Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке - Иличевский Александр Викторович 8 стр.


»Sei vorsichtig mit dem Gas. Wenn du rausgehst, schau immer nach. Und lass nie Petroleum im Zimmer.«

Mutter starb lange. In Wellen. Wimmerte. Warf ständig die Bettdecke weg. Nadja verstand das alles nicht. Sie hob die Decke auf, deckte die Mutter zu. Und nochmal. Der große, schlaffe Körper der Mutter wurde von Krämpfen geschüttelt. Wieder hob Nadja die Decke auf.

Als sie still wurde, stülpten sich die Lippen vor und erschlafften.

Aus den starren Augen flossen Tränen.

Nadja hat ihre Mutter nie geküsst.

XXII

Sie hatten in der Presnja ein paar regelmäßige Beschäftigungen. Unter anderem sahen sie bei der provisorischen Gedenkstätte für die Toten des Oktoberaufstandes nach dem Rechten[41].

Das kam so. Einmal im Frühling, am Totensamstag, hatten sie sich seit dem frühen Morgen auf dem Wagankowo-Friedhof herumgetrieben. Wadja war von Zeit zu Zeit zum Armenischen Friedhof auf der anderen Straßenseite gelaufen, in der Hoffnung, auch dort irgendeinen Handlangerdienst zu ergattern. Gegen Mittag brach Nadja ein paar Birkenzweige und schlich sich damit zu den verlassenen Gräbern. Sie fegte mit den Zweigen das Laub vom Vorjahr weg, riss das vertrocknete Unkraut aus, ging, mit verschämtem Gesicht leise vor sich hin flüsternd, zu den üppig geschmückten Gräbern und holte von dort Pralinen, Gebäck, Eier und künstliche Blumen.

Da wurde die Friedhofswärterin auf sie aufmerksam.

»He, was machst du da, elendes Weib?«, schrie die Frau sie über den Grabzaun an.

Nadja war vor Schreck ganz aufgeregt und machte tiefe Verbeugungen.

Die Frau arbeitete noch nicht lange dort als Wärterin und machte so ein Geschrei, damit die Wachleute es hörten, damit sie sahen, wie gewissenhaft sie arbeitete.

Aber als sie ernsthaft in Fahrt kam, wandte Nadja sich zu ihr um und brüllte:

»Sachla*, Schluss jetzt! Sachla!« Wenn Nadja aufgeregt war, rutschten ihr immer aserbaidschanische Wörter heraus.

Dann kam einer der Wachleute, ein kräftiger junger Mann in Militär-Camouflage, rief die verschreckte Nadja zu sich, ging zusammen mit ihr zu Wadja, gab ihm Zange, Schaufel, eine Rolle Stahldraht und ging mit ihnen zum Weißen Haus.

Im Park hinter dem rechten Gebäudeflügel, bei den Ausgängen, an denen die meisten Menschen von Scharfschützen getötet worden waren, standen Tafeln mit roten Wimpeln, voller Fotos, dazu kurze Texte, wie und wo derjenige umgekommen war, außerdem unansehnliche Zäune, die mal ein bemaltes Eisenkreuz, mal ein geschnitztes Holzkreuz mit Dach umgaben. Daneben verstaubte Kränze, Tafeln mit Informationen über die Oktoberereignisse, Gedenkfotos, Namenslisten und Biografien der Toten. Alles zusammen erinnerte an einen kleinen Dorffriedhof.

Wadja grub die Beete um, Nadja harkte das Gras, lockerte die Erde auf. Männer mit Trauerbinden am Arm und Frauen in schwarzen Kleidern sprachen leise miteinander, raschelten mit Plastiktüten und machten sich an den Tafeln zu schaffen.

Von da an gingen sie hin und wieder dorthin, um nach dem Rechten zu schauen, etwas auszubessern, herzurichten, zu befestigen. Nadja machte ringsum sauber, klebte die Fotos fest. Wadja richtete die improvisierten Mahnmale her, nagelte Folien an, zog mit schwarzer Farbpaste die Buchstaben auf den Listen nach, die übers Jahr verblichen waren.

Einmal hatte Wadja eine Idee, er holte sich Bretter von einer Baustelle, zimmerte Holzböcke, wickelte ein Stacheldrahtgeflecht darum, steckte ein paar Rohre hinein, befestigte noch Aluminiumfetzen daran – und kroch dann den ganzen Tag auf den Knien drumherum, band Fetzen einer roten Fahne an den Stacheldraht, spießte Alufolie auf und steckte einige abgeknickte rote Nelken in das Konstrukt, die er sich bei den befreundeten Blumenhändlerinnen am Weißrussischen Bahnhof zusammengesammelt hatte.

