Sie knipste die Nachttischlampe an, fuhr den Laptop hoch und checkte ihre Emails. Sie hatte nur eine neue Mail, und die kam von Director Durans Assistentin Nancy Saunders. Die hatte einen Agent beauftragt, die Nobilini-Akte auszubuddeln, welche ihr kurz vor Mitternacht gemailt wurde.
Sie wusste, dass sie auf keinen Fall wieder fest einschlafen würde, deshalb ging sie die einzelnen Akten, die sich als Anhang der Email befanden, durch. Ihr war etwas mulmig dabei zumute, als ihr klar wurde, dass sie das alles als natürlich empfand und wie vertraut ihr diese alten Akten waren. Kate ging sie zuerst nur oberflächlich durch, wie jemand, der an einen alt bekannten Ort zurückkehrt und sich erst einmal nur umschaut, bevor er alles genau in Augenschein nimmt. Nachdem sie die letzte der sechsundzwanzig Seiten überflogen hatte, fing sie von vorne an. Aber bevor sie sich eingehender damit befasste, durchquerte sie das Hotelzimmer und setzte sich eine kleine Kanne Kaffee auf, die dort für den Gast bereit gestellt war. Während der Kaffee durchlief, machte sie ihr Bett, stellte den Laptop auf den kleinen Tisch an der hinteren Wand und richtete sich einen kleinen Arbeitsplatz ein.
Fünf Minuten darauf, las sie – mit einer Tasse dunklem, billigem Kaffee in der Hand – die Akten aufmerksam Zeile für Zeile durch. Die Darlegung des Nobilini-Falls kam ihr wie ein alter Bekannter vor; die Art von Bekannten, der mit schlechten Nachrichten kommt. Die Akten gaben jedes Gespräch, das sie mit Noblinis Nachbarn und Freunden in Ashton geführt hatte, detailliert wieder. Als sie sie durchlas, war sie erstaunt, wie sehr sich die Gespräche mit denen ähnelten, die sie bisher im Fall Jack Tucker geführt hatte.
Damals im Nobilini-Fall war der einzig brauchbare Hinweis von der zweiundzwanzigjährigen Alice Delgado gekommen, die sich in ihrer Funktion als Nanny in Ashton um zwei Kinder im Alter von acht und elf Jahren gekümmert hatte. Alice hatte zugegeben, sich an Frank Nobilini herangemacht zu habe, als sie sich in einem Park begegneten. Frank war geschmeichelt gewesen, hatte aber höflich abgelehnt. Obwohl es bei dieser einen Begegnung geblieben war, hatte Alice, nachdem sie von Franks Tod erfuhr, ein solch schlechtes Gewissen, dass sie Jennifer Nobilini kontaktierte und ihr gestand, ihren Mann angebaggert zu haben. Jennifer, die liebende und scheinbar unfehlbar Ehefrau, hatte ihr sofort vergeben.
Abgesehen von dieser einen Begebenheit hatte es nichts gegeben. Es hatte sich nichts aus den Gesprächen ergeben und auch am Tatort und bei Nobilini zuhause gab es keinerlei Hinweise. Sowohl Frank als auch Jennifer Nobilini hatten weiße Westen. Sie waren noch niemals kriminell aufgefallen, hatten keine nennenswerten Feinde… nichts.
Sechs Monate blieb Kate an dem Fall dran, bevor sie sozusagen einen Schritt zurück trat und den Fall dann noch weitere acht Monate als Zweitprojekt im Hintergrund bearbeitete. Dann wurde der Fall vollends aufgegeben. Es war nicht nur der einzige ungelöste Fall ihrer Karriere, sondern auch derjenige mit den meisten Ungereimtheiten.
Während sie las, bemühte sie sich, Jack Tuckers Tod mit den Details im Nobilini-Mord in Bezug zu setzen. Und je mehr sie las und sich mit dem Fall vertraut machte, desto sicherer war sie sich, dass Jacks Mord mit Franks zusammenhing. Entweder handelte es um einen Trittbrettfahrer, oder hier war derselbe Killer am Werk.
Es war schon morgens um 4:10 Uhr, als sie schließlich meinte, sich ausreichend mit den Fakten vertraut gemacht zu haben. Gedankenverloren starrte sie ihre zweite Tasse Kaffee an, bevor sie langsam nach ihrem Handy griff. Sie rief die Nummer des FBI an, die rund um die Uhr besetzt war. Tagsüber war dies der umständliche Weg, aber um diese Uhrzeit blieb ihr nichts anderes übrig.