Der Wagenverleih war auch nicht besser. Anstelle eines herzlichen, irischen Willkommens, fand sie sich einem jungen Mann mit versteinerter Miene gegenüber, der ihren Buchungsbeleg schweigend entgegennahm und ihr ebenso schweigsam die Schlüssel für den Leihwagen aushändigte.
Keira nahm die Schlüssel und fand den Wagen auf dem Parkplatz. Er war unglaublich klein. Sie stieg rechts ein und erinnerte sich an Heathers Mahnung, links zu fahren. Es dauerte einen Weile, bis sie sich mit dem Schaltknüppel und der Kupplung vertraut gemacht hatte, dann fuhr sie los. Das Navi dirigierte sie aus Shannon hinaus. Sie würde etwa eine Stunde bis Lisdoonvarna brauchen.
Sie hatte knapp die Hauptstraße verlassen, als ihr bewusst wurde, dass sie schmale, gewundene Straßen ohne Bürgersteig entlang fuhr. Es gab keine Straßenschilder und keine Ampeln. Keira umklammerte aufgeregt das Lenkrad und richtete ihre volle Konzentration auf den Weg vor ihr, er immer schmaler zu werden schien.
Nach etwa einer Viertelstunde fing sie an, sich zu entspannen. Der Verkehr war gering, was sie beruhigte, denn so lief sie weniger Gefahr, mit jemandem zusammenzustoßen. Die Umgebung war auch sehr entspannend. Man sah nichts außer Hügel und Felder mit Schafen. Das Gras war grüner als es Keira je gesehen hatte. Sie kurbelte das Fenster herunter und wollte die frische Luft einatmen. Statt dessen erwischte sie einen Schwall Mistgeruch. Sie kurbelte das Fenster schnell wieder hoch.
Da es fast keine Straßenschilder gab, war sie sehr dankbar für das Navi. Aber es gab eben auch keine Ampeln und das machte das Fahren schwieriger, weil es viele enge, schlecht einsehbare Ecken gab. Die Straßenbemalung war längst verblichen. Das Fahren auf der linken Seite war auch irritierend. Das Ganze wurde noch erschwert von der großen Zahl an Traktoren, die sie überholen musste.
Die Straße wurde schließlich so schmal, dass gerade noch genug Platz für ein Auto war. Keira wäre beinahe in den Gegenverkehr geraten und musste in die Bremsen steigen. Das Auto geriet ins Schlingern und streifte eine Hecke. Keira hob entschuldigend die Hand, aber der andere Fahrer lächelte nur freundlich, als sei das völlig normal. Er legte den Rückwärtsgang ein und machte ihr Platz. Daheim in New York hätte diese Situation dazu geführt, dass man ihr laute Flüche an den Kopf geworden hätte. Sie bekam schon jetzt einen Eindruck von der berühmten irischen Gastfreundschaft.
Ihr Herz raste immer noch von dem Schock des Beinahe-Unfalls, aber Keira schob sich langsam an dem anderen Fahrzeug vorbei.
Sie fuhr nun noch vorsichtiger, hatte noch mehr Angst auf dieser engen Straße. Sie hoffte, der Lack war ohne Kratzer aus der Begegnung mit der Hecke hervorgegangen. Sie wusste nicht, wie man daheim reagieren würde, wenn sie mit einer teuren Rechnung der Leihfirma zurück kam.
Die Reste der Aufregung, die sie anfangs noch verspürt hatte, lösten sich in Luft auf. Adrenalin und Koffein reichten eben auch nicht ewig. Statt den Anblick der wunderschönen Natur zu genießen, erschien ihr nun alles grau und trübe. Die einzigen Lebewesen weit und breit waren Schafe. Hin und wieder stand ein verlassenes, altes Farmhaus in der Landschaft und war dem Verfall ausgesetzt. Oben in den Hügeln sah Keira auch die Ruinen einer Burg, umgeben von Bäumen. Sie fragte sich, wie man ein historisches, altes Gebäude so verfallen lassen konnte.
Sie fing an, sich geistige Notizen für die Arbeit zu machen, immer unter dem zynischen Blickwinkel, den Elliot gefordert hatte. Anstatt die Schönheit des Ausblicks zu sehen, konzentrierte sie sich auf die grauen Wolken. Der wundervolle Blick über die Küste wurde ignoriert zu Gunsten der schroffen Felsen in der Ferne. Auch wenn es eigentlich atemberaubend schön war, ging Keira davon aus, dass es nicht allzu schwierig sein dürfte, diese ganze irische Romantik zu enttarnen. Sie brauchte einfach nur zu wissen, wo man etwas genauer hingucken musste und aus welchem Blickwinkel.
