Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке - Захар Прилепин 8 стр.


Übrigens wurden sie von den Journalisten mit flinker Feder[85] oft als »SSler« bezeichnet – nach den beiden Anfangsbuchstaben der Partei, und bisweilen titulierte man die Mitglieder des »Sojus«, wenn man sie erniedrigen oder auf ihr jugendliches Alter hinweisen wollte, als »Milch- und Schwanzlutscher«[86].

Negativ verriet keinen der »Sojusniki«, auch sich selbst nicht. Immerhin hatte ja er den Molotow-Cocktail geworfen. Und natürlich nicht allein.

»Die Tür wollten sie aber nicht auf brechen?«, fragte Sascha und schaute auf Negativs Zahnlücke, die er bei einem blöden Streit davongetragen hatte.

»Nein, das wollten sie nicht.«

»Und warum hast du nicht aufgemacht?«

Negativ blickte Sascha entnervt an.

»Haben sie dir ihn Moskau auf den Schädel geschlagen? Ich sagte doch schon, Wenja und Rogow sind bei mir. Zuerst lagen sie unter dem Diwan. Dann haben wir Wenja in einen Teppich gewickelt und in eine Ecke gestellt, und Rogow ist in einen Schrank gekrochen … wir haben uns ganze zwei Stunden lang amüsiert.«

Sascha trank den Tee rasch aus. Eigentlich hatte er essen wollen. Jetzt nicht mehr.

»Wo sind sie?«, fragte er.

»Sie sitzen im Café gegenüber. Trinken zu zweit eine Tasse Kaffee. Gehen wir?«

Sascha holte Geld aus dem Versteck, ein Stück Käse, Zwiebeln vom Dorf, Brot und eine Konservendose, wollte zurück, um der Mutter einige Worte zu schreiben, und ließ es dann doch bleiben. Noch mal schreiben, dass »alles in Ordnung« sei. Mehr als »in Ordnung« gibt es nicht.


»Aha, da sind sie!« Sascha merkte plötzlich, dass er sich sehr freute, Wenja, der mit seiner nicht abgeheilten Nase noch immer schniefte, und den langen Ljoschka zu sehen. Er umarmte sie beide.

Man muss jetzt etwas unternehmen, die Jungs irgendwo unterbringen.

Sascha traute sich nicht, Bekannte von zu Hause aus anzurufen – das Telefon wurde abgehört, so hatte er schon einmal eine Aktion der Partei vergeigt.

Und er hatte auch keine Bekannten, bei denen sie zu dritt hätten übernachten können.

»Und nicht einmal ich allein«, dachte Sascha plötzlich verwundert, ohne dass es ihn traurig machte.

Es hatte sich in den letzten Jahren so ergeben, dass sich Saschas Gesprächspartner auf die Parteigenossen beschränkten. Nicht, dass er für andere Freundschaften keine Zeit hatte, obwohl, nein, er hatte keine Zeit, aber das Wichtigste war, dass er sie schon nicht mehr brauchte, warum auch, es war nicht interessant.

Es würde sich auch nicht lohnen, in die Wohnungen lokaler »Sojusniki« zu gehen – und zwar aus ganz offensichtlichen Gründen: Jederzeit könnten welche in Zivil hereinplatzen.

Auf der Straße begann es zu nieseln – dennoch verließen sie das verrauchte Café mit der lästigen Musik und den unverschämten Preisen und marschierten fröhlich hinaus – schwelgten in Erinnerungen und übertrumpften einander damit, was in Moskau nicht alles geschehen war …

Negativ hörte interessiert zu, manchmal blickte er dem, der gerade sprach, aufmerksam ins Gesicht.

Sie blieben an einem Kiosk stehen, Sascha kaufte eine Flasche Wodka und drei Plastikbecher – Negativ trank nicht, weil ihn der Alkohol immer zum Tier werden ließ.

Rogow erhob keinen Protest gegen den Kauf, Wenja zeigte sich erfreut.

Sie gingen auf einen Kinderspielplatz, auf dem Sascha in seiner frühen Jugend viele Stunden verbracht und unterschiedlich starken Alkohol ausprobiert hatte, um seine mehr oder auch weniger gefügigen Altersgenossinnen genauer zu untersuchen.

Sie setzten sich auf ein Spielzeughäuschen, Sascha holte Käse und Brot aus der Tasche.

»Nur ein Messer haben wir keins«, sagte er und drehte eine Konservenbüchse in der Hand.

Rogow zog schweigend ein Federmesser aus dem Rucksack. Geschickt öffnete er die Büchse.

