„Wir haben keine Zeit für Diskussionen. Wir müssen sofort von hier weg. Folgt mir!“
Die Männer folgten Gwendolyn die spiralförmige Treppe hinunter. Instinktiv wollte Gwendolyn dabei Guwayne umklammern – und wieder durchfuhr sie unglaublicher Schmerz, als sie bemerkte, dass er fort war. Es war, als fehlte ein Teil von ihr, als sie die Treppen hinuntereilte um sich in Sicherheit zu bringen. Sie konnte hören, dass die Schreie der Drachen näher kamen, und spürte, dass der Boden unter ihnen zitterte. Wieder schickte sie ein Stoßgebet für Guwaynes Sicherheit gen Himmel.
Sie stürmte aus dem Fort und rannte mit den anderen über den Hof auf den Eingang des Kerkers zu, in dem nun keine Gefangenen mehr saßen. Davor warteten einige Krieger, die die massiven Eisentüren öffneten, um sie einzulassen. Bevor sie eintraten, wandte sich Gwendolyn ihren Leuten zu.
Sie sah, dass einige noch auf dem Hof umherirrten und wirr durcheinanderschrien.
„Kommt her“, rief sie. „Wir müssen unter die Erde! Kommt!“
Sie trat beiseite. Bevor sie hinunterging wollte sie sicher sein, dass alle Menschen sicher in der Finsternis des Kerkers verborgen waren.
Die letzten, die bei ihr stehen blieben, waren ihre Brüder, Kendrick, Reece und Godfrey, gemeinsam mit Steffen. Gemeinsam blickten sie zum Himmel auf, als sie wieder einen markerschütternden Schrei hörten.
Die Drachen waren nur noch wenige hundert Meter entfernt, und Gwen konnte ihre wütenden Gesichter sehen. Sie hatten ihre Mäuler weit aufgerissen, als könnten sie es nicht abwarten, alles zu zerstören.
So sieht also der Tod aus, dachte Gwendolyn.
Sie blickte sich noch ein letztes Mal um, und sah, dass etliche Menschen sich in ihren neuen Häusern verbarrikadiert hatten und sich weigerten, unter die Erde zu gehen.
„Ich habe ihnen befohlen, nach unten zu gehen!“, schrie Gwendolyn aufgebracht.
„Einige unserer Leute haben auf dich gehört“, sagte Kendrick, der sie traurig ansah, „doch viele weigern sich.“
Der Schmerz zerriss Gwendolyn innerlich. Sie wusste, was mit jenen geschehen würde, die in ihren Häusern blieben. Warum mussten ihre Leute nur so halsstarrig sein?
Und dann geschah es. Der erste Drache begann Feuer zu speien – noch weit genug entfernt, um sie nicht zu verbrennen, doch nah genug, dass Gwendolyn die Hitze der Flammen spüren konnte.
Mit Schrecken hörte sie die Schreie der Menschen, die sich dazu entschlossen hatten, über der Erde in ihren Häusern oder im Fort auszuharren. Das steinerne Fort, das vor wenigen Augenblicken noch so uneinnehmbar gewirkt hatte, stand nun in Flammen. Gwendolyn schluckte. Wenn sie im Fort geblieben wären, wären sie nun alle totgeweiht.
Wie die Menschen, die brennend und schreiend durch die Straßen rannten, bevor sie tot zusammenbrachen. Der schreckliche Geruch von brennendem Fleisch füllte die Luft.
„Mylady“, drängte Steffen. „Wir müssen in den Kerker. Sofort!“
Gwen konnte sich kaum losreißen, doch sie wusste, dass er Recht hatte. Sie ließ sich von den anderen mitziehen, durch die Türen, die Treppen hinunter, in die Finsternis, während die Wand auf Flammen unaufhaltsam auf sie zuraste. Die Stahltüren wurden nur Sekunden, bevor sie das Feuer erreichte, verschlossen. Das Krachen der zuschlagenden Türen fühlte sich an, als ob auch in ihrem Herzen eine Tür zugeschlagen wurde.
KAPITEL ZWEI
Schluchzend kniete Alistair neben Erec. Sie drückte ihn an sich, ihr Brautkleid war über und über mit seinem Blut beschmiert. Während sie ihn festhielt, drehte sich ihre ganze Welt und sie spürte, wie das Leben langsam aus seinem Körper wich. Erec, schwer verletzt durch den feigen Angriff des Attentäters, stöhnte, und sie konnte am Rhythmus seines Pulses fühlen, dass er im Sterben lag.
