Gewandelt - Морган Райс 4 стр.


Schnell ließ sie ihn herein und schloss die Tür direkt wieder.

»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich kann sie heute Abend einfach nicht ertragen.«

»Was ist zwischen euch beiden denn vorgefallen?«

»Das Übliche. Sie ist bereits in dem Moment auf mich losgegangen, als ich zur Tür reingekommen bin.«

»Ich glaube, sie hatte einen harten Tag«, vermutete Sam. Wie immer versuchte er, Frieden zwischen ihnen zu stiften. »Ich hoffe, sie wird nicht wieder rausgeschmissen.«

»Wen interessiert das? New York, Arizona, Texas … Was spielt es schon für eine Rolle, was als Nächstes kommt? Unsere Umzieherei wird niemals aufhören.«

Sam saß auf ihrem Schreibtischstuhl und runzelte die Stirn. Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen. Manchmal hatte sie wirklich eine scharfe Zunge und redete, ohne nachzudenken; doch jetzt wünschte sie, sie könnte ihre Worte zurücknehmen.

»Wie war denn dein erster Tag?«, fragte sie in dem Versuch, das Thema zu wechseln.

Er zuckte mit den Schultern. »Ich denke, ganz okay.« Seine Füße spielten mit dem Stuhl.

Er sah auf. »Und wie war’s bei dir?«

Sie antwortete ebenfalls mit einem Schulterzucken. Aber etwas an ihrem Gesichtsausdruck erregte seine Aufmerksamkeit, denn er wendete den Blick nicht ab, sondern starrte sie weiter an.

»Was ist passiert?«

»Nichts«, entgegnete sie abwehrend, drehte sich um und ging zurück ans Fenster.

Sie konnte spüren, dass sein Blick ihr folgte.

»Du wirkst … verändert.«

Sie schwieg und fragte sich, ob er etwas wusste oder ob man ihr rein äußerlich eine Veränderung anmerkte. Sie schluckte.

»Wie denn?«

Schweigen.

»Ich weiß nicht«, antwortete er schließlich.

Ziellos starrte sie nach draußen und entdeckte einen Mann vor der Eckkneipe, der einem Kunden ein Beutelchen mit Gras zusteckte.

»Ich hasse diesen neuen Ort«, gestand ihr Bruder.

Sie drehte sich um und sah in sein Gesicht.

»Ich auch.«

»Ich habe sogar schon darüber nachgedacht …«, er senkte die Stimme, »… mich einfach aus dem Staub zu machen.«

»Was willst du damit sagen?«

Er zuckte mit den Schultern.

Sie musterte ihn. Er wirklich richtig niedergeschlagen.

»Wohin willst du denn?«, wollte sie wissen.

»Vielleicht … mache ich mich auf die Suche nach Dad.«

»Wie denn? Wir haben doch keine Ahnung, wo er ist.«

»Ich könnte es versuchen. Vielleicht könnte ich ihn finden.«

»Sam. Nach allem, was wir wissen, könnte er genauso gut tot sein.«

»Sag so was nicht!«, schrie er und lief dunkelrot an.

»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich.

Er beruhigte sich wieder.

»Hast du dir schon mal überlegt, dass er uns vielleicht gar nicht sehen will, selbst wenn wir ihn finden? Schließlich hat er uns verlassen. Und er hat nie versucht, wieder Kontakt zu uns aufzunehmen.«

»Vielleicht, weil Mom ihn nicht gelassen hat.«

»Oder vielleicht, weil er uns nicht mag.«

Sams Blick wurde noch finsterer, während er unruhig die Füße hin und her bewegte. »Ich habe ihn auf Facebook gesucht.«

Caitlin riss überrascht die Augen auf.

»Du hast ihn gefunden?«

»Da bin ich mir nicht sicher. Es gab vier Personen mit seinem Namen, und zwei davon haben kein Foto eingestellt. Also habe ich beiden eine Nachricht geschickt.«

»Und?«

Sam schüttelte den Kopf.

»Ich habe noch keine Antwort bekommen.«

»Dad ist bestimmt nicht bei Facebook.«

»Das kannst du gar nicht wissen«, entgegnete er.

Caitlin seufzte, ging zu ihrem Bett und legte sich darauf. Sie starrte an die vergilbte Decke, von der die Farbe bereits abblätterte, und fragte sich, wie es dazu hatte kommen können, dass sie diesen Punkt erreicht hatten. Es hatte Orte gegeben, an denen sie glücklich gewesen waren, sogar Zeiten, als selbst ihre Mom beinahe zufrieden gewirkt hatte. Wie damals, als sie mit diesem Typen zusammen gewesen war. Da war sie zumindest zufrieden genug, um Caitlin in Ruhe zu lassen.

