“Woher?” fragte sie total verwirrt.
Er starrte sie nur weiter an.
“Darf ich reinkommen?” fragte er.
“Ähm…” begann Scarlet.
Ein Teil von ihr wollte ihn unbedingt einladen, aber ein anderer Teil war vorsichtig. Was tat er hier? Warum brachte er eine schwarze Rose mit?
Aber dann konnte sie ihn nicht schon wieder fortschicken.
“Sicher”, sagte sie. “Komm rein.”
Sage lächelte breit, als er mit einem einzigen, großen Schritt über die Schwelle trat.
Als er das tat, sank er zu ihrem Erstaunen im Boden ein. Er sank und sank, wie auf Treibsand und hielt ihr eine Hand hin und schrie.
“Scarlet!”, kreischte er. “Hilf mir!”
Scarlet nahm seine Hand und versuchte ihn, hinaus zu ziehen. Aber plötzlich wurde sie auch in das Loch gezogen und tauchte mit dem Gesicht nach unten ein. Sie schrie sich die Lunge aus dem Leib, als sie mit höchster Geschwindigkeit Richtung Erdmittelpunkt gezogen wurde.
Scarlet wachte schreien auf. Sie sah sich in ihrem Raum um, ihr Herz klopfte heftig. Die ersten Strahlen des Tages kamen durch ihr Fenster. Sie sah auf ihre Uhr. 6:15.
Sie war in ihren Klamotten eingeschlafen. Sie atmete erleichtert durch, als ihr klar wurde, dass das alles ein Traum gewesen war.
Ihr Herz schlug heftig. Es hatte sich so real angefühlt.
Sie stand auf, ging in ihr Badezimmer und spritzte sich mehrere Male Wasser ins Gesicht, in dem Versuch, wach zu werden. Als sie in den Spiegel schaute, wurden ihre Ängste noch stärker: Ihr Spiegelbild. Es war anders. Sie war dort, aber ihr Spiegelbild war durchscheinend, als wäre sie ein Geist. Als wenn sie sich auflösen würde. Zuerst dachte sie, dass es am Licht läge. Aber sie drehte das Licht auf und es war immer noch dasselbe.
Sie war so panisch, sie wollte heulen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie brauchte etwas, das sie erdete. Jemanden, mit dem sie sprechen konnte. Jemand, der ihr sagen würde, dass es ok wäre. Dass sie nicht verrückt wurde. Dass sie sich nicht veränderte. Dass sie dieselbe, alte Scarlet war.
Aus irgendeinem Grund dachte Scarlet an das Angebot ihrer Mutter, mit dem Priester. Jetzt fühlte sie sich, als könne sie ihn wirklich brauchen. Vielleicht konnte er ihr helfen, sich besser zu fühlen.
Sie ging in den Flur und sah ihre Mutter, die ebenfalls durch den Flur schritt und sich für die Arbeit fertig machte.
“Mama?” fragte sie.
Caitlin stoppte und drehte sich überrascht zu ihr um.
“Oh Liebling, ich wusste nicht, dass Du schon so früh wach bist”, sagte sie. “Bist Du in Ordnung?”
Scarlet nickte nur, weil sie Angst hatte, sonst zu weinen, ging zu ihr rüber und umarmte sie lange.
Ihre Mutter erwiderte die Umarmung, hielt sie fest und wiegte sie in ihren Armen, und es fühlte sich so gut an, bei ihr im Arm zu liegen.
“Ich vermisse Dich, Schatz”, sagte ihre Mutter. “Und ich liebe Dich so sehr.”
“Ich liebe Dich auch”, sagte Scarlet an ihrer Schulter und die Tränen stiegen ihr auf.
“Was ist los?” fragte ihre Mutter, als sie sich von befreite.
Scarlet wischte eine Träne aus dem Augenwinkel.
“Erinnerst Du Dich noch an Dein Angebot? Den Priester zu treffen?”
Sie nickte.
“Ich würde gerne hingehen. Können wir zusammen dahin? Heute nach der Schule?”
Ihre Mutter lächelte breit und schien erleichtert.
“Natürlich können wir das, mein Schatz.”
Sie umarmte Scarlet noch einmal lange. “Ich liebe Dich. Vergiss das niemals.”
“Ich liebe Dich auch, Mama.”
KAPITEL FÜNF
Scarlet ging früh zur Schule, zum ersten Mal seit Jahren. Die Flure hatten sich noch nicht gefüllt und es war, wie durch eine Geisterstadt zu laufen, als sie zu ihrem Schrank ging. Sie war es gewöhnt, später zu kommen, wenn alles schon voll war, aber heute, nach ihrem Alptraum, fühlte sie sich zu kribbelig, um zu Hause zu sitzen und zu warten. Sie checkte ihr Facebook und Twitter Konto und sah die lächerliche Anzahl an Aktivitäten auf Grund von Postings, die Vivian und ihre Freunde ihr geschickt hatten und sie hatte solche Angst davor, wie die Schule eventuell reagieren würde und sie dachte, früher zu kommen, könnte es vielleicht abwehren. Zumindest fühlte sie sich, indem sie früh hier war, etwas geerdet und gewappnet.
