Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке - Захар Прилепин 10 стр.


»Sehr richtig«, setzte Sascha fort. Im Rausch[103] wurde er streitsüchtig.

Wenja lachte. Am Rand von Rogows Lippen hing ein Lächeln. Negativ blieb undurchschaubar.

»Ihr habt gesagt, dass wir nie irgendwo eingedrungen sind, ihr Grünschnäbel[104]. Und was ist mit Afghanistan? – Fahrer des einhundertsechsundsiebzigsten motorisierten Gebirgsjägerregiments. Vierzehn Mal unter Beschuss. Zwei Verwundungen, ihr Grünschnäbel.«

»Ihr Grünschnäbel«, sagte er ohne beleidigenden Unterton – einfach wie »Jungs«.

Der Afghanistanveteran sah Sascha, der ihm mit einer offenen Bierflasche in der Hand direkt gegenüber stand, in die Augen. Sascha verstand plötzlich, dass der Mann fast nüchtern war.

»Ich höre, ihr sprecht da über irgendeine Partei. Über Politik. Was versteht ihr Grünschnäbel denn von Politik? Diese Affen in Anzügen warten nur darauf, uns in irgendeine Scheiße einzutunken … Hat jemand was zu rauchen?«

Sascha überlegte und gab dem Afghanistanveteranen eine Zigarette.

»Hier ist Rauchen verboten«, warnte er grinsend.

»Ich rauche überall. Ihr seid doch aus einer Partei, oder?«, fragte er weiter.

»Aus einer Partei«, antwortete Sascha. »Sojus Sosidajuschtschich«.

»Ach, ›Sojusnitschki‹. Herr Kostenko und Genossen.« Der Afghanistanveteran grinste tierisch. »Ihr wundert euch, dass ich euch kenne? Ihr habt geglaubt, da schnorrt irgendein Bahnhofspenner Wodka? Ich trinke gar nicht. Ich schaue mir hier die Leute an. Sie rennen den ganzen Tag herum und keiner weiß, wie …« Er musterte sie alle plötzlich mit düsterem Blick: »… wie man die Arschbacken zusammenkneift, wenn eine Granate durch die Gegend fliegt. Das weiß ja keiner, dass man vor Angst nicht zittert, sondern kotzt. Die wissen das nicht, und ich fühl mich deshalb manchmal gut, auch wenn’s mitunter schmerzt.«

»Hör mal, Kumpel«, sagte Wenja, »geh wieder. Wir sitzen hier unter Freunden.«

»Nein, warte, was ich noch sagen möchte …« Der Afghanistanveteran schob Wenjas Hand, die auf seiner Schulter lag, mit einer feindseligen Bewegung weg. Ich halte euch nicht für ›SSler‹. Eure Fahne schaut aus wie die der Faschisten, aber das ist alles Schwachsinn. Ihr wollt die Regierung stürzen, auch ich möchte diese Leute zertreten. Die, die unsere Truppen nach Afghanistangeschickt haben, und die, die sie dann abgezogen haben. Sowohl die, die die Armee nach Tschetschenien geschickt haben, als auch die, die sie zurückholten. Und die, die sie schon wieder dorthin geschickt haben. Und die Tschetschenen dazu. Nur, was ich nicht verstehe – all diese Eier, die ihr da schmeißt, ist das euer Scheißernst? Mir fehlt zwar ein Arm, aber ich bin sofort bereit, eure Fahne auf dem Kreml zu hissen … Ich kann auch mit einer Hand jemanden erwürgen, und noch besser kann ich schießen. Nur werde ich das nicht tun, weil ihr Clowns seid. Alles klar, ihr Grünschnäbel?«

Rogow aß währenddessen die Pelmeni auf. Negativ drehte den Kopf hin und her – es sah aus, als suchte er einen Fernseher. Nur Wenja sah die Jungs fröhlich an und fragte Sascha leise und mit leisem Lächeln mitten im Monolog des Afghanen.

»Sollen wir ihn nicht doch lieber verdreschen?«

»Warte …«, entgegnete Sascha flüsternd.

»Wieso schweigt ihr?« Der Afghanistanveteran erhob die Stimme.

»Was hast du gefragt?«, antwortete Rogow, der alles, was noch auf dem Teller war, aufaß und gequält mit Bier hinunterspülte.

»Ich, ein Grünschnabel …«

»Nenn mich nicht so«, bat Rogow fast liebevoll. Afrika auf seiner Wange bekam heiße, hellrosa Schattierungen.

»Ich frage: Was könnt ihr mir anbieten?« Der Afghanistanveteran starrte Rogow an. »Ja – mir! Ihr, die ›Sojusniki‹?«

In den Mundwinkeln des Afghanzen

*

»Ich habe bei Herat

*

Rogow schaute den Afghanzen an. Sascha – Rogow.

