Kat hatte versprochen, die Bänder der letzten Besuche von Crutchfield zu überprüfen, um zu sehen, ob sie etwas übersehen hatten. Sie bot Jessie ebenfalls an, sie nach ihrer Arbeit nach DTLA zu begleiten, um ihre sichere Ankunft zu gewährleisten, und das, obwohl sie im entfernten Industriegebiet wohnte. Jessie lehnte das Angebot höflich ab.
„Ich kann nicht davon ausgehen, dass ich von nun an überall, wo ich hingehe, eine bewaffnete Eskorte dabei habe“, sagte sie.
„Warum nicht?“ fragte Kat nur halb scherzhaft.
Jetzt, da sie den Flur zu ihrer Wohnung entlang ging, fragte sie sich, ob sie das Angebot ihrer Freundin hätte annehmen sollen. Sie fühlte sich jetzt, mit den Einkaufstüten, besonders verletzlich. Der Flur war mucksmäuschenstill und sie hatte seit dem Betreten des Gebäudes niemanden mehr gesehen. Plötzlich machte sich eine verrückte Vorstellung in ihrem Kopf breit: Ihr Vater hatte alle in ihrem Stockwerk getötet, damit er mit keinen Komplikationen rechnen musste, wenn er sich ihr näherte.
Das Licht um ihren Spion war grün, was ihr eine gewisse Sicherheit gab, als sie die Tür öffnete und zur Sicherheit nochmal in beide Richtungen schaute, für den Fall, dass jemand überraschend auftauchte. Niemand war da. Sobald sie drinnen war, schaltete sie die Lichter an und drehte dann alle Schlösser um, bevor sie beide Alarme entschärfte. Unmittelbar danach stellte sie den Alarm auf “Home“-Modus, so dass sie sich in der Wohnung bewegen konnte, ohne die Bewegungssensoren zu aktivieren.
Sie legte die Einkaufstaschen auf die Küchenzeile und durchsuchte ihre Wohnung – mit einem Schlagstock in der Hand. Sie hatte vor ihrer Abreise nach Quantico erfolgreich eine Waffengenehmigung beantragt und sollte morgen in der Arbeit ihre Waffe bekommen. Ein Teil von ihr wünschte sich, sie hätte sie bereits abgeholt, als sie am Morgen ihre Post geholt hatte. Als sie sich endlich sicher war, dass die Wohnung sauber war, begann sie, die Lebensmittel wegzuräumen und ließ das Sushi auf der Theke stehen, die sie anstelle von Pizza fürs Abendessen gekauft hatte.
Nichts geht über Supermarkt-Sushi am Montagabend, um sich als Single-Frau in der Großstadt besonders zu fühlen.
Der Gedanke ließ sie kurz vor sich hin schmunzeln, bevor sie sich daran erinnerte, dass ihrem Serienmördervater ein Wegweiser zu ihrem Wohnort gegeben worden war. Vielleicht war es keine vollständige Wegbeschreibung. Aber nach dem, was Crutchfield gesagt hatte, reichte es aus, dass er sie schließlich irgendwann finden könnte. Die große Frage war: Wann war “irgendwann“?
* * *
Neunzig Minuten später schlug Jessie auf einen Sandsack ein und Schweiß tropfte von ihrem Körper. Nachdem sie ihr Sushi gegessen hatte, hatte sie sich unruhig und eingesperrt gefühlt und beschlossen, ihre Frustrationen im Fitnessstudio konstruktiv loszuwerden.
Sie war noch nie ein großer Trainingsfanatiker gewesen. Aber während ihres Aufenthalts bei der Nationalen Akademie machte sie eine unerwartete Entdeckung. Wenn sie bis zur Erschöpfung trainierte, war in ihr kein Platz mehr für die Angst und den Schrecken, die sie den Rest der Zeit so sehr in Anspruch nahmen. Wenn sie das nur vor einem Jahrzehnt gewusst hätte, hätte sie sich Tausende von schlaflosen Nächten ersparen können, selbst die Nächte voller endloser Alpträume.
Es hätte ihr auch ein paar Sitzungen mit ihrer Therapeutin, Dr. Janice Lemmon, einer renommierten forensischen Psychologin, ersparen können. Dr. Lemmon war einer der wenigen Menschen, die jedes Detail über Jessies Vergangenheit wussten. Sie war in den letzten Jahren eine unbezahlbare Stützte gewesen.