Sie schenkten ein, stießen an …

Bald fühlten sie sich wohl, nur die Arschbacken wurden auf der feuchten Bank kalt. Sascha stand immer wieder auf und ging herum, Rogow legte sich den Rucksack unter, Wenja war es offenbar egal.

Negativ setzte sich nicht, er hörte zu. Er nahm ein Stück Käserinde, nagte immer wieder ein kleines Stück davon ab und kaute langsam.

»Da, nimm.« Sascha gab ihm ein Stück Käse.

Negativ nahm es. Er wartete, bis alle das Gespräch fortsetzten und legte es dann unbemerkt zurück.

»Wie viele haben sie genau geschnappt, weiß das jemand?«, fragte Sascha.

»Dreiundneunzig Personen, hieß es in den Nachrichten«, antwortete Negativ, allerdings erst, nachdem Wenja und Rogow mit den Schultern gezuckt hatten. Negativ beeilte sich nie, als Erster zu antworten.

»Was wird ihnen vorgeworfen?«

»Fast alle haben administrative Strafen bekommen. Je fünfzehn Tage.«

»Was sind sie denn so … gnädig …«, wunderte sich Wenja, der das Wort »gnädig« von irgendwo hergeholt hatte, ein Wort, das ganz und gar nicht zu seinem Wortschatz passte.

»Kannst du dir vorstellen, was für ein Prozess das gegen dreiundneunzig Personen sein soll? Die ganze Welt wird das erfahren. Das brauchen die doch nicht einmal im Arsch …«, meinte Sascha.

»Trotzdem werden sie zur Abschreckung fünf einsperren«, sagte Rogow.

Im »Sojus« wunderte man sich schon lange nicht mehr über neue Knastgänger[87] – mehr als vierzig Personen waren schon erwischt worden und saßen hinter Gittern. Diese Liste wurde nie kürzer, kamen die einen raus, saßen andere ein. Bezeichnenderweise waren fast alle Häftlinge »Terroristen mit Samtpfoten«[88] – sie hatten Eier geworfen, oder bekannte und unangenehme Personen mit Mayonnaise überschüttet. Trotzdem bekam man für ein beschädigtes Sakko einige Monate, vielleicht sogar ein Jahr Gefängnis.

Die einzig echte Strafe hatte ein Kerl aus der Ukraine erhalten, der sich mit Expropriation beschäftigt hatte und zehn Jahre verschärftes Lager bekam.

Sie schwiegen einen Augenblick, bedauerten die Jungs, zumindest Sascha wusste genau, dass sie ihm leid taten, auch bei Ljoschka und Rogow war eine Portion Bruderliebe und Mitleid zu spüren. Was Negativ und Wenja betrifft, so war bei ihnen aus unterschiedlichsten Gründen nicht alles ganz so eindeutig.

Negativ empfand eher etwas wie Ärger, der in soliden, unaufgeregten Groll überging, und dieser Ärger war gegen alle gerichtet, die in seinem Land die Macht repräsentierten – vom Milizionär an der Straßenecke bis zum Herrn Präsidenten.

Wenja war all das scheißegal, dachte Sascha. Und scheißegal war es ihm vermutlich nicht deshalb, weil sich Wenja nie selbst leid tat. Der Grund war vielmehr – Wenja nahm das Gefängnis absolut gelassen, er war immer darauf gefasst, reinzukommen, wenn er sich auch nicht gerade darum riss. Das ergab, wenn man zusammenrechnet, wie oft Wenja schon fünfzehn Tage bekommen hatte, insgesamt eine ganz schöne Zeit.

Doch sie schwiegen alle …

Sie schenkten ein, stießen ein letztes Mal an.

»Wir haben’s einmal gemacht und werden es wieder machen!«, sagte Sascha, in dessen Worten nicht das geringste Pathos lag. Rogow nickte, Wenja lachte auf, Negativs Gesicht konnte Sascha nicht sehen.

Sie tranken rasch aus, schnupperten an den Ärmeln

*

Sascha überlegte, wo man noch drei weitere Stunden verbringen konnte.

Ruhig und gut gelaunt gingen sie zum Gebäude der Universität. Sascha befahl allen, das Außenseiter-Gegrinse abzulegen und die offenen Gesichter von tagtäglichen Besuchern einer höheren Lehranstalt aufzusetzen – entweder von Studenten höherer Semester oder von Doktoranden. So kamen sie auch beim Wärter vorbei, der mit ernster Miene die Lippen zusammengepresst hielt. Rogow, natürlich ruhig, weil er kein Gesicht aufsetzen musste, sondern seines behielt, Negativ, der sich zur Seite gedreht und das Kinn im Jackenkragen verborgen hatte, und Wenja, der durch die Anspannung der Gesichtsmuskeln plötzlich dumm aussah.