„NEIN!“, stöhnte sie, während sie ihn zärtlich in den Armen hielt und sanft wiegte. Sie spürte, wie ihr Herz brach als sie ihn festhielt, fühlte sich, als würde sie mit ihm sterben. Der Mann, den sie zu heiraten im Begriff war, der sie vor wenigen Augenblicken so liebevoll angesehen hatte, lag nun fast leblos in ihren Armen; sie konnte es kaum fassen. Der Angriff war so unerwartet gekommen, in einem Augenblick der Liebe und des Glücks; wegen ihr war er unachtsam gewesen – wegen ihres dummen Spiels. Sie hatte ihn gebeten, die Augen zu schließen, als sie in ihrem Hochzeitskleid auf ihn zukam.
Sie fühlte sich überwältigt von Schuldgefühlen, als wäre es allein ihre Schuld.
„Alistair“, stöhnte er.
Sie blickte auf ihn herab, und sah, dass seine halb geöffneten Augen ins Leere starrten, dass das Leben aus ihnen zu entweichen begann.
„Es war nicht deine Schuld“, flüsterte er. „Vergiss nie, dass ich dich liebe.“
Alistair weinte und drückte ihn an ihre Brust als sie spürte, dass die Wärme seinen Körper verlies. In diesem Augenblick geschah etwas in ihr. Sie spürte die Ungerechtigkeit der Tat und weigerte sich, ihn sterben zu lassen.
Plötzlich fühlte sie das bekannte Prickeln, als würden tausende winziger Nadeln sie stechen, und ihr gesamter Körper wurde von einer überwältigenden Hitze durchströmt. Eine ihr unbekannte Macht übernahm die Kontrolle, urtümlich und unglaublich stark, eine Macht, die sie nicht verstand. Das Gefühl war stärker als jeder Ausbruch ihrer Kräfte, den sie bisher in ihrem Leben verspürt hatte, als würde ein anderes Wesen die Kontrolle über ihren Körper übernehmen. Ihre Arme und Hände brannten heiß, und instinktiv legte sie ihre Hände auf Erecs Brust und Stirn.
Während ihre Hände auf Erecs leblosem Körper ruhten, brannten ihre Hände immer heißer, und sie schloss ihre Augen. Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Sie sah Erec als Jungen, wie er die Südlichen Inseln verließ, wie er stolz und edel an Bord eines Großseglers stand; sie sah, wie er in die Legion eintrat; in die Gemeinschaft der Silver aufgenommen wurde; sie sah ihn beim Lanzenstechen, wie er ein Meister der Waffen wurde, wie er Feinde besiegte und den Ring verteidigte. Sie sah ihn in seiner silberglänzenden Rüstung in aufrechter Pose auf seinem Pferd sitzen, ein Muster an Edelmut und Tapferkeit. Sie wusste, dass sie ihn nicht sterben lassen konnte; die Welt konnte es sich nicht leisten, ihn sterben zu lassen.
Die Hitze in ihren Händen schwoll weiter an. Als sie ihre Augen öffnete, sah sie, wie er seine schloss. Dann sah sie, wie ein gleißendes Licht von ihren Händen ausging und sich über Erec ausbreitete. Es schien seinen Körper zu durchdringen und sie beide wie ein Kokon einzuschließen. Sie sah zu, wie das Blut aufhörte aus seinen Wunden zu sickern, und wie sie sich langsam zu schließen begannen.
Seine Augen flatterten und öffneten sich, und sie spürte, wie sich sein Körper, der eben noch kalt gewesen war, zu wärmen begann. Sie fühlte, wie das Leben in seinen Körper zurückkehrte.
Erec sah sie überrascht an. Dabei spürte sie, wie sie selbst schwächer wurde, als ihre Lebenskraft in seinen Körper strömte.
Er schloss seine Augen und fiel in einen tiefen Schlaf. Ihre Hände brannten nicht mehr, und sie fühlte seinen Puls, der wieder vollkommen normal war.
Sie seufzte erleichtert, denn sie wusste, dass sie ihn von der Schwelle des Todes zurückgeholt hatte. Ihre Hände zitterten, und sie fühlte sich schwach – doch sie war glücklich.
Ich danke Dir Gott, dachte sie, als sie Erec unter Freudentränen umarmte. Danke, dass Du mir meinen Gemahl nicht genommen hast.
Alistairs Tränen versiegten, und als sie sich umsah, sah sie Bowyers blutverschmiertes Schwert mitsamt der Scheide auf dem Boden liegen. Sie hasste Bowyer mit bisher ungekannter Leidenschaft und war fest entschlossen, Rache zu nehmen.
Sie hob das blutige Schwert auf. Ihre Hände waren blutverschmiert, als sie es untersuchte. Sie wollte es gerade in die Ecke werfen, als die Tür des Raumes aufgerissen wurde.
