An diesem Morgen hielt er sich länger in seinem Büro auf. Er dankte seinen Mitarbeitern und sprach die Hoffnung aus, dass sie ihm auch die Treue bewahren würden, wenn die Arbeit sich verdoppeln und verdreifachen würde.
Ein Rechtspraktikant, der als Volontär mäßig bezahlt war, bat ihn um Gehaltsaufbesserung, sonst müsse er sich um eine andere Stellung bemühen, er habe seine alte Mutter zu erhalten. «Eine andere Stellung». fiel ihm Fabian ins Wort. «Und gerade jetzt, da die Praxis wieder aufblühen wird? Daraus wird nichts, mein Freund». Er bewilligte dem Volontär seine Bitte und gab ihm sofort den besonderen Auftrag, sich in die Materie Schellhammer gründlich einzuarbeiten. Er brauche eine zuverlässige Kraft, die in jeder Einzelheit beschlagen sei, er selbst habe ja nicht die Zeit dazu.
Einige Stunden erledigte er die dringendsten Arbeiten in seinem Büro, dann bat er Fräulein Zimmermann, ihn mit seinem Bruder Wolfgang in Jakobsbühl zu verbinden.
Wolf gang war in gereizter Laune. Er knurrte wütende Worte ins Telefon, sprach von Würdelosigkeit, Beschimpfung, Unverschämtheit und Anmaßung, so dass Fabian laut auflachen musste. «In der Französischen Revolution hätte man dir einfach den Kopf abgeschlage», rief er aus, was Wolfgang zu beruhigen schien. Man hatte ihn heute morgen in der Heiligengeistgasse eine volle Stunde warten lassen, was er skandalös fand, dann hatten ihm zwei Grünschnäbel einen unverschämten Vortrag über die Pflichten im Tausendjährigen Reich und allen möglichen Unsinn gehalten. Es ging etwas laut dabei her, und schließlich hatten sie ihm mit «Birkhol». gedroht. Mit einem Wort, Würdelosigkeit, Schamlosigkeit und Frechheit! Am Schluss hatten sie ihn mit einer Verwarnung entlassen.
Fabian versuchte ihn zu beruhigen. Heute oder morgen würden sie beide eine Flasche Wein im «Ster». zusammen trinken und die Welt durch das herrliche Rubinrot eines vollen Glases betrachten, nicht wahr?
Zur Mittagszeit verließ Fabian sein Büro. Langsam schlenderte er durch die Strassen. Er hatte die Absicht, sich zu Baurat Krieg zu begeben, um vielleicht etwas in der Angelegenheit Schellhammer zu erfahren, lief ihm aber zu seiner Überraschung auf dem Marktplatz in die Arme. Den Schlapphut in der Hand, mit fliegender Lavallierebinde, stürmte der Baurat am Narzissbrunnen vorbei, ohne jemand zu sehen, tief in Gedanken versunken. «Krieg». rief ihn Fabian an. «Zu Ihnen wollte ich gerade».
Der Baurat befand sich mitten in einer Pechserie, wie er klagte. Seine Frau und seine beiden Töchter, die Zwillinge, waren gestern abend nach Hamburg abgereist. Am Morgen musste er sein Frühstück allein kochen. Es war, um die Wände hinaufzuklettern.
Fabian ließ sein tröstendes Lachen hören und lud den Baurat ein, mit ihm Leberknödel in der «Kuge». zu essen.
Mit einem Pilsner und Leberknödeln sah Krieg seine Pechserie nicht mehr so hoffnungslos an, und Fabian brachte das Gespräch auf die Werke Schellhammer.
«Die Schellhammerschen Werke». Baurat Krieg bestellte sich ein neues Pilsner. «Die Werke Schellhammer». Ja, da wusste er mancherlei zu sagen. Sein Freund Schimmelpfeng, der Architekt, sei ja seit zwei Jahren Architekt bei Schellhammer. Schimmelpfeng habe ihm vor einigen Wochen den Entwurf einer neuen Werkhalle gebracht, um einige statische Schwierigkeiten mit ihm zu besprechen. Es wäre eine mächtige Werkhalle, nichts als Eisen und Glas.
«Sie bauen wohl». fragte Fabian, mit seinen Knödeln beschäftigt. Krieg nickte: «Es hat den Anschei», lachte er. «Drei solcher Riesenhallen wollen sie bauen».
«Drei».
«Ja, drei. Nichts als Eisen und Glas. Die beiden Schellhammer sind größenwahnsinnig geworden. Das Werk soll mehr als doppelt so groß werden. Vor einiger Zeit schwebten Verhandlungen um das Gut des alten Barons Metz am Nordrand der Stadt».