Obwohl sie natürlich wusste, dass das nichts bringen würde. Schon bald würden sie die Flure mit einer überwältigenden Anzahl von Schülern füllen, sie würden sich in Gruppen zusammenrotten, ihr zahlenmäßig überlegen und auf sie schauen und flüstern. Inklusive, vielleicht, Blake. Sie fragte sich, was er den anderen über ihr Date erzählt hatte. Hatte er ihnen alles erzählt, was passiert war? Hatte er ihnen erzählt, dass sie ein Freak war?
Der Gedanke daran machte sie so krank, dass sie das Frühstück heute Morgen ausgelassen hatte. Sie musste die Suppe nun auslöffeln und fragte sich wie viele hundert Schüler dem Post wohl folgten – und was sie über sie dachten. Ein Teil von ihr wollte sich zusammenrollen und sterben, wegrennen und diese Stadt verlassen und nie zurückkehren.
Aber sie wusste, dass das keine Option war und es besser war, mutig zu sein und da jetzt durchzugehen.
Als sie ihren Spind öffnete und ihre Bücher für den Tag zusammen sammelte, wurde ihr klar, wie weit zurück sie mit all ihren Hausaufgaben war. Das war ebenfalls unüblich für sie. Die letzten zwei Tage waren so verrückt gewesen, so anders als alles zuvor. Was die Sache noch schlimmer machte, war, dass das Morgenlicht durch die Fenster kam und sie schlimmere Kopfschmerzen als je zuvor hatte. Sie bemerkte an sich selbst, dass sie in einem besonders hellen Flur die Augen abschirmte und fragte sich erneut, was mit ihr nicht stimmte. War sie immer noch krank oder so?
Sie sah ihre alte Sonnenbrille in ihrem Spind und hätte sie am liebsten genommen und den ganzen Tag in der Schule getragen. Aber sie wusste, dass das noch mehr negative Aufmerksamkeit auf sie lenken würde.
Wie eine Flutwelle begannen sich die Flure mit Schülern zu füllen, strömten aus allen Richtungen herbei. Sie sah auf ihr Handy und stellte fest, dass die erste Stunde in fünf Minuten beginnen würde. Sie nahm einen tiefen Atemzug und schloss ihren Schrank.
Sie sah, dass sie keine neuen Texte auf ihrem Handy hatte und ihre Gedanken gingen wieder zu Blake, zu gestern. Ihr Wegrennen. Sie fragte sich noch einmal, was er nur den anderen erzählt hatte. Hatte er wirklich all diese schädlichen Dinge gesagt? Dass er sie abgeschossen hatte? Oder hatte Vivian das nur erfunden? Was dachte er wirklich von ihr? Und warum hatte er auf ihre Nachricht nicht geantwortet?
Sie nahm an, natürlich, dass sein Schweigen eine Antwort war. Dass er genug hatte und nicht länger interessiert war. Aber sie wünschte, er hätte zumindest geantwortet, und sie schaute direkt noch einmal auf ihr Handy, nur für den Fall —zumindest um zu sagen, dass er nicht mehr interessiert war. Sie hasste es, keine Antwort zu bekommen.
Als wenn das alles nicht genug wäre, konnte sie nicht aufhören, über Sage nachzudenken. Ihr Treffen, vor ihrem Haus, war so mysteriös gewesen. Sie bereute es, ihn stehen gelassen zu haben und wünschte, sie hätte nur ein paar mehr Momente, um mit ihm zu sprechen, ihm mehr Fragen zu stellen. Ihr Traum machte sie verrückt und sie konnte nicht verstehen, warum er sich so in ihr Hirn eingebrannt hatte, sogar mehr als Blake.
Sie war so verwirrt. Mit Blake war es so, dass sie bewusst über ihn nachdachte, bei Sage hingegen konnte sie es gar nicht ändern – sie dachte an ihn, ob sie das wollte oder nicht und sie verstand ihre starken Gefühle für ihn nicht. Ziemlich bescheuert, da sie Blake seit Jahren kannte, fühlte sie sich Sage trotzdem näher. Was sie mehr als alles andere störte, war, dass es keinen Sinn machte. Sie hasste es, etwas nicht zu verstehen – besonders wenn es um die Liebe ging.
“Oh mein Gott, Scarlet?” hörte sie eine Stimme.