Aber sie war derzeit in Genesung von einer Nierentransplantation und stand noch für ein paar weitere Wochen nicht für Sitzungen zur Verfügung. Jessie war versucht zu denken, dass sie ganz auf die Besuche verzichten könnte. Aber während es zwar preiswerter sein würde, nur eine Therapie im Fitnessstudio zu machen, wusste sie, dass es sicher Momente geben würde, in denen sie die Ärztin aufsuchen musste.
Als sie eine Reihe von Klimmzügen machte, erinnerte sie sich daran, wie sie vor ihrer Reise nach Quantico oft schweißgebadet aufwachte, schwer atmete und versuchte, sich daran zu erinnern, dass sie in Los Angeles sicher war und sich nicht in einer kleinen Hütte in den Missouri Ozarks, an einen Stuhl gefesselt, befand und beobachtete, wie Blut von dem langsam erstarrenden Körper ihrer toten Mutter tropfte.
Wenn das nur auch lediglich ein Traum gewesen wäre. Aber es war alles echt. Als sie sechs Jahre alt war und die Ehe ihrer Eltern in die Brüche ging, hatte ihr Vater sie und ihre Mutter in seine abgelegene Hütte gebracht. Dort enthüllte er, dass er seit Jahren Menschen entführt, gefoltert und getötet hatte. Und dann tat er dasselbe mit seiner eigenen Frau, Carrie Thurman.
Jessie – damals noch Jessica Thurman – musste zusehen, wie er ihre Hände an den Deckenbalken der Hütte festband und mit einem Messer auf sie einstach. Er fesselte sie an einem Stuhl und klebte ihre Augenlider auf, als er ihre Mutter aufschlitzte und sie schließlich tötete.
Dann benutzte er das gleiche Messer, um eine große Wunde auf dem Schlüsselbein seiner eigenen Tochter von ihrer linken Schulter bis hin zu ihrem Hals zurückzulassen. Danach verließ er einfach die Hütte. Erst drei Tage später wurde sie völlig unterkühlt und unter Schock von zwei Jägern entdeckt, die zufällig vorbeikamen.
Nachdem sie sich erholt hatte, erzählte sie der Polizei und dem FBI die Geschichte. Aber bis dahin war ihr Vater schon lange verschwunden und damit auch jede Hoffnung, dass er geschnappt werden könnte. Jessica wurde bei den Hunts in Las Cruces unter Zeugenschutz gestellt. Jessica Thurman wurde zu Jessie Hunt und ein neues Leben begann.
Jessie verdrängte die Erinnerungen aus ihrem Kopf und wechselte von Klimmzügen zu Knietritten, die für die Leiste eines Angreifers bestimmt waren. Sie unterdrückte die Schmerzen in ihrem Bauch, als sie nach vorne trat. Mit jedem Schlag verblasste das Bild der blassen, leblosen Haut ihrer Mutter.
Dann tauchte eine weitere Erinnerung in ihrem Kopf auf, die ihres ehemaligen Ehemanns Kyle, der sie in ihrem eigenen Haus angegriffen und versucht hatte, sie zu töten und ihr den Mord an seiner Geliebten anzuhängen. Sie konnte fast den Stoß des Kaminschürhakens spüren, den er in die linke Seite ihres Bauches gerammt hatte.
Der körperliche Schmerz dieses Moments wurde nur durch die Erniedrigung noch verstärkt, dass sie ein Jahrzehnt lang mit einem Soziopathen zusammen gewesen war und es nie bemerkt hatte. Schließlich sollte sie eine Expertin darin sein, diese Art von Menschen zu identifizieren.
Jessie machte weiter und hoffte, die Scham mit einer Reihe von Ellbogenschlägen auf den Sandsack loszuwerden. Ihre Schultern begannen, sie unzufrieden anzuschreien, aber sie schlug weiterhin auf den Sack ein, in dem Wissen, dass ihr Verstand bald zu müde sein würde, um verzweifelt zu sein.
Das war der Teil von ihr, von dem sie nicht erwartet hatte, ihn beim FBI zu entdecken – der körperlich knallharte Arsch. Trotz der üblichen Besorgnis, die sie bei ihrer Ankunft verspürte, hatte sie vermutet, dass sie auf der akademischen Seite gut abschneiden würde. Sie hatte gerade die letzten drei Jahre in diesem Umfeld, in der Kriminalpsychologie, verbracht.