«Schwebten». fragte Fabian. «Finden Sie die Knödel nicht einfach wunderbar».
«Herrlich». nickte Krieg. «Ob man sich noch eine Portion bestellen kann? Ja, schwebten. Ob etwas daraus geworden ist, weiß ich nicht. Das Gut von Metz wäre ein herrlicher Platz für das neue Werk».
«Haben denn die Schellhammer so große Aufträge». fragte Fabian. Der Baurat lachte, dann blickte er sich argwöhnisch und vorsichtig um, beugte sich näher zu Fabian und sagte flüsternd: «Sie sollen jetzt mächtige Heeresaufträge haben, sagt man. Man weiß ja, dass die Schellhammer kürzlich eine halbe Million für politische Zwecke gezeichnet haben. Eine halbe Million, jedenfalls eine bedeutende Summe. Aber das bleibt unter uns, nicht wahr». Plötzlich sprang Krieg auf und zupfte einen vorübergehenden Herrn am Rock. «Herr Assessor». rief er fachend. «An unserem Tisch ist noch Platz».
Auch Fabian erhob sich. «Aber gewis», rief er und deutete auf seinen Stuhl. Er verabschiedete sich, da er dringend gehen müsse.
Auf der Straße winkte er ein Auto heran, das ihn nach dem nahen Dorf Amselwies bringen sollte.
XI
In dem sonnigen, stattlichen Dorf Amselwies, eine halbe Autostunde von der Stadt gelegen, befand sich das Landgut, das Sanitätsrat Fahle im Sommer bewohnte. Es hieß kurz «Amse».. Im Winter lebte er in seinem Haus am Rathausplatz. Er war Internist und Röntgenologe im städtischen Krankenhaus, ein ausgezeichneter Arzt und als Röntgenspezialist eine internationale Kapazität. Seine Röntgenograhme der Lunge hatten ihn in der ganzen Welt berühmt gemacht. In seinem Stadthause hatte er zwei Säle für röntgenologische Forschungen errichtet, ausgestattet mit den besten, zum Teil von ihm selbst erfundenen und konstruierten Apparaten der Welt, die häufig von bedeutenden Ärzten des In- und Auslandes in Anspruch genommen wurden. Er war wohlhabend und verdiente dazu mit seinen Büchern achtbare Summen, besonders in Amerika und England mit seinem Standardwerk «The secret of the x-rays[40]. Ganz nebenbei bemerkt, hatte er auch Wolfgang Fabians Narzissbrunnen der Stadt gestiftet. Er wollte ihn zuerst in seinem Landgut in Amselwies aufstellen, hatte sich aber später entschlossen, den Brunnen der Öffentlichkeit zum Geschenk zu machen.
Das Gut Amsel war jedermann in der Stadt bekannt, denn Fahle war sehr gastfreundlich, und seine Einladungen hatten Berühmtheit erlangt. Es war indessen nicht einfach, zugezogen zu werden, denn der Sanitätsrat liebte nur Menschen von Originalität und Rechtschaffenheit um sich. Frau Beate Lerche-Schellhammer fehlte bei keiner Einladung, ebenso Christa, die mit der Tochter Fahles, Marion, befreundet war. Doktor Krüger, der frühere Bürgermeister, war hier öfter zu Gast, Wolfgang Fabian, der Bildhauer, verkehrte häufig dort, er war vielleicht der einzige Mann in der Stadt, mit dem der Sanitätsrat wahrhaftig befreundet war. Als Wolfgangs Freund, Lehrer Gleichen, vor einem Jahr an die Dorfschule von Amselwies strafversetzt wurde, führte er ihn bei Fahle ein, und die beiden verstanden sich sofort. «Ein seltener Mensc», sagte der Sanitätsrat, «er beherrscht gleich zwei Dinge meisterhaft: Schweigen und Schachspielen». Die beiden spielten jeden Montagabend eine Partie Schach, und an diesem Abend durfte sie niemand stören.
Fabian selbst kam nur selten nach Amsel. Ein einziges Mal hatte ihn Clotilde begleiten dürfen, die vor Erstaunen völlig schweigsam wurde. «Warum hast du nicht solch einen Besitz». fragte sie erregt und blaß. «Da könnte man menschenwürdig leben». Tagelang kam sie nicht darüber hinweg. «Dieser Geschmack, diese Möbel! Wir leben ja im Vergleich dazu in einer Spelunke! Nun, hoffentlich lädt mich Fahle bald wieder ein». Aber der Sanitätsrat erwähnte ihren Namen nicht mehr.