»Du wirst es mir nicht glauben«, sagte Rogow, »aber Eier werfen ist fürchterlicher als Gedärme zurückzustopfen.«

Der Afghanistanveteran verkniff sich ein Grinsen.

»Hast du das gemacht?«

»Ja, und zwar viele Male. Herausgenommen, hineingestopft. Därme und Lungen, Leber, Magen.«

»Spaß-vo-gel?«[105] Der Afghanistanveteran zog die Silben auseinander.

»Ich bin kein Spaßvogel. Ich bin Pathologe.«

Der Afghanistanveteran öffnete den Mund, um eine weitere Bosheit von sich zu geben, doch Rogow fiel ihm, ohne dabei seine Stimme zu erheben, ins Wort.

»Ich war nicht bei Herat, aber ich war an anderen Orten unter Beschuss, und sage dir nochmals: Eine Tomate auf den Premier zu schmeißen ist mindestens so fürchterlich wie eine Granate zu werfen. Verstehst du? Wenn du eine Granate wirfst, kannst du getötet werden. Wenn du eine Tomate wirfst, brechen sie dir aber ganz sicher den Kiefer und die Rippen, und danach hat keiner von denen etwas dagegen einzuwenden, dass du in der Zelle auch noch gefickt wirst. Was ist für dich schlimmer – gefickt oder getötet zu werden?«

»Du Kind …«

»Und noch etwas: Wenn du statt einer Tomate eine Granate werfen willst – nur zu. Wir werden es zu schätzen wissen[106]. Ich werde es zu schätzen wissen. Wenn du nicht willst – musst du nicht. Gut möglich, dass du es ja doch noch willst – soweit ich verstehe, ist es für dich wichtig, dass rundherum geschossen wird; dann ist es auch für dich leichter, damit anzufangen. Du brauchst die Menge, richtig? Ich hoffe, dass du sie bekommst.«

Jetzt grinste Rogow.

»Dawaj, Landsmann!« Ljoschka klopfte dem Afghanistanveteranen auf die Schulter. »Alles Gute. Bis bald. Bis bald, bis bald. Na, dann.«

Alle drehten sich von dem Afghanzen weg, obwohl er noch da stand, nur einen Schritt vom Tisch entfernt.

»Gehen wir mal rauchen?«, fragte Wenja.

Sie gingen auf die Straße hinaus, vorbei an dem Afghanzen, der zu Boden blickte und den Kopf schüttelte.

Sascha zog die letzte Zigarette heraus und warf die leere Packung weg. Er zündete sie an und spürte sofort, dass er sehr betrunken war.

»Ist da noch was übrig geblieben?«, fragte Sascha, hauptsächlich, um seine eigene Stimme zu hören und einzuschätzen, wie klar sie noch war.

»Das Bier hab ich mitgenommen.« Wenja hob zwei angefangene Flaschen Bier in die Höhe: »Den Rest haben wir ausgetrunken.«

Sascha freute sich, dass die Frage verstanden worden war.

Er bewegte die Lippen und kommandierte grinsend: »Kehrt um, Marsch!«

Sie nahmen noch Bier mit und dazu irgendwelches Zeug. Sascha hatte schon das Stadium erreicht, in dem man nicht mehr trinkt, sondern nachfüllt. Man füllt seine Existenz mit geschmackloser Flüssigkeit an.

Irgendwo fand sich noch Wodka – und dazu mussten sie getrockneten Tintenfisch essen, ein getrocknetes Schwänzchen zu dritt. Die Jungs verzehrten das Stück fein säuberlich, mit sehr ernstem, wenn auch ein wenig dämlichem Gesichtsausdruck.

Sie betraten den Bahnsteig, lauschten, wie die Frachtzüge vorbeiratterten, und von diesem Gepolter wurde Sascha endgültig blöde im Kopf.

Der Bahnhof verschwamm, und nur für Momente tauchte vor den Augen überraschend klar eine helle Tafel auf, irgendjemandes Gesicht, eine nervige Absperrung, die überwunden werden musste, was den Gleichgewichtssinn überforderte.

Das Gespräch fortzusetzen war nicht möglich, aber es machte Spaß, von Zeit zu Zeit irgendetwas herauszuschreien.

Als sie eine Milizpatrouille entdeckten, rannten die Jungs lachend und Unverständliches schreiend in die Richtung der leeren Marktstände, an denen tagsüber mit allem Möglichen gehandelt wurde.

Sascha fiel auf alle viere und trank sogar ein bisschen aus einer Pfütze, in der sich sein Gesicht im Licht der Straßenlampe trübe und verzerrt spiegelte. Die vornweg stürmenden Jungs hatten Saschas Ausrutscher nicht einmal bemerkt.

