Die Großmutter kochte gleichzeitig mit zwei Pfannen – in einer wärmte sie Kartoffeln und Fleisch auf, in der zweiten zischten und zerbarsten Saschas geliebte Karawajtschiki
*
Die Großmutter wechselte übergangslos von einem zum anderen, es ging aber immer um eines: Alle sind gestorben und es gibt nichts mehr.
»Opa ist völlig taub, er hört nichts mehr … Das letzte Mal ist er im Juni aufgestanden. Er ging aufs Klo und fiel im Hof nieder. ›Warum bist du aufgestanden?‹ fragte ich ihn. ›Ich hab dir doch einen Kübel hingestellt!‹« Er war mit letzter Kraft aufgestanden.
Die Großmutter drehte das Feuer unter der Pfanne mit den Kartoffeln und dem Fleisch zurück, nahm den letzten Karawajtschik aus der anderen Pfanne und ging in die Hütte.
Sascha stand auf, torkelte durch die Küche und ging auf die Straße, um zu rauchen. Beim Hinausgehen hörte er, wie die Großmutter laut zu Opa sagte: »Sankya ist gekommen! Sankya!«
»Sankya? Was kommt er denn nicht herein? Ich höre, dass du dort mit jemandem schwätzt.«
Es war völlig dunkel. Das Dorf war lautlos.
Das Kind war weggegangen. Neben der Pfütze lag seine Gerte.
Die Zigarette brannte. Die Asche fiel nicht hinunter.
Ein Betrunkener stapfte vorbei, ein verkümmertes Männlein, das Sascha nicht beachtete.
»Was kommst du denn nicht zu mir, Sankya?«, fragte der Opa, als Sascha die Hütte betrat und sich an Opas Bett setzte.
In seiner Stimme schwang kaum hörbar die Ironie des Alten mit – fürchtest dich wohl vor mir, deinem sterbenden Opa. Und in der Ironie war zugleich Mitleid zu hören – na ja macht nichts, Jungchen, ich halte dich nicht lange auf.
Opa war dünn geworden, die spitzen Schultern, die schwachen Augen klebten zusammen. Der Großvater bereitete sich aufs Sterben vor. Wenn er sprach, knackste es kaum hörbar im Hals und die Wörter kamen praktisch unverständlich heraus.
»Sterben ist nicht schrecklich, Sankya … Das Leben ist sehr lang. Es reicht schon. Da liege ich jetzt und kann nicht sterben. Ach Sankya, Sankya …«
Sascha blickte den Opa schweigend an.
»Lass ihn doch erst mal essen nach der Reise!«, sagte die Großmutter, die hereingekommen war. »Du wirst noch genug reden können! Du stirbst schon nicht, während er isst!«
»Lass ich ihn etwa nicht essen?«, antwortete der Opa. »Geh essen, Sankya …«
Sascha ging folgsam in die Küche. Der Opa murmelte etwas, sprach mit geschlossenen Augen mit jemandem.
Die Großmutter fragte Sascha nach der Mutter, ob die Mutter nicht wieder heiraten werde, ob er selbst nicht trinke und wo er jetzt arbeite. Die Mutter wird nicht heiraten, Sascha trinkt nicht, zumindest nicht so, wie die Großmutter meinte, über die Arbeit erzählte er Lügen. Er arbeitete, war aber zu faul zu erklären, was er tat. Für die Alten ist Arbeit die Erde pflügen oder Fabrik, oder das Krankenhaus, oder die Schule … Sie haben recht. Aber heute ist diese Arbeit in den meisten Fällen zum Schicksal von nicht sehr erfolgreichen, vom Leben benachteiligten Menschen geworden.
Die Großmutter trug auf – wie man das im Dorf so nannte – und Sanja trank den Selbstgebrannten gerne zu Fleisch und Kartoffeln, um sich ein bisschen zu erleichtern.
Er trank einmal, zweimal, dreimal.
Im Nebenzimmer lag der Großvater im Sterben. Sascha aß mit großem Appetit. Er war hungrig. Die Karawajtschiki schmeckten so gut wie in der Kindheit. Die Großmutter erzählte davon, was im Dorf passierte.
Im letzten Haus in der Straße lebte ein Mann mit Spitznamen Chomut. Sascha kannte ihn gut. Chomut hatte ihn, Sascha, gerettet. Und der Vater hatte Chomut auch gekannt, sie waren befreundet; ihre Freundschaft war unspektakulär und still gewesen.