Und sie hatte Recht. Die Kurse in Recht, Forensik und Terrorismus waren einfach gewesen. Sogar das Seminar zur Verhaltensforschung, bei dem die Instruktoren ihre Vorbilder waren, und sie dachte, sie wäre nervös, war einfach. Aber es waren die Kurse für körperliche Fitness und vor allem das Selbstverteidigungstraining, in denen sie sich selbst am meisten überrascht hatte.
Ihre Ausbilder hatten ihr gezeigt, dass sie mit 1,77 und 70 Kilo die physische Größe hatte, um es mit den meisten Tätern aufzunehmen, wenn sie richtig vorbereitet war. Sie würde wahrscheinlich nie die Nahkampffähigkeiten eines ehemaligen Spezialeinheiten-Veteranen wie Kat Gentry beherrschen. Aber sie verließ das Programm zuversichtlich, dass sie sich wohl in den meisten Situationen verteidigen könnte.
Jessie zog die Handschuhe aus und ging zum Laufband. Als sie auf die Uhr blickte, sah sie, dass es kurz vor 20 Uhr war. Sie entschied, dass ein solider Zehn-Kilometer-Lauf sie genügend erledigen sollte, dass sie heute Nacht alptraumfrei schlafen könnte. Das war eine Priorität, da sie morgen wieder zu arbeiten begann. Sie wusste, dass alle ihre Kollegen von ihr erwarten würden, dass sie jetzt eine Art FBI-Superheldin ist.
Sie stellte den Timer auf vierzig Minuten ein und übte Druck auf sich selbst aus, um die zehn Kilometer in einem Tempo von vier Minuten pro Kilometer zu absolvieren. Dann stellte sie die Lautstärke an ihren Kopfhörern hoch. Als die ersten Sekunden von Seals «Killer» zu spielen begannen, verschwanden ihre Gedanken und sie konzentrierte sich nur auf die Aufgabe vor ihr. Sie nahm den Titel des Songs und die persönlichen Erinnerungen, die er hervorrufen könnte, überhaupt nicht mehr wahr. Sie spürte nur den Beat und ihre Beine machten in Harmonie mit. Sie verspürte Frieden.
Kapitel acht
Eliza Longworth eilte so schnell wie möglich zu Pennys Haustür. Es war fast 8 Uhr morgens, die Zeit, zu der normalerweise ihre Yogalehrerin auftauchte.
Es war eine weitgehend schlaflose Nacht gewesen. Erst im Morgengrauen hatte sie das Gefühl, den Weg zu kennen, den sie gehen musste. Als die Entscheidung getroffen war, fühlte Eliza, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel.
Sie schrieb Penny eine SMS, um ihr zu sagen, dass die lange Nacht ihr Zeit zum Nachdenken gegeben hatte, und um darüber nachzudenken, ob das Beenden ihrer Freundschaft vielleicht zu voreilig gewesen war. Sie sollten die Yogastunde machen. Und dann, nachdem ihre Lehrerin Beth gegangen war, könnten sie versuchen, einen Weg zu finden, mit dem Vorfall umzugehen.
Penny hatte nicht geantwortet, aber das hielt Eliza nicht davon ab, trotzdem zu ihr zu fahren. Gerade als sie die Haustür erreichte, sah sie Beth die kurvenreiche Straße hinauffahren und winkte ihr zu.
„Penny!“ schrie sie, als sie an die Tür klopfte. „Beth ist hier. Steht Yoga noch?“
Es kam keine Antwort, also drückte sie die Klingel und winkte mit den Armen vor der Kamera.
„Penny, kann ich reinkommen? Wir sollten kurz reden, bevor Beth kommt.“
Es kam immer noch keine Antwort und Beth war nur noch etwa hundert Meter entfernt, also beschloss sie, einfach hineinzugehen. Sie wusste, wo der Schlüssel versteckt war, versuchte es aber trotzdem an der Tür. Sie war offen. Sie trat ein und ließ die Tür für Beth offen.
„Penny“, rief sie. „Die Tür war offen. Beth kommt gerade. Hast du meine Nachricht bekommen? Können wir eine Minute unter vier Augen reden, bevor wir anfangen?“
Sie ging ins Foyer und wartete. Es kam immer noch keine Antwort. Sie ging ins Wohnzimmer, wo sie normalerweise die Yogastunden hatten. Es war auch leer. Sie wollte gerade in die Küche gehen, als Beth hereinkam.