Den Philosophiedozent Aleksej Konstantinowitsch Besletow kannte Sascha schon lange. Die Bekanntschaft zwischen Sascha, der nirgendwo studiert hatte, und dem Dozenten der Geisteswissenschaft war leicht zu erklären: Besletow war ein Schüler seines Vaters.

Sascha war ungefähr vierzehn, als er den jungen, schmalen Besletow, der damals knapp über zwanzig gewesen war, zum ersten Mal gesehen hatte.

Besletow hatte sie einige Male besucht, spielte lange mit seinem flauschigen Schal, den er mehrfach um seinen Hals gewunden hatte. Dann wurde Tee getrunken. Der Vater und er besprachen etwas, der Vater ruhig, Besletow zuckte manchmal mit den Schultern, als würden sie unter seinem Hemd abbröckeln. Der Vater achtete nicht darauf.

Der Vater war überhaupt sehr ruhig, er sprach niemals über Politik, obwohl die wirre oder vielmehr dumme und daher noch widerwärtigere Zeit das durchaus begünstigt hätte.

Dass Besletow äußerst liberale Ansichten vertrat, erfuhr Sascha erst viel später. Und er war sich bis heute nicht im Klaren darüber[89], was er davon halten sollte, dass der Vater niemals über »Umbrüche« und »Schicksale« gestritten hatte. Wie ließ sich das erklären? Doch nicht mit Gleichmut …

Besletow war der einzige von Vaters Freunden und Bekannten, der mit ins Dorf zum Begräbnis gefahren war.

Während des Begräbnisses gingen Sascha und Besletow zum »Du« über[90], sahen sich dann aber einige Jahre nicht, und in dieser Zeit verlor sich die kurzfristige Nähe wieder. Ihre Bekanntschaft wurde erneuert, als sich ganz unverhofft herausstellte, dass Saschas Freundin bei Aleksej Konstantinowitsch Philosophie studierte. Sie fragte Sascha, als sie sich einmal nach dem Unterricht vor dem Hörsaal trafen:

»Kennst Du eigentlich Aleksej Konstantinowitsch, der bei uns Philosophie unterrichtet?«

Im selben Moment gab Sascha Besletow die Hand und beschloss, wegen dessen zupackendem Händedruck sowie der lehrerhaften Körperhaltung zu vergessen, dass sie per Du waren.

»Ja, Aleksej Konstantinowitsch und ich … wir sind miteinander bekannt.«

Einige Male begegneten Sascha und Besletow einander auf dem Gang der Universität und tauschten im Vorbeigehen einen Händedruck aus, bis Sascha sich mit seiner Freundin aus einem banalen und längst vergessenen Grund zerstritt und Besletow abermals für eine Weile aus den Augen verlor.

Vor kaum mehr als einem Monat gab es eine lokale Veranstaltung des »Sojus« und Sascha traf unmittelbar nach dem Ende der wie immer lautstarken und mit Provokationen gespickten Aktion mit Besletow zusammen.

»Ich habe beobachtet, wie ihr dort … herumschreit«, sagte Besletow sanftmütig und mit professoralem Lächeln.

Sascha empfand wegen seiner sozusagen politischen Einstellungen schon lange keine Hemmungen mehr. (In Wirklichkeit ging es ihm niemals nur um Politik, sondern um das, was vielleicht den einzigen Sinn seines Lebens ausmachte.) Dieses Mal verspürte er jedoch ein leises Gefühl von Peinlichkeit. Vielleicht wegen seiner rauen Kehle, die gerade erst gebrüllt hatte: »Präsident, hau ab!« Vielleicht auch wegen seiner tiefsitzenden Verbitterung, die ihm immer noch ins Gesicht geschrieben stand. Er war nur zu vertraut mit der groben Miliz, die sie unverständlicherweise dieses Mal nicht hochgenommen hatte: Normalerweise schleppten sie die »Sojusniki« am Ende einer Demonstration auf die Wache, wo diese zum hundertsten Mal fotografiert und ihnen »die Finger abgenommen«[91] wurden.

Kurz gesagt, Sascha gelang es nicht, sich umzustellen, und er sah Besletow mit einem mühsam erzwungenen sonderbaren Lächeln an.

Dieser brach plötzlich in ein gutes, weil jugendliches und ehrliches Lachen aus und sagte: »Ihr werdet’s schwer haben.«

Besletow hatte Sascha eingeladen, zur Uni zu kommen, um miteinander zu sprechen (»Kannst auch Freunde mitbringen …«), und er hatte das so getan, dass Sascha tatsächlich kommen wollte.