Das Gebäude war ein ausgedehntes, sehr einfach gebautes Landhaus, das beim ersten Anblick enttäuschte, denn man erwartete, eine Art Schloss zu sehen. Im Grunde genommen, war es eigentlich nichts als eine einzige, durch alle Stockwerke gehende Bibliothek. Die einzelnen Räume waren eingerichtet mit meist alten, kostbaren Möbeln, die der Sanitätsrat im Laufe seines Lebens erworben hatte. Die Gasträume waren kleine Wohnungen, die mit jedem erdenkbaren Komfort ausgestattet waren. Hier hatten schon englische Lords, Nobelpreisträger, Mitglieder der französischen Akademie wiederholt viele Tage und Wochen gewohnt. In der Stadt erzählte man sich wahre Märchen von den Badezimmern, die aber alle übertrieben waren. Einmal ließ Rebekka, Hausdame und Wirtschafterin, Fabian, der sehr neugierig war, einen Blick hineinwerfen, und er fand, dass die Gasträume keineswegs über den Geschmack und Komfort erstklassiger Hotels hinausgingen. Das Haus selbst aber, ja natürlich, es war kein Kunststück, dass es jemand gefiel. «Clotilde hat recht, in solch einem Haus würde man menschenwürdig leben». sagte er zu sich.
Schöner und bestechender noch als das Haus war der Park, in dem es lag. Er bestand fast nur aus exotischen Sträuchern und Bäumen. Er war nicht groß, aber nach Art japanischer Gärten täuschte er Größe vor. Zu dem Landhaus gehörte ein ausgedehnter Obstgarten mit edlen und großgepflegten Bäumen, Treibhäusern und eine kleine Landwirtschaft. Das war die Welt, wo der Sanitätsrat sich wohl fühlte. Er verbrachte im Sommer jeden Vormittag von sechs Uhr an im Obstgarten bei seinen Bäumen, von deren Pflege er mehr verstand als ein Gärtner, und in der Landwirtschaft, die musterhaft geführt wurde. Der Sinn des Sanitätsrats ging nicht auf Reichtum, er war sogar dafür bekannt, dass er besondere Krankheitsfälle ohne jedes Honorar behandelte. Arme Frauen und Kinder hatte er häufig auf längere Zeit zur Rekonvaleszenz in einen Kurort geschickt.
In Amsel lebte der Sanitätsrat, der verwitwet war, mit seiner Tochter Marion, einer älteren Hausdame Rebekka und einigen Dienstboten. Rebekka war wie die Herrin im Hause. Sie hatte Marion von Kindheit an wie eine Mutter erzogen und wurde Mamuschka genannt.
Als Fabian nach kurzer Autofahrt vor Amsel ankam, vernahm er vom Hause her ein heiteres, herzliches Lachen, an dem er sofort die ausgelassene Heiterkeit Marions erkannte. Zur gleichen Zeit erblickte er auch Marion, die unter einem Busch auf einer Steinbank saß und mit einem kleinen weißen Kätzchen spielte, das auf ihrem schwarzen lockeren Haarschopf herumkletterte. Marion neckte das Kätzchen mit einem kleinen Zweig, nach dem das Kätzchen gierig hechelte. Als sie die Gartentüre hörte und Fabian erblickte, sprang sie sofort auf, ohne sich um das Kätzchen im geringsten zu kümmern, und kam ihm, noch das ausgelassene Lachen auf den Lippen, rasch entgegen.
«Herrlich, dass Sie kommen, Doktor». rief sie ihm zu und reichte ihm die Hand. Das Kätzchen glitt dabei über ihre Schulter auf den Weg herab und flüchtete eilig in die Büsche.
Marion war ein junges Mädchen von ungewöhnlicher Schönheit und Frische. Sie machte den Eindruck einer dunkelhäutigen Italienerin mit schwarzen Haarlocken und dunklen Augen, die wie Steinkohle aus dem bläulichen Weiß funkelten. Etwa zwanzig Jahre alt, trieb sie leidenschaftlich Sport. Sie galt als eine der vorzüglichsten Tennisspielerinnen der Stadt und gewann vor zwei Jahren das große Klubturnier. Ihr heiteres, herzliches Lachen war überall bekannt, es umflatterte sie Tag und Nacht wie bunte Schmetterlinge. Die Frische und Heiterkeit, mit der sie das Leben hinnahm, hatte sie in der ganzen Stadt beliebt gemacht. Natürlich war sie stets von einer Schar von Verehrern und Bewunderern umschwärmt. Auch der junge Oberleutnant Wolf von Thünen machte ihr vor Jahren auffällig den Hof[41]. Er war damals bis über die Ohren in sie verliebt und erzählte in dieser Zeit allen seinen Kameraden, dass er sich bald mit Marion verloben werde. Aber daran war nichts wahr.