Chomut war gesund, helläugig, stark wie ein Pferd. Letzten Sommer hatte er sich erhängt. Die Söhne waren aus der Stadt zu ihm gekommen, um im Gemüsegarten zu helfen. Bei der Arbeit im Gemüsegarten zerstritt sich Chomut mit den Söhnen. Er hatte sich mit ihnen noch nie gut verstanden.
Er schimpfte und sagte: »Ich werde es euch jetzt mal zeigen!« Er ging ins Haus. Die Söhne zuckten nur mit den Schultern und arbeiteten weiter. Als sie dann heimkamen, fanden sie den Vater im Schuppen, er hatte sich an einer Querstange erhängt, die Beine angezogen.
Chomut gab’s jetzt also nicht mehr.
Zwei Häuser neben Saschas Geburtshaus lebte ein Mann mit Spitznamen Kommissar gemeinsam mit seiner Mutter. Kommissar wurde er deshalb genannt, weil er in den letzten fünf Jahren nichts getan hatte, als die Dorf bewohner zu beobachten, vom frühen Morgen an stand er an den Zaun gelehnt da. Er ließ sich scheiden, lebte von der Pension seiner Mutter. Sascha spürte in ihm immer etwas Ungesundes. Womit beschäftigt sich so ein vierzigjähriger Bock ohne Frau den ganzen Tag? Die Tochter wächst allein in der Stadt auf, ist noch ganz klein … Bei einem derartigen Leben kann man sich ja nur auf hängen. Aber er hängte sich nicht auf. Zuerst war sein stilles Mütterchen gestorben, und bald starb auch er selbst, irgendwas mit dem Herzen.
Zwei Söhne einer unmittelbaren Nachbarin starben schon damals, als Saschas jüngster Onkel verunglückte[60]. Auch die Nachbarsjungen verunglückten, auch mit den Motorrädern. Das kam so: In den letzten Jahren der ehemaligen Regierung hatte die Bauernschaft – endlich – Fleisch angesetzt und ein wenig Geld angesammelt. Das Erste, was einer aus dem Dorf macht, der sein ganzen Leben im Schweiße seines Angesichts geschuftet hatte: Er verhätschelt sein Kind, wie alt es auch sein mag. In jenen Jahren wollten die Jungs aus dem Dorf vom Fahrrad aufs Motorrad umsteigen. Im Dorf gab es keine Verkehrspolizisten, ja, auch den Revierinspektor sah man monatelang nicht, also fuhren alle betrunken. Und sofort fingen die Unfälle an: Sie verunglückten schrecklich, wurden in Stücke zerfetzt, vor dem Tod segelten sie – schlagartig aus dem Sattel gehoben, fünfzig, ja oft siebzig Meter weit, zertrümmerten ihre blöden Köpfe an Bäumen und Zäunen, brachen sich alle Knochen, ihre Körper verwandelte sich in weichen rosafarbenen Matsch, und manchmal traf es auch junge Mädchen, die auf dem Rücksitz gesessen hatten. Und wenn die Mädels auch nicht starben, so brachen sie sich die Wirbelsäule und lagen dann bewegungsunfähig da, wiederholten in Gedanken jede Minute jenes unglücklichen Abends.
Sascha, der als Kind immer in den Dorfladen gelaufen war, um Brot zu holen, traf dort drei, manchmal fünf und mehr Frauen in schwarzen Kleidern; ihre Söhne waren alle verunglückt. Die Frauen standen da und sprachen leise davon, wie ihre Kinder gelebt hatten und wie sie gestorben waren. Und einige der Wörter, die er im Vorbeigehen aus den schwarzen Mündern der Frauen hörte, schwirrten noch lange in Saschas Kopf herum, ohne den richtigen Platz zu finden.
Manche verließen das Dorf in den letzten Jahren, erzählte die Großmutter; jemand war an einer frühen Krankheit still gestorben, und im Großen und Ganzen war ein einziger Mann übrig geblieben, der – niemand erinnerte sich daran, warum eigentlich – Solowej, die Nachtigall, genannt wurde. Er betrank sich jeden Abend – man wusste nicht wo —, kam nach Hause, schrie seine sprachlose Frau blöde an, die längst schon alles verdammt hatte und in ihrer Ausweglosigkeit verstummt war. Kinder hatten sie keine. Abends hörte man im fast leeren Dorf Solowejs Gebrüll.
War er betrunken, erkannte er kaum jemanden, ging durchs Dorf, ohne etwas zu bemerken, und nur der wehmütige Blick seiner Frau brachte ihn aus der alkoholischen Ferne in die trübe Realität zurück und erweckte bei ihm das geradezu physische Verlangen, zu brüllen und zu schimpfen, ohne übrigens zu wissen, was er dabei von sich gab.