Es hatte Städtchen gegeben, wie beispielsweise ihren letzten Wohnort, wo sowohl Sam als auch Caitlin echte Freunde gefunden hatten. Beinahe hatte es so ausgesehen, als könnten sie tatsächlich auch dort bleiben – zumindest lange genug, um ihren Schulabschluss zu machen. Doch dann hatte sich ganz schnell alles wieder verändert. Koffer packen, Abschied nehmen … War es etwa zu viel verlangt, sich eine normale Kindheit zu wünschen?

»Ich könnte nach Oakville zurückgehen«, meinte Sam unvermittelt und unterbrach damit ihre Gedanken. Oakville war ihr letzter Wohnort gewesen. Irgendwie war es verblüffend, dass er immer ihre Gedanken lesen konnte. »Ich könnte bei Freunden wohnen.«

Der Tag wuchs ihr allmählich über den Kopf. Es war einfach zu viel. Sie konnte nicht mehr klar denken, und weil sie so frustriert war, verstand sie bloß, dass Sam sie auch noch im Stich lassen wollte. Anscheinend bedeutete sie ihm nicht mehr wirklich etwas.

»Dann geh doch!«, schnauzte sie ihn an, ohne es zu wollen. Es war, als hätte jemand anderes für sie gesprochen. Als sie merkte, wie barsch sie geklungen hatte, bedauerte sie ihre Unbeherrschtheit sofort.

Warum bloß musstest du so damit herausplatzen? Warum hast du dich nicht besser unter Kontrolle?

Wenn sie einer besseren Stimmung gewesen wäre, wenn sie ruhiger gewesen wäre und wenn nicht so viel gleichzeitig auf sie eingestürmt wäre, wäre ihr das sicher nicht passiert. Dann wäre sie freundlicher gewesen.

Sie hätte zum Beispiel etwas gesagt wie zum Beispiel: Ich weiß, dass du niemals abhauen würdest, egal, wie schlimm es kommt, weil du mich nicht allein lassen würdest. Dafür liebe ich dich. Und natürlich würde ich dich auch nicht im Stich lassen. Trotz unserer verkorksten Kindheit haben wir wenigstens uns.

Stattdessen hatte sie sich von ihrer schlechten Laune leiten lassen. Stattdessen hatte sie egoistisch reagiert und ihn angeschnauzt.

Sie setzte sich auf. An seinem Gesichtsausdruck konnte sie erkennen, wie verletzt er war. Gerne hätte sie ihre Worte zurückgenommen und ihm gesagt, dass es ihr leidtat, aber sie war schlichtweg überfordert. Irgendwie schaffte sie es nicht, den Mund aufzumachen.

Still stand Sam auf, verließ den Raum und schloss leise die Tür hinter sich.

Du blöde Kuh, dachte sie. Du bist so eine Idiotin. Warum musst du ihn genauso behandeln, wie Mom dich behandelt?

Sie legte sich zurück und starrte wieder an die Decke. Auf einmal begriff sie, dass es noch einen anderen Grund für ihre barsche Reaktion gab. Er hatte ihren Gedankengang unterbrochen, und das genau zu dem Zeitpunkt, als sie zu den schlechten Dingen kam. Eine dunkle Erinnerung war ihr durch den Kopf geschossen, und Sam war dazwischengekommen, bevor sie den Gedanken hatte festhalten können.

Es ging um den Exfreund ihrer Mom. Am vorvorletzten Wohnort. Zu der Zeit hatte Mom tatsächlich glücklich gewirkt, ein einziges Mal. Frank. Fünfzig. Klein, untersetzt, beginnende Glatze. Er roch immer nach billigem Rasierwasser. Damals war Caitlin sechzehn gewesen.

Sie hatte in der winzigen Waschküche gestanden und ihre Wäsche zusammengelegt, als plötzlich Frank in der Tür auftauchte. Er war ein fieser Typ, ständig starrte er sie an. Er hob ein Unterhöschen von ihr auf und hielt es grinsend hoch. Sie spürte, wie ihr vor Verlegenheit und Zorn das Blut ins Gesicht schoss.

»Das hast du fallen lassen«, meinte er, und sein Grinsen wurde noch breiter. Sie riss ihm ihre Unterwäsche aus der Hand.

»Was willst du?«, fuhr sie ihn an.

»Redet man so mit seinem neuen Stiefvater?«

Er machte einen halben Schritt auf sie zu.

»Du bist nicht mein Stiefvater.«

»Aber ich werde es sein – und zwar bald.«

Sie versuchte, sich wieder auf die Wäsche zu konzentrieren, aber er kam noch näher. Zu nahe. Ihr Herz schlug heftig.

»Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir beide uns ein bisschen besser kennenlernen«, sagte er dann und öffnete dabei seinen Gürtel. »Findest du nicht auch?«

Entsetzt versuchte sie, sich an ihm vorbeizuquetschen. Sie wollte flüchten, aber er versperrte ihr den Weg, packte sie grob und drückte sie gegen die Wand.

Und da geschah es.