XXIII

Nadja konnte sich nur an unbedeutende Dinge gut erinnern. Sie wusste beispielsweise noch genau – sie brauchte nur die Augen zu schließen – wie das Brillenetui ihrer Mutter innen gerochen hatte: Es war der gleiche herrliche Geruch nach gegerbtem Wildleder wie in dem Sportgeschäft in ihrer frühesten Kindheit, in einer Kleinstadt am Kaspischen Meer. Sie waren in der sengenden Hitze zum Uferpark gelaufen (aufreizender Jodduft des blutheißen Meeres, schwerer Harzgeruch der von der Sonne aufgeheizten Zypressen). Nach der glühenden Straße, auf der der Asphalt klebrig-zäh unter den Sohlen nachgegeben hatte, war das Geschäft eine selige Wohltat, angefangen mit der Kühle und eben diesem erregenden Geruch. Später spazierten sie gebannt durch die beiden betörenden Verkaufsräume voller Sportartikel: Da gab es einen Billardtisch, eine Tischtennisplatte, einen Boxsack, einen Korb voller Seilknäuel und schließlich eine Box mit steil abfallenden Seiten und bordeauxrotem Samtbezug, an dem, wie bei einer Vogelscheuche, Tuchärmel herabhingen (wie die Ärmelschoner eines Buchhalters ohne Kopf), die an den Bündchen von einem Gummiband zusammengehalten wurden. Es war eine Box, in der man blind Filme bearbeiten konnte. Besonders faszinierend waren die Backgammonspiele, Schachbretter und Federballsets in den Regalen. Wunderschöne gefiederte Korken, die sich als weißer Bogen beflügelter Fantasie zwischen schallenden Schlägern drehten, erbebten und beim Aufprall seufzten, ganz sanft, wie rauschende Federn beim Auffliegen in den Himmel. Nadja erinnerte sich noch daran, wie die Mutter ihre Versunkenheit von hinten an der Schulter gepackt und vom Einschlummern weggeführt hatte, zum hinteren Ausgang Richtung Meer.

Vor allem aber wusste sie noch, was sie so hineingezogen hatte in das Innere dieses Wildledergeruchs, langsam und unausweichlich wie eine Sonnenfinsternis: Es war eine Sonne, die da lockte, ein herrlicher, lederner, wie die Antarktis weißer und geheimnisvoller, im Parkettglanz erstrahlender Volleyball.

XXIV

Schlimm war, dass sie nicht wusste, wo der Mensch aufhörte. Sie ahnte, dass das eigentlich gar nicht so schlimm war, dass es doch dann egal war, wer man war. Dass sie die Grenze nicht bemerken würde. Besser gesagt, wenn sie sie überschritten hätte, wäre es ihr längst egal. Aber genau da lag die Angst, weil man vollkommen wehrlos war – da half kein Schlagen oder Beißen. Oder vielleicht war die Angst doch ein bisschen woanders. Aber wem sollte man sagen, was sich nicht ausdrücken ließ? Wadja hörte ihr zu, verstand sie aber nicht. Verstand nicht, wie es schlimmer werden sollte als ohnehin schon. Und sie wusste es auch nicht.

Sie brauchte das Reden: dass man ihr etwas erzählte, sie nach etwas fragte. Ihr ganzes Leben lang hatte die Mutter mit ihr geredet. Immerzu. Hatte vorgelesen, gesprochen, erzählt, diskutiert. Hatte sie dazu gebracht, Bücher zu lesen. Nadja fiel das alles schwer. Sie konnte kaum antworten. Die Qual, sich auszudrücken, saß in ihr wie ein sengender, wunder Klumpen. Die Wörter existierten gleichsam getrennt von ihr. Sie behagten ihr nicht, weil sie nie dem ähnelten, was sie eigentlich waren.

Schlimm war, dass sie die Grenze nicht bemerkte. Wadja redete mit ihr. Er redete, hörte aber nicht zu – und wollte auch eigentlich gar nicht, dass sie redete. Er sang auch manchmal. Aber das reichte nicht. Es brauchte das systematische Vorgehen, mit dem die Mutter sie immer wieder aus dem Nichtsein herausgezerrt hatte.