Als sie ihren Schrank schloss, sah sie, dass Maria dort stand und sie ansah, als wäre sie eine berüchtigte Berühmtheit.
“Du bist sonst nie früher hier! Ich habe Dir gestern eine Million Mal geschrieben! Was ist passiert? Wo warst Du? Bist Du OK?”
Scarlet fühlte sich schuldbewusst, dass sie zu überwältigt gewesen war, auf all ihre Texte zu antworten. Sie bemerkte außerdem ein neues Gefühl der Nervosität in der Nähe von Maria, auf Grund ihrer Gefühle für Sage. Immerhin hatte Maria klargemacht, dass sie total auf Sage stand. Wenn sie herausfand, dass Scarlet sich am Abend zuvor mit ihm unterhalten hatte – besonders direkt vor ihrem Haus – würde Maria ausflippen, befürchtete sie. Maria war so besessen und besitzergreifend, wenn es um Jungs ging. Sie dachte immer, dass sie nur ein Auge auf jemanden zu werfen brauchte, damit er ihr gehörte – ob diese Person von ihrer Existenz wusste oder nicht. Und wenn ihr irgendjemand in den Weg kam, dann war er direkt ihr Feind. Sie konnte sehr boshaft werden – und sie würde es nie vergessen oder vergeben. Sie war so eine Art von Person: entweder Dein bester Freund oder Dein Todfeind.
“Sorry”, antwortete Scarlet. “Ich bin früh eingeschlafen. Mir ging es nicht gut. Und ich konnte mit dieser ganzen Facebook Sache nicht umgehen.”
“OMG, ich hasse sie”, sagte Maria. “Vivian. Was für eine Schlange. Wer denkt sie, wer sie ist? Ich habe auf ihre Pinnwand geschrieben und auf die von ihren Freundinnen. Ich mache sie alle dafür verantwortlich, dass sie Dich mobben.”
Scarlet fühlte sich so dankbar gegenüber Maria—was ihre Schuldgefühle, weil sie mit Sage gesprochen hatte, noch verschlimmerte. Sie wünschte sich, dass sie es ihr einfach erzählen könnte, einfach erklären, was mit Sage gewesen war—aber sie verstand ja nicht mal selbst, was passiert war. Und sie befürchtete, dass, wenn sie es auch nur erwähnte, Maria ausflippen würde.
“Du bist die Beste”, sagte Scarlet und legte vor Dankbarkeit einen Arm um sie.
Die Beiden liefen Seite bei Seite den Flur hinunter, der sich schnell füllte und in dem der Lärm anstieg, als sie sich auf den langen Weg auf die andere Seite der Schule machten, für ihre erste Stunde zusammen.
“Ich mein, was hat sie nur für Nerven”, sagte Maria. “Erst stiehlt sie Dir Deinen Mann. Dann postet sie das auch noch überall. Sie fühlt sich nur bedroht. Und sie ist eifersüchtig. Sie weiß halt, dass Du die Bessere bist.”
Scarlet fühlte sich ein bisschen besser, obwohl sie noch ein bisschen traurig bei dem Gedanken war, Blake zu verlieren. Besonders unter diesen Umständen. Alles was sie wollte war, eine Chance zu erhalten, Blake alles zu erklären, ihm zu sagen, dass, was auch immer unten am Fluss passiert war, nicht sie gewesen war. Aber sie wusste auch nicht wirklich, wie sie es erklären sollte. Was könnte sie zu ihm sagen? Sie glaubte, es so gut es ging in ihrer Nachricht ausgedrückt zu haben. Auf die er nie geantwortet hatte.
“Hey Leute”, ertönte eine Stimme.
Jasmin und Becca liefen neben ihnen her. Scarlet fühlte, dass die Beiden sie ansahen und fühlte sich langsam paranoid auf Grund der Aufmerksamkeit.
“Hey”, sagte Scarlet als sie zusammen weiter den Flur hinab gingen. “Also, möchtest Du uns gerne aufklären?” fragte Jasmin. “Was ist mit Blake passiert?”
Scarlet konnte alle Augen auf sich spüren und wurde nervös. Während sie gingen, fühlte sie die Blicke der anderen Kids. Sie wollte gern glauben, dass sie nur paranoid war – aber sie wusste, das war es nicht. Es gab auf jeden Fall eine Menge Leute, die sie ansahen, ihr verstohlene Blicke zuwarfen, als wenn sie ein Freak wäre. Sie fragte sich erneut, wie viele Schüler wohl online gewesen waren und die Posts gelesen hatten und was sie wohl glaubten. Würde sie bekannt werden, als das Mädchen, das von Blake abgeschossen worden war? Die Blake an Vivian verloren hatte? Bei dem Gedanken daran brannte sie vor Scham und Wut.