Die Marktstände bestanden aus eisernen, teilweise verbeulten Ladentischen. An jedem Ladentisch waren zwei Träger samt Dach aus verrostetem Blech angeschweißt.

Während die Jungs die Markstände entlanggingen, schepperte es immer wieder, und die Ladentische wackelten, einige schwankten sogar heftig und drohten umzufallen. Sie rempelten wohl die Ladentische an, vielleicht traten sie auch dagegen.

Die Jungs trafen auf einen Mann kaukasischer Nationalität, der ihnen mit eingezogenen Schultern und gekrümmtem Rücken entgegenkam. Sie begrüßten ihn mit aufrichtiger Freude mit den Worten »Salam Aleikum« und »Allah Akbar«.

Kaukasier kontrollierten diesen Markt, das wusste Sascha. Aber jetzt, kurz vor Mitternacht, hatten sich alle offenbar mit ihren Einnahmen schon verlaufen. Hier in der Nähe befanden sich übrigens zwei oder drei Bars und außerdem ein Kasino, in dem sich junge Menschen vergnügten, die guttural und laut sprachen, kleingewachsen waren, Lederjacken und schwarze spitze Stiefeletten trugen.

Hinter einem der Ladentische spielten die Jungs die Szene »Ein Sohn des Kaukasus verkauft eine nicht ganz ausgetrunkene Flasche Bier an russische Alkoholiker«.

Rogow, überdreht und mit rotem Kopf, stellte possierlich einen kaukasischen Händler dar, der die Vorzüge des Biers und die seltene Form der Flasche anpries. Wenja feilschte, tölpelte herum und feixte. Sascha, der trotz seines betrunkenen Zustandes an Rogow, der normalerweise nicht zu Scherzen neigte, dessen Sinn für Humor bemerkte, half Wenja beim Feilschen; er fuchtelte mit den Armen, schrie herum und ließ in Sekundenschnelle die Zigarette aus dem Mund fallen, die er bei jemanden, bei wem, konnte er sich nicht mehr erinnern, geschnorrt hatte. Und selbst Negativ, der sich eine halbe Flasche Bier genehmigt hatte, verzog die Lippen und zwang sich zu lächeln. Im Widerschein des blinkenden Schilds der nicht weit entfernten Bar war zu erkennen, dass Negativs Augen weicher geworden waren.

»Sie ist doch … halbleer«, sagte Wenja und schnippte mit seinem gebogenen Finger gegen die Flasche.

»He-e, was bist du für einer? He-e …«, antwortete Rogow kopfschüttelnd. »Ich will ja nur den Einsatz von dir.«

»Und Kappe gibt’s keine …«

»Was brauchst du eine Kappe, he? Willst du trinken oder mit der Kappe spielen?«

Niemand hatte bemerkt, wie sie aufgetaucht waren, die weißen Zähne bleckend[107], schwarz, ungefähr sechs Mann. Sie hatten auf den Stufen der Bar geraucht, der »Handel« hatte ihr Interesse geweckt, und sie waren ernsthaft beleidigt, als sie das Gespräch verfolgten. Einer hatte eine offene Bierflasche in der Hand. Aus irgendeinem Grund schüttelte er sie.

Sie waren alle jung. Sascha bemerkte das sogar in seinem Halbdelirium[108], hatte aber keine Kraft mehr, darüber beunruhigt zu sein. Mit Erwachsenen hätte man sich arrangieren können, das ja. Mit diesen Jungen da – nur durch Entschuldigungen und Selbsterniedrigung; das waren ihnen sofort klar.

Einige Momente lang standen sie alle schweigend da.

Sascha drehte den Kopf und spürte plötzlich, dass er wegen der heftigen Erregung ein wenig nüchterner wurde.

Er war es gewohnt, zu Beginn einer Schlägerei wenigstens einige Worte zu sagen.

»Was wollen wir denn?«, fragte er und schmiss seinen fast zu Ende gerauchten aber noch glimmenden Zigarettenstummel in den Hals einer Bierflasche; jener Bierflasche, die der Kaukasier in der Hand hielt. Sascha bemerkte sogar noch seine merkwürdig weißen, aber mit dichten schwarzen Haaren bedeckten Finger. Der Kaukasier schaute ungläubig dem Stummel im Hals der Bierflasche nach. Der Stummel gab, als er ins Bier fiel, ein leichtes Zischen von sich.

Dann ging alles sehr viel schneller.