Mit dem blutigen Schwert in der Hand fuhr sie herum und sah, wie Erecs Familie in den Raum gestürmt kam, flankiert von einem Dutzend Kriegern. Als sie näher kamen, wandelte sich der besorgte Ausdruck in ihren Gesichtern in blanken Horror, als sie zwischen ihr und Erec, der bewusstlos auf dem Boden lag, hin und her blickten.
„Was hast du getan?“, kreischte Dauphine.
Alistair sah sie verständnislos an.
„Ich?“, fragte sie. „Ich habe nichts getan.“
Dauphine starrte sie böse an, während sie auf sie zustürmte.
„Hast du nicht?“, sagte sie. „Du hast nur unseren besten und größten Ritter ermordet!“
Alistair sah sie schockiert an.
Sie blickte auf das blutige Schwert in ihren Händen, sah das Blut an ihrem Kleid und ihren Armen und erkannte plötzlich, dass alle sie für den Mörder hielten.
„Aber ich war es nicht!“, protestierte sie.
„Nein?“, schnaubte Dauphine anklagend. „Dann ist das Schwert also magisch in deine Hände gelangt?“
Alistair sah sich im Raum um, als die anderen sich um sie herum sammelten.
„Es war ein Mann. Der Mann der ihn im Wettkampf herausgefordert hatte: Bowyer!“
Die anderen sahen einander skeptisch an.
„Ach so ist das“, gab sie zurück. „Und wo ist dieser Mann?“ fragte sie, während sie sich umsah.
Alistair wusste, dass er fortgerannt war, und erkannte, dass alle sie für eine Lügnerin hielten.
„Er ist geflohen, nachdem er auf ihn eingestochen hat.“
„Und wie ist dann das blutige Schwert in deine Hand gekommen?“, drängte Dauphine.
Alistair warf noch einmal einen Blick auf das Schwert und warf es dann aufgebracht in die Ecke.
„Warum sollte ich meinen eigenen Gemahl umbringen wollen?“, fragte sie.
„Du bist eine Hexe!“ sagte Dauphine und baute sich vor ihr auf. „Solchen wie dir kann man nicht vertrauen. Oh mein Bruder!“
Dauphine kniete zwischen Erec und Alistair nieder. Sie umarmte ihn und hielt ihn fest.
„Was hast du getan?“, jammerte Dauphine unter Tränen.
„Aber ich bin unschuldig!“, rief Alistair.
Dauphine sah sie mit hasserfülltem Blick an, dann wandte sie sich den Kriegern zu.
„Nehmt sie fest!“, befahl sie.
Alistair wurde von hinten gegriffen und unsanft hochgezerrt. Sie war zu schwach, sich zu wehren, als sie ihr die Hände fesselten und sie wegschleppen wollten – doch sie konnte den Gedanken nicht ertragen, von Erec getrennt zu sein, gerade jetzt, wo er sie am meisten brauchte. Die Kraft, die sie ihm gegeben hatte, war noch nicht genug, er brauchte noch mehr. Wenn sie ihm nicht mehr geben konnte, würde er sterben müssen.
„NEIN!“, rief sie. „Lasst mich los!“
Doch ihre Rufe fielen auf taube Ohre, als sie sie davonzerrten, als wäre sie eine gewöhnliche Kriminelle.
KAPITEL DREI
Geblendet vom Licht hob Thor die Hände vor die Augen, als die glänzenden, goldenen Tore zum Schloss seiner Mutter weit aufschwangen. Eine Gestalt kam auf ihn zu, die Silhouette war die einer Frau, und mit jeder Faser seines Seins spürte er, dass dies seine Mutter war. Sein Herz pochte, als er sie vor sich stehen sah.
Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Licht. Er senkte seine Hände und sah sie an. Das war der Augenblick, auf den er sein Leben lang gewartet hatte, der Augenblick, der ihn bis in seine Träume verfolgt hatte. Er konnte es kaum glauben: Sie war es wirklich. Seine Mutter. Er war hier, in ihrem Schloss auf den Klippen. Thor betrachtete sie, wie sie nur ein paar Meter entfernt vor ihm stand und ihn ansah. Zum ersten Mal sah er ihr Gesicht.