“Ist es wahr?” fragte Becca. “Hat er Dich echt abgeschossen?”
“Falls er es getan hat”, sagte Jasmin, “dann sag es uns nur und wir kleistern seine Facebook Seite zu.”
“Danke Leute”, sagte Scarlet. Sie überlegte, wie sie antworten sollte. Sie wusste wirklich nicht, wie sie es erklären sollte.
“Also?” stieß Maria hervor. “Willst Du es uns nicht sagen?”
Scarlet zuckte die Achseln.
“Ich bin mir nicht sicher, was ich sagen soll. Es gibt wirklich nichts zu erzählen. Wir sind runter zum Fluss gegangen und…” Sie machte eine Pause, überlegte, wie sie es ausdrücken sollte. “…Blake hat mich geküsst.”
“Und?” hakte Jasmin nach. “Du bringst uns noch um!”
Scarlet zuckte die Schultern.
“Das war´s. Es ist nicht wirklich was passiert. Ich meine, Ich mag ihn. Ich mag ihn immer noch. Aber… ich bin gegangen. Ich meine, ich habe mich richtig krank gefühlt und musste gehen, ziemlich plötzlich.”
“Was meinst Du mit krank?” fragte Becca.
“Als wenn mein Magen mich umbringen würde”, log sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte. “Und ich hatte richtig schlimme Kopfschmerzen.” Zumindest war das teilweise wahr, dachte sie. “Ich glaube, ich war noch krank von vorgestern. Also rannte ich weg. Schlechtes Timing, glaube ich.”
“Also hat Blake Dich zurück gebracht? Oder hat er sich wie ein totaler Idiot verhalten?” fragte Jasmin.
Scarlet zuckte die Achseln.
“Es ist nicht seine Schuld. Ich habe ihm gar nicht die Zeit dazu gelassen, glaube ich. Ich bin einfach abgehauen. Ich habe mich schlecht deswegen gefühlt. Ich wollte es ihm erklären. Aber er antwortet nicht auf meine Nachricht.”
“Was für ein Idiot”, sagte Maria.
“Was für ein Verlierer”, fügte Jasmin hinzu. “Ernsthaft. Also Du bist krank geworden – also was, beantwortet er nicht mehr Deine Nachrichten? Was ist sein Problem? Du warst krank. Große Sachen. Ich meine, er hat Dir noch nicht mal die Chance gegeben, es ihm zu erklären?”
“Absolut”, stimmte Maria zu. “Und dann, was, ist er zurück zu Vivian gelaufen und hat Dich durch sie ersetzt? Nur weil Du krank warst? Was ist sein Problem? Er verdient Dich definitiv nicht. Es ist das Beste so.”
Scarlet freute sich wirklich über diese Zustimmung und fühlte sich langsam besser. So hatte sie das noch nicht gesehen. Sie glaubte, ihre eigene, beste Kritikerin zu sein. Je mehr sie darüber nachdachte, kam sie zu dem Entschluss, dass sie auf gewisse Weise Recht hatten. Vielleicht hätte Blake mehr Verständnis haben müssen; vielleicht hätte er ihr folgen sollen, sie fragen, wie sie sich fühlte; vielleicht hätte er nicht so schnell zu Vivian laufen sollen.
Aber hatte er das wirklich? Oder hatte Vivian das alles nur erfunden?
“Danke Leute”, sagte sie. “Ich freue mich wirklich darüber. Aber ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was danach passiert ist. Ich weiß nicht, ob er zurück zu Vivian gegangen ist oder ob sie das alles nur erfunden hat.”
“Also, ich denke, das bedeutet, dass Du nicht mit ihm zum Tanz gehst?” fragte Maria. “Also, mit wem gehst Du dann? Ich meine, oder willst Du nicht hin?” fragte sie, ihre Stimme stieg dabei an, als wäre es das Schlimmste der Welt.
Scarlet zuckte die Achseln. Der dumme Tanz – er könnte zu keiner schlimmeren Zeit kommen. Sie wusste wirklich nicht, was sie sagen sollte.
“Ich bezweifele, dass Blake mich mit hin nimmt”, sagte sie. “Vielleicht gehe ich allein….”
Für einen Moment musste Scarlet an Sage denken. Ihr fiel auf, wie gerne sie eigentlich mit ihm hingehen würde. Sie wusste kaum, warum. Sein Gesicht steckte einfach in ihrem Kopf.
Gleichzeitig dachte sie an Maria, was sie wohl denken würde – und der Gedanke, mit Sage hinzugehen, fühlte sich wie Verrat an. Sie versuchte ihn schnell aus dem Kopf zu bekommen.
“Wenn ich nicht hingehe, gehe ich halt nicht hin”, sagte sie schließlich. “Es ist okay. Vielleicht nächstes Jahr.”