Darin hatte das Leben der Mutter bestanden. Immer nach außen gerichtet: wie sie sprach und sich ausdrückte, wie sie mit der Tochter über alles und jeden redete. Über die Verwandten, übers Essen, über die Prüfungen, dass man schauen muss, wo man bleibt, und was für Menschen es gibt – gute, schlechte, gleichgültige. Sie wusste noch, was die Mutter ihr einmal gesagt hatte – sonst wusste sie fast nichts mehr:

»Mach einen Bogen um dünne Menschen[42]. Sie sind so dünn, weil sie wegen etwas traurig sind. Und das kann sich auf ihr Verhältnis zu dir auswirken.«

Mit viel Büffeln und zweimal Schmiergeld schafften sie und ihre Mutter die Aufnahmeprüfung am Technikum. Dort wurde sie ausgelacht, aber sie war gar nicht so schlecht. Die Lehrer zuckten die Achseln. Die Schüler, die zum Teil nicht einmal gut Russisch konnten, lachten trotzdem weiter, neckten sich nun aber gegenseitig: Die sei zwar bekloppt, habe aber bessere Noten als manch anderer.

Niemand wusste, dass sie alles, was sie lernte, am nächsten Tag vergessen hatte. Und dass sie für die Prüfungen noch einmal von vorne anfangen musste.

Ihr ganzes Leben bestand aus Lernen, aus der Jagd nach der Norm, nach dem Leben. Und sie nahm ihr Los an, ergeben und mit mechanischer Arglosigkeit.

XXV

Langsam vergaß Nadja ihre Mutter. Als die Mutter gestorben war, stand Nadja einfach auf und ging. Sie erinnerte sich nur noch an den Bahnhof. Wie sie den Bahnsteig auf und ab gelaufen war und gewimmert hatte. Sie hatte nichts sagen können, hörte nur immer sich selbst, ihr schreckliches Wimmern, und wurde allmählich taub.

Ein Milizionär kam, nahm sie am Arm, versuchte sie wegzuführen, fragte etwas … sie wimmerte.

Danach erinnerte sie sich an nichts mehr, an überhaupt nichts. Nicht an die Beerdigung, nicht an die Tante. Das Gedächtnis gab ihr erst viel später und stückchenweise die Vergangenheit zurück.

Alles begann mit den Äpfeln. Wie sie sie im Garten einsammelt, durch das nasse Gras kriecht, wie sie auf einem Apfel eine riesige Nacktschnecke entdeckt: schwarz glänzend, mit kleinen Fühlern, picklig wie eine Zunge.

Sie steckt die Schnecke in den Mund. Spürt den erstarrten, kalten Körper. Nimmt sie wieder heraus. Die Schnecke macht sich lang, zeigt die Fühlerchen. Aus irgendeinem Grund findet sie das lustig, lachend lässt sie sich ins Gras fallen, wird von einem Weinkrampf zerschmettert.

Alles begann damit, wie sie gierig, verzückt, schmatzend die Äpfel isst. Wie ein Pferd vorbeiläuft, zu ihr herüberschielt: Die Mähne wogt, Widerrist, Rücken, Kruppe fließen dahin. Wie der Huf aufstampft, wie unter dem schaukelnden Schweif Batzen dampfender Äpfel herauskommen und zerfallen.

Wie sie auf dem Markt in Toksowo Äpfel verkauft. Wie sie einen großen Apfel vom Stapel nimmt. Ihn in der hohlen Hand wiegt. Ihn anhebt und umdreht: Sie führt den Arm hin und her und schaut, leise lächelnd, darüber hinweg die Kunden an.

Woraufhin sie ihn langsam zum Mund führt, die Augen schließt und tief einatmet.

XXVI

Jetzt stumpfte sie ab, das wusste sie, weil sie den Verstand getrennt von sich wahrnahm. So wie jemand, bei dem die Koordination der Nervenenden verloren geht und der dann seine Glieder immer mehr als Fremdkörper empfindet.

Diese Geistesstörung hatte Farbe, Form und Stimme. Sie war ein großer grauer Vogel, von einem Stock zum Krüppel geschlagen. Der Vogel landete auf einem kräftigen Ast, der aus der rechten Schläfe wuchs, seufzte heiser und zog den zerschmetterten Flügel ein.

Das Denken fiel ihr immer schwerer. Der Vogel landete immer häufiger auf dem Ast, und sein Schatten im Augenwinkel wurde immer größer. Manchmal tat Nadja das Denken weh. Wenn es ihr ein ums andere Mal nicht gelingen wollte, eine Zahlenreihe zusammenzuzählen, biss sie sich ins Handgelenk, schlug sich auf die Hand, heulte tränenlos.

Aber sie beruhigte sich wieder, und dann trat Gleichgültigkeit in ihr Gesicht, schwere Teilnahmslosigkeit.

Die Schwachsinnigkeit durchdrang Nadja wie eine Starre. Dann kam es ihr vor, als wäre sie ein Strauch. Ein kleiner Strauch, versteinert im immerwährenden, dumpfen Schmerz. Als hätte sich die Welt rundum in Wind verwandelt, einen sanften oder kräftigen Wind, und nur er allein konnte den Strauch berühren, an ihm zupfen, ihn loslassen, biegen, umknicken.