Sie kam durch ein paar kleine, ummauerte Orte. Einer hieß Killinaboy and sie musste laut lachen. Sie schickte ein Foto vom Ortsschild an Zachary, der das hoffentlich zu schätzen wusste.
Sie war von dem lustigen Straßenschild so abgelenkt, dass sie beinahe das nächste Hindernis übersehen hätte: eine Schafherde! Sie stieg auf die Bremse und kam gerade noch rechtzeitig zum Stehen, würgte dabei aber das Auto ab. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Sie hätte beinahe eine ganze Schaffamilie niedergemäht!
Während sie ihr rasendes Herz wieder zur Ruhe kommen ließ, machte sie ein Foto von der Schafherde und schickte das ebenfalls an Zachary mit dem Kommentar: Der Verkehr hier ist ein Alptraum.
Natürlich erhielt sie keine Antwort. Frustriert über seinen kompletten Mangel an Interesse schickte sie dieselben Bilder auch an Nina und Bryn. Beide antworteten fast umgehend mit lachenden Emojis und Keira nickte zufrieden. Wenigstens gab es noch jemanden, der sich für ihre Erlebnisse interessierte.
Keira startete den Wagen wieder und fuhr langsam an der Herde vorbei. Die Tiere glotzen sie an, als wüssten sie, was beinahe passiert wäre. Keira hätte sich beinahe laut bei ihnen entschuldigt. Es wurde langsam dunkel, was das Fahren noch schwieriger machte. Es half auch nicht, dass die einzigen Gebäude, die sie sah, Kirchen waren, mit schlichten Statuen der betenden Jungfrau Maria.
Endlich erreichte Keira Lisdoonvarna und war positiv überrascht. Immerhin schienen hier Menschen zu wohnen. Es gab Straßen mit mehr als nur einem Haus, was es immerhin fast wie eine Stadt aussehen ließ. All die Gebäude, Häuser und Geschäfte waren so winzig und malerisch, ganz nah an der Straße und in allen Farben des Regenbogens gestrichen. Keira war erleichtert, endlich an einem Ort zu sein, der nicht nur aus vereinzelten Häusern und einsamen Straßen bestand.
Sie fuhr langsamer und folgte den Straßenschildern bis sie die Adresse fand, die sie suchte, das St. Paddy's Inn. Das B&B befand sich auf der Ecke zweier Straßen, ein dreistöckiges, dunkelrotes Backsteingebäude. Von außen sah es für Keira sehr irisch aus.
Sie parkte den Wagen, sprang heraus und holte ihre Tasche aus dem Kofferraum. Sie war erschöpft und wollte sich gern ausruhen.
Aber als sie näher kam, war schnell klar, dass an Ausruhen gar nicht zu denken war. Schon von Weitem hörte sie fröhliche Unterhaltung und lautes Debattieren. Außerdem hörte sie Musik. Geige, Klavier und Akkordeon.
Die Glocke über der Tür klingelte, als sie das Gebäude betrat, einen kleinen dunklen Pub mit alten karmesinroten Tapeten und vielen runden Holztischen. Der Pub war zum Bersten gefüllt, alle hatten ein Bier in der Hand. Sie schauten sie an, als sie eintrat und konnten offenbar sofort erkennen, dass sie hier nicht hingehörte, dass sie nicht nur eine Touristin, sondern darüber hinaus auch noch Amerikanerin war.
Keira fühlte sich von dem Kulturschock ein wenig überwältigt.
„Was darf's denn sein?“, sagte eine männliche Stimme mit starkem Akzent, den Keira kaum verstehen konnte. Sie schaute zur Bar, hinter der ein alter Mann stand. Er hatte ein faltiges Gesicht und ein Büschel grauer Haare mitten auf dem ansonsten kahlen Kopf.
„Ich bin Keira Swanson“, sagte sie und trat näher. „Vom Viatorum Magazin.“
„Ich verstehe kein Wort! Lauter!“
Keira versuchte, die laute Musik zu übertönen und wiederholte ihren Namen. „Ich habe hier ein Zimmer gebucht“, fügte sie hinzu, als der Mann sie nur ratlos anschaute. „Ich bin eine Journalistin aus Amerika.“
Schließlich schien der Mann doch zu verstehen, wer sie war und warum sie hier war.