Es gab neben der gütigen Aufrichtigkeit von Besletow noch andere Gründe für einen Besuch.

Saschas Vater war ein gebildeter Mensch – fast ein Professor, aber Sascha fühlte sich immer wie ein Straßenköter. Vielleicht, weil er nicht studiert hatte und die richtigen Bücher erst nach der Armee zu lesen begonnen hatte, vor der ihn auch die Mutter, eine im Grunde einfache Frau, nicht hatte bewahren konnte.

Vielleicht fehlte es Sascha an Sicherheit, weil der Vater sich nie mit ihm beschäftigt hatte, er sprach sogar selten mit seinem Sohn. Es war so: Der Vater brauchte den Umgang nicht, und Sascha drängte sich nicht auf, vielleicht war’s auch umgekehrt: Der Vater drängte sich nicht auf, und Sascha brauchte den Kontakt damals nicht.

Aber seit Kurzem zog es Sascha zu Menschen, die die Welt scheinbar besser verstanden – zumindest mithilfe jener gedruckten Quellen, bis zu denen Sascha es nicht geschafft hatte.

Besletow hob die Augen oder genauer – er zog die Brauen hoch.

Mit seinen Allüren erinnerte er immer mehr an einen pathetischen Theaterschauspieler.

»Sascha?«

»Wir sind einfach so gekommen.«

»Ach ja, ich hatte dich eingeladen, ich erinnere mich …«

Sie standen im Gang. Besletow schüttelte allen die Hand, schaute die Ankömmlinge dabei aufmerksam an und lächelte nicht. Er war nicht groß, hatte glatte dunkle Haare und runde Schultern. Früher, konnte sich Sascha erinnern, mühte sich Besletow die ganze Zeit mit seinem Gesicht ab, als wäre er ständig auf der Suche nach der richtigen Emotion und dem genauen Wort. Jetzt war er ruhig, und seine Wangen hingen ein wenig herunter, wodurch der Gesichtsausdruck leicht angewidert war.

»Wisst ihr, ich schließe das Institut gerade«, sagte er. »Hier gegenüber gibt’s ein billiges und ruhiges Café. Vielleicht setzen wir uns dorthin? Auf eine Tasse Tee?«

»Gehen wir«, stimmte Sascha zu, obwohl er nicht mehr sehr viel Geld hatte.

»Ich schaue noch im Dekanat vorbei und … komme gleich …«, versprach Besletow. Die Jungs gingen wieder an dem strengen Wärter vorbei und waren zwei Minuten später im Café. Es war halbleer, und die Musik spielte tatsächlich leise. In der Ecke flimmerte ein Fernsehgerät. Auf dem Bildschirm waren Männer in Helmen und auf Motorrädern zu sehen. Sie fuhren im Kreis, fielen oft hin und wirbelten in den Kurven Dreck auf.

Die Karte wurde gebracht. Sascha hob das erste Blatt des in Leder gebundenen Heftes mit dem Zeigefinger an und wusste schon, dass er nichts bestellen würde.

»Ich habe noch Geld«, sagte Rogow. Niemand hatte ihn danach gefragt, aber die Frage hing in der Luft. Natürlich hob sich bei allen die Stimmung.

»Ein Bier?«, fragte Rogow.

»Ich nicht«, sagte Negativ.

»Tee?«

»Ich will nichts.« Negativ verstand es, so abzulehnen, dass niemand mehr etwas vorschlug.

Alle begannen zu rauchen und sahen sich um.

Besletow kam bald, streng, in einer kurzen Jacke, mit einer Aktentasche.

Als er die Jacke auszog, bemerkte Sascha Besletows beginnenden Bauchansatz.

Er setzte sich schweigend, stellte die Aktentasche neben den Stuhl, nahm seine Zigaretten raus.

»Er hat keine Bartstoppeln«, fiel Sascha plötzlich auf – »ein weißes Gesicht. Ein kluges und vermutlich schönes Gesicht. … Und wie er die Brauen zusammenzog …«

Ohne dass man ihr Kommen gehört hätte, stand die Kellnerin vor ihnen, Besletow bestellte Kaffee.

Die Pause zog sich in die Länge.

Sascha schwieg absichtlich – ihm gefiel das ganze Treffen schon nicht, als sie noch in der Universität waren.

»Was schaut er so?«, dachte er und sah in Besletows Gesicht. »Hab ich etwa Geld von ihm geliehen?«

»Macht ihr immer noch Radau?«, fragte Besletow, der seine Zigarette angezündet hatte und Saschas eindringlichen Blick spürte.

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