Sie kochte vor Wut. So wütend war sie noch nie gewesen. Sie spürte, wie ihr von Kopf bis Fuß heiß wurde. Als er noch näher kam, sprang sie in die Höhe und trat ihm mit beiden Füßen gegen die Brust.

Obwohl sie nicht einmal halb so viel wog wie er, flog er rückwärts durch die Tür, riss sie dabei aus den Angeln und landete drei Meter weiter im Nebenzimmer. Es war, als wäre er von einer Kanonenkugel durchs Haus geschossen worden.

Zitternd blieb Caitlin stehen. Sie war kein gewalttätiger Mensch, noch nie hatte sie jemanden geschlagen. Außerdem war sie weder groß noch stark. Woher hatte sie also gewusst, wie sie ihn treten musste? Woher war auf einmal die Kraft gekommen? Noch nie hatte sie jemanden durch die Luft fliegen und eine Tür zerschmettern sehen – schon gar nicht einen erwachsenen Mann –, also woher war die Kraft dazu gekommen?

Sie ging zu ihm hin und starrte auf ihn hinunter.

Er lag bewusstlos auf dem Rücken. Sie fragte sich, ob sie ihn umgebracht hatte. Aber gleichzeitig kochte in ihr immer noch die Wut, sodass es ihr gleichgültig war. Eher machte sie sich Sorgen um sich selbst. Wer – oder was – war sie eigentlich?

Frank sah sie nie wieder. Am folgenden Tag machte er mit ihrer Mom Schluss und kam nie zurück. Zwar hegte ihre Mom den Verdacht, dass zwischen ihnen beiden etwas vorgefallen war, aber Caitlin sagte kein Wort. Trotzdem machte ihre Mom Caitlin für die Trennung verantwortlich. Sie warf ihr vor, die einzige glückliche Zeit in ihrem Leben zerstört zu haben. Seitdem hatte sie nicht aufgehört, ihr Vorwürfe zu machen.

Caitlin starrte an die Decke, und ihr Herz pochte wieder heftig. Sie dachte an die Wut, die sie heute erfasst hatte, und fragte sich, ob es einen Zusammenhang zwischen den beiden Vorfällen gab. Sie war immer davon ausgegangen, dass die Sache mit Frank nur ein verrückter, einmaliger Zwischenfall gewesen war, ein plötzlicher, merkwürdiger Kraftausbruch. Aber jetzt fragte sie sich, ob vielleicht doch mehr dahintersteckte. War da irgendeine besondere Kraft in ihr? War sie nicht normal? War sie verrückt?

Wer war sie?

3. Kapitel

Caitlin rannte. Die Schläger waren zurück, und sie jagten sie die Straße entlang. Vor ihr lag eine Sackgasse, die vor einer massiven Mauer endete, aber sie lief trotzdem weiter, direkt darauf zu. Sie wurde immer schneller, unglaublich schnell, und die Häuser flogen nur so an ihr vorbei. Der Wind wehte durch ihre Haare.

Als sie der Mauer immer näher kam, sprang sie, und mit einem einzigen Satz stand sie oben, in fast zehn Metern Höhe. Ein weiterer Sprung, und wieder flog sie meterweit durch die Luft. Diesmal landete sie auf dem Asphalt, allerdings ohne aus dem Rhythmus zu geraten. Sie rannte und rannte. Dabei fühlte sie sich kraftvoll und unbesiegbar. Ihre Geschwindigkeit erhöhte sich weiter, und sie hatte das Gefühl, fliegen zu können.

Als sie nach unten sah, wurde der Asphalt vor ihren Augen zu Gras – hohem, schwankendem grünem Gras. Sie durchquerte eine Prärie, die Sonne schien, und sie erkannte die Gegend als die Heimat ihrer frühen Kindheit.

Sie spürte, dass in der Ferne am Horizont ihr Vater stand. Sie näherte sich ihm; sah ihn jetzt deutlicher. Er hatte die Arme weit ausgebreitet und strahlte über das ganze Gesicht.

Sie sehnte sich danach, ihn wiederzusehen, und rannte mit aller Kraft.

Doch plötzlich stürzte sie.

Ein riesiges, mittelalterliches Portal öffnete sich, und sie betrat eine Kirche. Sie ging einen schwach beleuchteten Gang entlang, an dessen beiden Seiten Fackeln brannten. Vor dem Altar kniete ein Mann mit dem Rücken zu ihr. Als sie sich ihm näherte, erhob er sich und drehte sich um.

Es war ein Priester. Er sah sie an und erblasste vor Furcht. Sie spürte das Blut in ihren Adern fließen und sah sich selbst dabei zu, während sie auf den Mann zuging. Sie war nicht in der Lage, stehen zu bleiben. Voller Furcht streckte er ihr ein Kreuz entgegen.

Doch sie stürzte sich trotzdem auf ihn. Dabei merkte sie, wie ihre Zähne länger wurden – zu lang –, und sie sah, wie sie sich in den Hals des Priesters bohrten.

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