Das war er, Solowej, der da am Haus vorbeiging, als Sascha am Zaun rauchte.
Die Großmutter räumte den Tisch ab und ging, um für Sascha im Zimmer, von Opas Liege durch eine Zwischenwand getrennt, das Bett zu machen.
Während sie das Bett herrichtete, erinnerte sie sich daran, dass in diesem Bett Wasja, ihr eigenes Fleisch und Blut, als kleines Kind geschlafen hatte; nach dem Krieg wurde er neben der Bauernarbeit ohne alles Getue[61] zu einem dünnen, hochaufgeschossenen, aber früh kahl gewordenen Jungen aufgepäppelt, der dann das Elternhaus verließ – zurück kam er als kräftiger junger Mann, in dem allein sie mühelos noch immer dasselbe Kind erkennen konnte. Nun war Wasja also das Blut im Leib gestockt und er hatte aufgehört, zu sein.
Als Wasja das erste Mal Probleme mit dem Herzen hatte, träumte sie von ihm. Im Schlaf lag Wasja auf dem Bett und sagte: »Mama, hier tut es weh, ich kann nicht atmen«, und zeigte auf das Herz.
Sie fuhr sofort zu Wasja und kam unerwartet in die Stadt, in der sie schon zehn Jahre nicht gewesen war und dort musste sieerfahren, dass der Traum Wirklichkeit war.
Sascha brachte sie ins Krankenhaus, in das der Vater eilig eingeliefert worden war.
Der Vater lag ruhig, mit dunklem Gesicht, in sich hineinhorchend[62]. Im Innern schlug das kranke Herz. Die Großmutter saß daneben und blickte ins Gesicht des Sohnes. Der Vater wurde operiert, man schnitt ihm die Brust auf – während die Ärzte zauberten, befand sich sein Herz eine halbe Stunde außerhalb des Körpers. Er überlebte. Er durfte nichts trinken. Als aber bald danach Brüderchen Kolja starb, begann Wasja doch zu trinken. Er betrank sich einmal, dann noch einmal, dann kam er ins Krankenhaus und starb schnell, binnen zweier Tage.
Sascha wusste, dass die Großmutter das Bett machte und zum wievielten Male darüber nachdachte, warum nur, warum sie nicht von ihm geträumt hatte, als Wasja zum zweiten Mal schlecht wurde, warum rief er sie nicht, und nie konnte sie eine Antwort darauf finden.
Er erschien nicht im Traum und rief nicht nach ihr. Im Winter wurde bei den Nachbarn angerufen – das einzige Telefon im Dorf – und es hieß, Wasja sei gestorben, richten Sie das aus, wir bringen ihn fürs Begräbnis. Und drei Wochen nach dem Begräbnis kam Saschas Brief, den Sascha eineinhalb Wochen vor dem Tod des Vaters geschrieben hatte. Aufgrund der schlechten Arbeit des Postdienstes überschritt der Brief alle Zustellfristen, fast war es, als wäre er zu Fuß gegangen. In diesem Brief hatte Sascha geschrieben, dass der Vater sich gut fühle.
»Wie konnte das alles so plötzlich passieren?«, fragte die Großmutter Sascha, der noch einmal aufgestanden war, um zu rauchen und sich danach hinzulegen. »Du hast im Brief geschrieben, dass es dem Vater gut geht. Ich lese das, und er ist schon im Grab. Und nichts ist ihm besser geworden. Er hat sich ein Leben lang abgequält.«
Die Großmutter blickte Sascha ruhig an, ohne eine Antwort zu erwarten.
»Die Leute sagen manchmal, dass die Enkel mehr geliebt werden als die Kinder. Das ist nicht wahr …«, dachte Sascha.
Die Großmutter liebte ihre Söhne. Sascha war für die Großmutter eine undeutliche Erinnerung an jene Zeit, als die Familie vollständig und die Söhne noch am Leben waren. Sie hatte aber keine Kraft, in Sascha die Züge seines Vaters zu sehen, in ihm ihr eigenes – dem Sohn und dem Enkel weitergegebenes – Blut zu spüren. Sascha war ein eigenständiger Mensch, beinahe schon fremd …
Ganz selten aber schaute die Großmutter Sascha in der Hoffnung an, der verstorbene Sohn möge im Antlitz des Enkels erscheinen, ein Zeichen geben, riss sich davon aber sogleich los: »Nein, er ist es, nicht er …«
Sascha verstand das und akzeptierte gelassen die stille, kaum merkliche, hauchdünne Entfremdung der Großmutter. Bewusst war ihm das nicht aufgrund einer klaren Einsicht und obwohl er es eher vor sich selbst verheimlichte, spürte er, dass es ihm so – in einer gewissen Distanz zur Großmutter – leichter fiel, sich hier aufzuhalten. Wenn jeder in seinem Herzen sein Unglück trägt, sollten sich diese Herzen möglicherweise besser nicht berühren. Vermutlich ist es besser, gewisse Grenzen nicht zu überschreiten, wenn es ohnehin schon unmöglich ist, das Ganze zu ertragen.
