohne Mitgefühl anstarrten. Viele von ihnen, das wusste Rea, waren auch geschwängert worden und hatten bereits die Wurzel zu sich genommen. Sie konnte den Kummer in ihren Augen sehen und sie spürte, dass sie wollten, dass sie eine von ihnen würde. Rea hatte das Gefühl, dass sich immer mehr Menschen um sie drängten, und als sie aufblickte, erkannte sie überrascht, wie sich ihr eine Mauer aus Menschen in den Weg stellte. Das gesamte Dorf schien aus seinen Löchern gekrochen zu sein, Männer und Frauen, Alte und Junge. Sie sah ihre gequälten Gesichter, eine Qual, die sie geteilt hatte und sie hielt an und starrte zu ihnen zurück. Sie wusste, was sie wollten. Sie wollten ihren Jungen töten.
Sie fühlte, wie Trotz in ihr aufstieg und sie entschloss sich in diesem Moment, dass sie ihnen nicht nachgeben würde.
„Rea“, vernahm sie eine raue Stimme.
Severn, ein Mann mittleren Alters stand in der Mitte und blickte finster zu ihr hinab. Er hatte dunkles Haar und einen Bart. Aus jener Nacht hatte er eine Narbe davongetragen, die quer über seine Wange lief. Seine Augen musterten sie von Kopf bis Fuß als wäre sie ein Stück Vieh, und ihr kam der Gedanke, dass er kaum besser war als die Adligen. Sie waren alle gleich: Alle glaubten sie, das Recht zu haben, ihren Körper zu besitzen.
„Du wirst die Wurzel einnehmen“, ordnete er dunkel an. „Du wirst die Wurzel nehmen und morgen wird das alles hinter dir liegen.“