Sascha atmete ein, warf den Kopf zurück und ließ seine Stirn gegen die Nasenwurzel des Kaukasiers donnern. Etwas zerbarst mit saftigem Klang, die Flasche fiel aus den weißen Händen und rollte davon, die Flüssigkeit lief aus. Der Kaukasier fiel auf die Knie, bedeckte das Gesicht mit den Händen und stand nicht mehr auf.

Sascha wollte einen zweiten Kaukasier niederstrecken, erhielt aber selbst einen scharfen, wenn auch nicht sehr starken Schlag gegen das Kinn. Er sprang einige Schritte nach hinten und sah, wie Wenja die Flasche, die eben noch das Objekt ihres scherzhaften Handels gewesen war, einem der Gegner ins Gesicht warf und traf.

… Sascha fiel, fluchte heftig, er traf selten[109], bekam selbst aber auch wenig ab, weil er vor seinem Angreifer zurückwich und dabei, wie es ihm schien, immer bedrohlichere Kampfposen einnahm.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass Wenja sich schon mit zwei anderen auf der Fahrbahn schlug, dass Fahrzeuge sie anhupten, während sie versuchten, an den Kämpfenden vorbeizufahren …

… außerdem bemerkte er Negativ, der auf einem zu Boden gestreckten saß und dem unter ihm Liegenden harte und offenbar sehr schmerzhafte Schläge ins Gesicht versetzte[110].

Das nächste Bild war ein Auto, das neben Wenja abgebremst hatte. Aus ihm stürzten fünf kräftige Typen, die sofort, als würden sie Beute jagen, laut in ihrem Dialekt zu brüllen begannen. Wenja sprang zurück und schwenkte ein Metallstück.

Aus der Bar kamen weitere Leute gelaufen, und sie hätten die Jungs wohl plattgemacht, hätte Rogow sie nicht aufgehalten, indem er einen, dann noch einen zweiten und dritten Ladentischumwarf.

Die Ladentische versperrten nun den Weg zwischen einer Wand auf der einen und einem Zaun auf der anderen Seite, der nicht sehr hoch war, er reichte gerade bis zur Hüfte und begrenzte die Fahrbahn. Während die aus der Bar kommenden Kaukasier über den Zaun stiegen, um die von Rogow hingeworfene Barrikade zu umlaufen, gelang es Ljoscha, Negativ am Kragen zu packen, von seinem Opfer wegzuziehen und den Mann, mit dem Sascha sich erfolglos einen Kampf lieferte, umzuwerfen.

»Wenja, hierher!«, schrie Rogow dabei.

Wenja schleuderte das Metallstück gegen seine Angreifer und sprang über den Zaun; gleich zwei Milizautos kamen von irgendwoher die Straße entlang angerast, und unter Sirenengeheul und dem Geschrei der Miliz rannten alle, die sich am Markt versammelt hatten, in verschiedene Richtungen davon.

Sascha kam es vor, als würde er allen vorweg laufen. In seiner Kehle blubberte es merkwürdig. Hinter seinem Rücken hörte er Trampeln und war überzeugt, dass es sich um Ljoscha und Negativ handelte und dass auch Wenja nicht weit entfernt sein konnte.

Es war sinnlos sich umzudrehen. Sascha fluchte, drohte gegen irgendetwas zu stoßen. Es war so dunkel, dass er nicht einmal die Gesichter der hinter ihm Laufenden erkennen konnte. Er wäre gegen eine Betonwand gelaufen, hätte er nicht gehört, wie jemand gerade über sie kletterte …

Er tastete vor sich – ja, eine Wand.

Sascha sprang hinauf und kletterte hinterher.

»Der Markt!«, wurde Sascha klar, als er auf der anderen Seite hinuntersprang. »Ich bin auf dem Markt!«

Nach der Schlägerei und dem Laufen hatte sich in seinem Mund eine Unmenge Speichel angesammelt, Sascha musste ausspucken und drehte den Kopf, um etwas, das im Gesicht hängen geblieben war, abzuschütteln. Es klebte am Kinn. Er wischte es mit dem Ärmel ab.

Um ihn herum erhoben sich Hallen, es gab praktisch keine Beleuchtung.

Schwer atmend tappte Sascha sinnlos im Dunkeln herum und glaubte Kisten, leeres Verpackungsmaterial zu erkennen, das übereinander gestapelt und an die Mauer der nächstgelegenen Halle gelehnt war.

Sascha wollte genau dorthin, er suchte einen Unterschlupf, in dem man sich hinter den Kisten verstecken konnte und atmen, atmen – lange und schwere Speichelfäden hingen an ihm herunter.

Völlig entkräftet von den Ereignissen und vom Alkohol, zwängte er sich zwischen den Kisten näher zur Mauer und trat auf etwas Weiches. Auf einen sitzenden Menschen.

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