Doch manchmal ging es besser. Dann füllte sie Seite um Seite mit Rechenreihen. Fürs Rechnen sammelte sie in den Geschäften die Kassenbons auf: Unten auf dem Bon stand die Lösung. Sie holte sich eine ganze Handvoll und addierte alle Einkäufe. Bedächtig, mit herausgestreckter Zunge, am Stift kauend. Schrieb die Lösungen auf und setzte zum Schluss ihren Namen darunter: Nadja. Nicht, dass sie Angst gehabt hätte, ihn zu vergessen, aber so war es leichter, sich mit diesen Zahlen in Beziehung zu setzen: dass wirklich sie dies getan hatte und kein anderer. Es passierte ihr auf Schritt und Tritt, dass sie vergaß, dass dieses Ding hier etwas mit ihr zu tun hatte. Dass sie das hier geschrieben hatte. Dass sie diese Anziehpuppe mit einem Messer ausgeschnitten hatte. Nadja. So hieß die Puppe. Hier stand es, auf dem kleinen Knie. Das war das Schwerste – Namen zu geben. Nadja kannte nur einen Namen: Mama.

Sie wusste nicht, wie weit sie sich schon entfernt hatte, dennoch fasste sie neuen Mut[43].

Aber die bezwungene Angst, die nun tiefer im Verborgenen steckte, wurde immer stärker.

XXVII

Einmal, als sie gerade alle gesammelten Kassenbons durchgerechnet hatte, erinnerte sie sich an etwas Besonderes. Sie war mit der Mutter in eine andere Stadt gefahren, um Mutters Freundin zu besuchen. Die Freundin war nicht zu Hause, also spazierten sie durch die Stadt, liefen durch den Uferpark und am Strand entlang, dann wieder zurück, aber immer noch machte niemand auf.

In der Nähe gab es ein Internat, und sie setzten sich auf eine Bank im Schulhof. Kinder liefen herum. Sie spielten ein Spiel. Nadja kannte es nicht. Die Kinder bestimmten einen, der dran war[44]. Sie sammelten Zweige im Hof zusammen. Legten ein kleines Brett schräg auf einen Ziegelstein. An dem einen Ende des Brettes häuften sie die Zweige auf. Ein Kind trat auf das Brett, und während der, der dran war, die rundum verstreuten Ästchen einsammelte, rannten die anderen in alle Richtungen davon. Als der Junge endlich alle Stöckchen wieder auf das Brett gelegt hatte, ging er los, um die anderen abzuschlagen. Allerdings konnte derjenige, hinter dem er her war, zum Brett rennen, drauftreten und wieder weglaufen, und dann musste er aufs Neue alle Stöckchen einsammeln. Kurz, das Spiel war für den, der dran war, die reinste Folter: Er musste das Holzbrett nach allen Seiten verteidigen. Nadja tat er leid – ein dicker, keuchender Junge, dessen Lippen sich beim Rennen vorwölbten, die Backen schlackerten, das Gesicht war verzerrt, als würde er weinen – ihr tat der Kopf weh.

Über dem Schulhof stieg Staub auf und legte sich langsam zu ihren Füßen nieder. Oben, in der Krone einer Akazie, gurrte eine Turteltaube. Ein Borkenkäfer, lackiert und gesprenkelt wie ein Stückchen Sternenhimmel, plumpste vom Baum herunter und zappelte jetzt heftig und kitzelig in Nadjas Hand.

Zwei Mädchen rannten dem Dicken davon und versteckten sich neben ihnen. Sie schnauften und greinten, kamen mal hinter der Bank hervor, liefen dann kreischend wieder zurück. Eines der Mädchen sah mehrmals zu Nadja hin, achtete dann aber, vom Spiel gebannt, wieder auf den Jungen.

Die Mutter sagte:

»Diese Kinder haben keine Eltern. Niemand achtet darauf, dass sie nach dem Unterricht die Schulkleidung ausziehen, sie tragen sie auch beim Spielen.«

»Mama, wo sind denn ihre Eltern?«

In diesem Moment kam das Mädchen hinter der Bank hervor und sah Nadja direkt ins Gesicht.

»Du bist bekloppt, stimmts?«

Der Dicke kam angerannt, schlug dem Mädchen auf die Schulter, das andere Mädchen kreischte auf, genau über Nadjas Ohr.

Alle stürmten davon.

Nadja verließ mit der Mutter den Schulhof. Es war an der Zeit, nachzusehen, ob Tante Alja nicht zurück war.

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