Ihm stockte der Atem, denn vor ihm stand die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Sie wirkte alterslos – sowohl alt als auch jung, ihre Haut war makellos, ihr Gesicht strahlte. Sie lächelte ihn liebevoll an. Ihr langes, blondes Haar reichte ihr bis zur Taille, sie hatte große, graue Augen und ihre Wangenknochen und ihr Kiefer ähnelten seinem. Was Thor am meisten überraschte, war die Tatsache, dass er seine Züge in ihrem Gesicht wiedererkennen konnte – nicht nur die Augen, Wangen und der Kiefer, sondern auch ihre Lippen, der Schwung ihrer Brauen und ihre Stirn. In gewisser Weise war es so, als würde er sich selbst ins Gesicht sehen – oder Alistair. Sie ähnelte Alistair fast wie ein Ei dem anderen.
Thors Mutter trug eine weiße Seidenrobe und einen Umhang, dessen Kapuze zurückgeschlagen war. Sie trug keinen Schmuck, und hatte ihre Hände zur Seite ausgestreckt. Thor konnte eine intensive Energie spüren, die von ihr ausging, intensiver als er es je zuvor gespürt hatte. Es fühlte sich an, als würde die Sonne ihn umschließen. Als er vor ihr stand und in ihrer Energie badete, spürte er Wellen der Liebe, die von ihr ausgingen. Nie zuvor hatte er eine derart bedingungslose Liebe und Akzeptanz gespürt. Er war zu Hause.
Als er hier vor ihr stand, fühlte Thor sich ganz, gerade so, als ob auf der Welt alles in Ordnung war.
„Thorgrin, mein Sohn“, sagte sie.
Es war die schönste Stimme, die er je gehört hatte. Sanft hallte sie vom uralten Gemäuer des Schlosses wider und klang, als käme sie direkt vom Himmel. Thor stand wie angewurzelt da, wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. War das real? Einen Moment lang fragte er sich, ob nicht auch das hier eine Kreation des Lands der Druiden war, nur ein weiterer Traum, sein Geist, der ihm wieder einen Streich spielte. Er hatte sich so lange danach gesehnt, seine Mutter in den Arm zu nehmen. Er machte einen Schritt auf sie zu, entschlossen herauszufinden, ob es wieder nur ein Trugbild war.
Thor streckte die Arme nach ihr aus, auch wenn er befürchtete, ins Leere zu greifen. Doch dann spürte er sie – die warme Umarmung seiner Mutter, die ihn umfing. Es war das schönste Gefühl der Welt.
Sie hielt ihn fest, und Thor war überglücklich zu wissen, dass sie real war. Dass alles real war. Dass er eine Mutter hatte, dass sie wirklich existierte, dass sie in Fleisch und Blut vor ihm stand, in diesem Land der Illusion und Phantasie – und dass sie ihn wirklich liebte.
Nach einer langen Weile sah Thor sie mit feuchten Augen an, und entdeckte, dass auch ihr Tränen in den Augen standen.
„Ich bin so stolz auf dich, mein Sohn“, sagte sie.
Er starrte sie sprachlos an.
„Du bist am Ziel deiner Reise angekommen“, fügte sie hinzu. „Du hast dich als würdig erwiesen hier zu sein. Du bist zu dem Mann herangewachsen, den ich immer in dir gesehen habe.“
Thor sah sie an, nahm ihren Anblick in sich auf, immer noch erstaunt darüber, dass sie real war, und wusste nicht, was er sagen sollte. Sein ganzes Leben lang war er so voller Fragen gewesen. Doch nun, da er wirklich vor ihr stand, fehlten ihm die Worte. Er wusste nicht einmal, wo er anfangen sollte.
„Komm mit mir“, sagte sie, und drehte sich um. „Ich will dir diesen Ort zeigen. Den Ort, an dem du das Licht der Welt erblickt hast.“
Sie lächelte und streckte ihm eine Hand entgegen, die er dankbar ergriff.
Seite an Seite gingen sie ins Schloss hinein. Von seiner Mutter schien ein Leuchten auszugehen, das von den Mauern des Schlosses zurückgeworfen wurde. Thor betrachtete alles staunend: Dies war der prachtvollste Ort, den er je gesehen hatte. Die Wände waren aus glitzerndem Gold, alles glänzte, perfekt, surreal. Er fühlte sich, als hätte er ein magisches Schloss im Himmel betreten.
Sie gingen einen langen Flur mit einer hohen, gewölbten Decke entlang. Der Boden schimmerte im Licht, als bestünde er aus unzähligen Diamanten.
„Warum hast du mich verlassen?“, fragte Thor plötzlich.
Es waren die ersten Worte, die er zu ihr sagte, und sie überraschten selbst ihn. Von all den Dingen, die er sie fragen wollte, war aus irgendeinem Grund diese Frage zuerst aus seinem Mund gekommen, und er schämte sich dafür, dass er nichts Netteres gesagt hatte. Er hatte nicht so barsch sein wollen.