„Ja, sicher!“, rief er und grinste breit. „Von der Zeitung mit dem schicken lateinischen Namen.“
Er hatte eine warmherzige Ausstrahlung, geradezu großväterlich, und Keira entspannte sich ein wenig.
„Genau die“, bestätigte sie.
„Ich bin Orin“, sagte er. „Mir gehört St. Paddy. Ich wohne hier. Und das ist für dich.“
Ein Glas Guinness wurde vor ihr auf dem Tresen abgestellt. „Ein traditionelles St. Paddy-Willkommen.“
Keira zögerte. „Ich trinke eigentlich nicht“, sagte sie lachend.
Orin schaute sie vielsagend an. „Doch, tust du, solange du im County Clare bist, Mädchen. Hier kannst du ganz locker sein, wie jeder andere auch. Und außerdem müssen wir auf deine sichere Reise anstoßen! Dank sei der Jungfrau Maria.“ Er bekreuzigte sich.
Keira fühlte sich ein wenig überrumpelt, als sie das Guinness nahm und an dem starken Gebräu nippte. Sie hatte noch nie vorher Guinness getrunken und der Geschmack sagte ihr nicht gerade zu. Nach dem kleinen Schluck war sie sich ziemlich sicher, das nicht austrinken zu können.
„Hört mal alle!“, rief Orin den anderen Besuchern des Pubs zu. „Das ist die amerikanische Journalistin!“
Keira wollte sich verkriechen, als sich plötzlich alle zu ihr umdrehten, applaudierten und jubelten, als sei sie eine prominente Persönlichkeit.
„Wir freuen uns ja so, dass du da bist!“, sagte eine Frau mit krausen Haaren. Für Keiras Geschmack kam sie ihr etwas zu nahe und lächelte etwas zu breit. Dann fügte sie etwas leiser hinzu: „Du solltest vielleicht den Guinnessbart von der Lippe wischen.“
Rot vor Scham, tat Keira genau das. Gleich darauf hatte sich eine andere Besucherin mit den Ellenbogen einen Weg durch die Menge gebahnt, was niemanden zu stören schien. Sie verkleckerte ein wenig von ihrem Getränk unterwegs. „Ich kann es nicht erwarten, den Artikel zu lesen.“
„Oh, danke“, sagte Keira. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass die Leute hier lesen würden, was man über sie schrieb. Das würde es vielleicht doch deutlich schwieriger machen, den zynischen Blickwinkel beizubehalten.
„Wieso bist du Journalistin geworden?“, fragte ein Mann neben ihr.
„Ich bin einfach nur eine Autorin. Keine Reporterin“, antwortete sie errötend.
„Nur eine Autorin?“, rief der Mann laut und Aufmerksamkeit heischend. „Habt ihr das gehört? Sie sagt, sie ist nur eine Autorin. Also, ich kann mal gerade so einen Stift festhalten. Da musst du wohl ein wahres Genie sein.“
Alle lachten. Nervös nahm Keira noch ein paar kleine Schlucke vom Guinness. Die irische Gastfreundschaft war ihr durchaus recht, aber es war auch ein ziemlicher Kulturschock. Es gab so viele Möglichkeiten, diesen Ort in ihrem Artikel niederzumachen, das wurde ihr unangenehm bewusst.
„Ich zeige dir dein Zimmer“, sagte Orin schließlich, als sie wenigstens die Hälfte ihres Biers ausgetrunken hatte.
Sie folgte ihm eine schmale, knarzende Treppe hinauf, einen Korridor entlang, der mit einem fadenscheinigen Teppich ausgelegt war und arg staubig roch. Keira folgte ihm schweigend, nahm alles in sich auf und entwarf im Geiste ein paar scharfe Formulierungen über die veraltete Einrichtung. An den Wänden hingen gerahmte, verblasste Fotografien von örtlichen Fußballmannschaften der Vergangenheit. Keira musste schmunzeln, als sie sah, dass viele der Spieler denselben Nachnamen trugen: O'Sullivan. Sie machte heimlich ein Foto von einem der Schwarzweißbilder und schickte es an Zachary mit dem Kommentar: Mr. O'Sullivan muss ein fruchtbares Zuchttier gewesen sein.
„So, da sind wir“, sagte Orin, öffnete eine Tür und ließ sie eintreten.
Das Zimmer war grauenvoll. Obwohl groß, mit einem Doppelbett und großem Fenster, war es schrecklich eingerichtet. Die Tapete war pfirsichfarben, mit Flecken, die viele Generationen von Händen hinterlassen hatten. Auf dem Bett lag eine dünne Steppdecke, aber nicht hübsch gemustert, sondern eher wie aus einem Notlager.