Der Großvater wollte jedenfalls nicht mehr länger leiden, es zog ihn zu den Kindern[63].
Er ertrug den Tod der beiden Söhne stoisch und noch ein Jahr vor dem Tod des dritten war er bei Kräften gewesen. Kräftiger als Sascha – Sascha konnte sich erinnern, wie er sich über Opas Gesundheit gewundert hatte, als sie einmal auf dem Hof arbeiteten und Opa mit einem riesigen Hammer herumwerkte, den Sascha kaum hochheben konnte.
Aber dann verließ ihn auch der letzte Sohn, und Opa überlegte sich, ob er weiterleben solle.
In Opas Kopf gab es keine Abbilder der Vergangenheit. Es gab keine Erinnerungen an jene Zeit, als er, ein junger Stoßarbeiter, auf dem Mähdrescher arbeitete, und daran, als er, ein junger Offizier, mit der Waffe Befehle erteilte. Weder an die fast dreijährige Gefangenschaft erinnerte er sich, noch an das Leben nach dem Krieg. Es gab nicht die Klarheit einer guten Erinnerung. Es gab Nachklänge, Unausgesprochenes, Fetzen an Erinnerungen, kein einziger Gedanke hatte sein Ende gefunden, alles wackelte wie in einem dunklen Waggon, mit flackerndem, fast kraftlosem Licht – irgendwo Stimmen unsichtbarer Mitreisender, das Geschirr scheppert, es gibt keinen Zugbegleiter, und hinter dem Fenster blitzt etwas Verschwommenes auf.
Opa horchte, konnte aber nichts erkennen.
Großmutter ging vorbei, das bemerkte Opa. Und wieder konnte er nichts denken, nichts über sie, nichts über sich, nichts über irgendjemand. Es war nichts zu entscheiden, und nichts entschied sich von selbst. Alles war verflossen und verwischte sich. Das Farblose rollte heran. Selten tropft das, was sich auf dem Boden findet.
Der Großvater schaltete das Radio immer auf volle Lautstärke – damals. Um sechs Uhr früh ertönte im Haus die Hymne. Die Großmutter war zu dieser Zeit schon aufgestanden.
Sascha streckte die dürren, dreckigen Beine, er ärgerte sich über den Großvater. Aber er schlief sofort wieder ein, sobald die Melodie auf hörte. Er stand in guter Geistesverfassung auf. Er aß eine Milchsuppe. Manchmal fand er in der Suppe eine Fliege, aber Sascha ekelte sich nicht; er aß alles auf, nachdem er die Fliege herausgefischt und neben den Teller gelegt hatte. Die Fliege lag in einer kleinen weißen Pfütze, mit zusammengeklebten Flügeln. Die Suppe war außergewöhnlich schmackhaft, süß, heiß. Nach der Suppe gab es Karawajtschiki und Tee. Alles war so fein.
Um sechs Uhr morgens fing das Radio zu bellen an, als wäre die Platte mit der Hymne schon zu Ende oder hätte gar nicht erst beginnen können, weil sie hängengeblieben war. Das Radio atmete schwer mit seiner schwarzen, staubigen Lunge und begann zu schnarren. Der Lärm hörte nicht auf.
Sascha öffnet die Augen.
Über dem Kopf hingen Ikonen.
Das kleine Fensterchen neben dem Bett saugte alles Licht an.
Oma war nicht im Haus.
Sascha horchte, wollte den Atem des Großvaters hören, doch er hörte nichts. Er wollte nicht aufstehen. Aber liegen – zu zweit mit dem Großvater hinter der Trennwand – wollte er noch weniger.
Die Füße berührten angewidert den Boden. Die Schultern zuckten zurück. Die Backenknochen zogen sich zusammen, als er das Gähnen zurückhielt. Die Augen irrten flink durch das Zimmer, suchten etwas, um sich festzuhalten, damit das Herz sich beruhigte und der Morgen im Guten begann.