«Papa freut sich ganz ungeheuer, dass Sie zu uns herauskomme», rief Marion aus, als sie Fabian zum Hause geleitete.
«Das Semester hat wohl noch nicht begonnen». begrüßte sie Fabian, der Marion seit Monaten nicht gesehen hatte. Marion studierte Medizin und wollte sich später als Röntgenologin im Institut ihres Vaters ausbilden. Das junge Mädchen errötete jäh. Wie eine Flamme schoss ihr das Blut in die Wangen, so dass sie jetzt noch mehr einer Italienerin ähnlich sah, die von der glühenden Sonne verbrannt war.
«O nei», stotterte sie, «o nein, mit dem Semester ist es diesmal nichts geworden». Sie brach unvermittelt ab und strich sich ordnend über das schwarze Haar, das das Kätzchen zerwühlt hatte. «Sie haben vergessen, dass ich zur Zeit als Hilfslehrerin in unserer Schule beschäftigt bi», fügte sie hinzu.
In diesem Augenblick wandte sie sich ab und ging voran ins Haus. «Sie erlauben, dass ich vorangeh», rief sie mit ihrer hellen Stimme. «Bitte, treten Sie ein. Papa wartet schon sehnsüchtig auf Sie». Fabian folgte ihr zögernd und betreten. Ihr jähes Erröten und die unerklärliche Hast hatten ihn erschreckt. In dieser Sekunde fiel ihm ein, dass er eine unverzeihliche Taktlosigkeit begangen hatte: Marion war ja Jüdin! Er hatte es im Moment völlig vergessen.
Welch unbegreifliche Torheit, die Frage nach dem Semesterbeginn! schoss es ihm durch den Kopf. Er errötete voller Beschämung und war glücklich, dass ihn niemand beobachtete.
Da hörte er Marions frische Stimme, die laut in die Halle hineinrief: «Mamuschka, Mamuschka». Er atmete auf, niemand hatte seine Verwirrung bemerkt.
Im gleichen Moment kam auch schon die Hausdame Rebekka aus einer Tür, gefolgt von einem Mädchen, das eine Schüssel voll ausgesuchter Birnen trug.
«Welch herrliche Birnen Sie da haben». rief Fabian aus.
«Es ist die Köstliche aus Charne», sagte Rebekka und presste Fabian herzlich die Hand, wobei sie ihm dankbar in die Augen blickte. Sie hielt seine Hand fest und liebkoste sie mit ihren weichen Händen.
«Haben Sie vielen Dank, dass Sie zu uns herauskommen. Wir sehen nur selten Menschen bei uns. Zuweilen kommt Ihr Bruder Wolfgang zu uns, jede Woche auch Herr Gleichen. Sonst aber haben uns alle vergessen».
«Ich werde Herrn Doktor Fabian bei Papa anmelden, Mamuschk», rief Marion und eilte durch die Diele. «Sie kennen ja den Weg, Papa ist oben auf der Terrasse». Leichtfüßig rannte sie die Treppe empor. Das weiße Kätzchen war ihr, ohne dass jemand es beobachtet hatte, gefolgt. Es flog hinter ihr her, kletterte blitzschnell auf ihren Rücken und ihren Kopf.
«Da ist Michel wieder, Mamuschk», schrie Marion lachend, und man hörte ihr Gelächter noch, als sie die Tür hinter sich schloss.
«Sie ist nichts als der reinste Übermut, diese Marion». sagte Rebekka und schüttelte verliebt den grauweißen Tituskopf[42].
Fabian folgte Marion durch das große Bibliothekszimmer, eine Art Saal, der nahezu das ganze Erdgeschoss einnahm. Er hatte auf drei Seiten bis zum Boden reichende Fenster, durch die eine Flut helles Licht aus dem Garten strömte. Die Wände waren bis oben mit Büchern angefüllt, eine breite bequeme Treppe, auf der soeben Marion verschwunden war, führte in die erste Etage empor. Sobald man diesen Raum betrat, fühlte man sich von der Ruhe und Feierlichkeit eines Museums umgeben, und Fabian überkam abermals sein alter Gedanke, wie wundervoll es sich hier denken ließ. Wiederum betrachtete er im Vorübergehen die vereinzelten Möbel, Schränke, Truhen. Sie waren alle gediegen und erlesen, ohne prächtig zu sein. Ihr Zauber, wie der des ganzen Hauses, bestand in ihrer Gediegenheit und Vollendung. In allen Dingen hatte Fahle Pracht und Prunk vermieden.