„Das ist das Zimmer mit dem Tisch“, sagte Orin und grinste stolz. Er deutete auf einen kleinen Holztisch am Fenster. „Zum Schreiben.“
Keira errötete. Sie war innerlich entsetzt von der Vorstellung, einen ganzen Monat in diesem schmierigen Zimmer wohnen zu müssen. Aber sie quetschte ein „Danke schön“ hervor. So viel zu dem Thema, sie würde locker einen Monat rustikal leben können.
„Willst du dich erst einmal etwas eingewöhnen, bevor du Shane kennenlernst?“, fragte Orin.
Keira runzelte verwirrt die Stirn. „Wer ist Shane?“
„Shane Lawder. Dein Führer für das Festival“, erklärte Orin.
„Natürlich“, sagte Keira und erinnerte sich an Heathers Notizen. Da war die Rede von einem Tourführer gewesen. „Ja, danke, ich würde Shane gern kennenlernen.“ Sie hatte nicht das geringste Bedürfnis, auch nur eine einzige Minute länger in diesem Zimmer zu bleiben. Sie warf ihre Tasche auf das Bett und ging die knarzende Treppe wieder hinunter.
„Shane!“, rief Orin, nachdem er seinen Platz hinter dem Tresen wieder eingenommen hatte.
Zu Keiras Überraschung war es der Geigenspieler, der antwortete. Er legte das Instrument beiseite und kam zu ihnen herüber, während die anderen Musiker einfach weiterspielten, als wäre nichts gewesen.
Keira konnte erkennen, dass sich unter seinem Zottelbart ein kantiger Kiefer verbarg. Tatsächlich war es so, dass er durchaus gutaussehend gewesen wäre, wenn er sich nur die Haare geschnitten und weniger schlabberige Kleidung getragen hätte. Keira hatte ein schlechtes Gewissen, an so etwas zu denken, zumal es mit Zachary im Augenblick so ungünstig lief. Aber da fiel ihr Bryns Motto ein: Gucken darf man immer.
„Du siehst nicht gerade aus wie ein Joshua“, sagte Shane, als er ihr die Hand schüttelte.
„Oh, hat dir keiner Bescheid gesagt?“, fragte Keira. „Es kam etwas dazwischen, daher bin ich nun hier. Tut mir leid.“
Shane musterte sie feixend. „Was gibt es da zu entschuldigen? Ich verbringe lieber dreißig Tage mit einer hübschen Lady wie dir. Nichts gegen diesen Joshua, ich bin sicher, er sieht gut aus, aber er klingt nicht, als wäre er mein Typ. Du weißt schon, so als Mann und so.“
Keira schluckte. Sie hatte nicht erwartet, dass irische Männer so direkt sein würden. Sie dachte an Zach und wiederholte im Geiste das Mantra, dass Gucken erlaubt war.
Während Shane sich neben ihr auf einen Barhocker setzte, stellte Orin ihnen beiden ein Guinness hin. Leira stöhnte innerlich. So viel Alkohol würde sie nicht verkraften.
Shane nahm einen kräftigen Schluck, dann breitete er ein paar Dokumente auf dem Tresen aus.
„Das Festival der Liebe geht über dreißig Tage“, erklärte er. Die meisten Aktivitäten fangen nie vor dem Abend an. Daher habe ich einen Plan erstellt, was du dir angucken kannst, während deines Aufenthaltes, damit du einen besseren Eindruck von Land und Leuten bekommst. Wir fangen mit dem Burren an, damit du eine Kalksteinlandschaft siehst. Dann die Klippen von Moher für den Blick über das Meer. Dann springen wir rüber ins nächste County, nach Kerry, zu dem alten, stattlichen Killarny, von da geht’s nach Dingle.“
„Ich dachte, du bist nur mein Führer für das Festival“, sagte Keira, „nicht für das ganze Land!“
„Du drehst durch, wenn du tagsüber nicht mal aus Lisdoonvarna rauskommst“, erklärte Shane. „Die Masse an Menschen, die kommen und gehen, das ist ein bisschen viel.“
Keira lachte innerlich. Sie bezweifelte ernsthaft, dass Lisdoonvarna während des Festivals hektischer sein könnte als New York an jedem normalen Tag.
„Es wird viel getrunken“, fuhr Shane fort. „Manche der Partys gehen bis in die frühen Morgenstunden. Ach, was sage ich, manche, denn eigentlich sind es fast alle.“