„Meine Damen, ich bin hier!“ rief sie von der Haustür aus.
„Hey, Beth“, sagte Eliza und drehte sich um, um sie zu begrüßen. „Die Tür war offen, aber Penny antwortet nicht. Ich weiß nicht, was los ist. Vielleicht hat sie verschlafen oder ist im Badezimmer oder so. Ich kann oben nachsehen. Nimm dir einfach schonmal etwas zu trinken. Ich bin sicher, dass sie gleich soweit ist.“
„Kein Problem“, sagte Beth. „Mein halb zehn Kunde hat abgesagt, also habe ich es nicht eilig. Sag ihr, sie soll sich Zeit lassen.“
„Okay“, sagte Eliza, als sie die Treppe hochging. „Gib uns nur eine Minute.“
Sie war etwa auf halbem Weg die erste Treppe hinauf, als sie sich fragte, ob sie vielleicht den Aufzug hätte nehmen sollen. Das Schlafzimmer befand sich im dritten Stock und sie war von dem Aufstieg nicht gerade begeistert. Bevor sie sich ernsthaft Gedanken darüber machen konnte, hörte sie einen Schrei von unten.
„Was ist los?“ schrie sie, als sie sich umdrehte und wieder nach unten eilte.
„Beeil dich!“ schrie Beth. „Lieber Gott, beeil dich!“
Ihre Stimme kam aus der Küche. Eliza begann zu laufen, als sie am Ende der Treppe ankam. Sie durchquerte das Wohnzimmer und bog um die Ecke.
Penny lag in einer riesigen Blutlache auf dem gefliesten Küchenboden. Ihre Augen waren offen, ihr Körper steif und verkrampft.
Eliza eilte zu ihrer ältesten, liebsten Freundin hinüber und rutschte auf der Flüssigkeit aus, als sie sich näherte. Sie landete mit dem ganzen Körper auf dem Boden, das Blut spritzte.
Sie versuchte, nicht zu würgen, kroch hinüber und legte ihre Hände auf Pennys Brust. Selbst mit angezogener Kleidung war sie kalt. Trotzdem schüttelte Eliza sie, als ob sie das aufwecken könnte.
„Penny“, bettelte sie, “wach auf.“
Ihre Freundin antwortete nicht. Eliza sah zu Beth auf.
„Weißt du, wie man wiederbelebt?“, fragte sie.
„Nein“, sagte die jüngere Frau mit zitternder Stimme und schüttelte den Kopf. „Aber ich denke, es ist zu spät.“
Eliza ignorierte den Kommentar und versuchte, sich an den Erste Hilfe-Kurs zu erinnern, den sie vor Jahren belegt hatte. Er war für Kinder, aber es sollten die gleichen Grundsätze gelten. Sie öffnete Pennys Mund, neigte ihren Kopf nach hinten, drückte ihre Nase und blies in die Kehle ihrer Freundin.
Dann kletterte sie auf Pennys Taille, legte eine Hand mit den Handflächen nach unten auf die andere und drückte ihren Handrücken nach unten auf Pennys Brustbein. Sie tat es ein zweites und dann ein drittes Mal und versuchte, in einen Rhythmus zu kommen.
„Oh Gott“, hörte sie Beth murmeln und sah auf, um zu sehen, was los war.
„Was ist los?“, fragte sie verzweifelt.
„Wenn du auf sie drückst, sickert Blut aus ihrer Brust.“
Eliza sah nach unten. Es war wahr. Jede Kompression verursachte ein langsames Auslaufen von Blut aus scheinbar breiten Wunden in ihrer Brust. Sie sah wieder auf.
„Ruf den Notruf!“ schrie sie, obwohl sie wusste, dass es keinen Sinn machte.
* * *
Jessie, die sich unerwartet nervös fühlte, ging früh zur Arbeit.
Mit all den zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen, die sie getroffen hatte, hatte sie beschlossen, an ihrem ersten Arbeitstag in drei Monaten zwanzig Minuten früher loszufahren, um sicherzustellen, dass sie um 9 Uhr ankam – die Zeit, zu der sie laut Polizeipräsident Decker da sein sollte. Aber sie musste besser darin geworden sein, all die versteckten Kurven und Treppenhäuser zu bewältigen, weil es nicht annähernd so lange dauerte, zum Revier zu gelangen, wie sie erwartet hatte.
Als sie vom Parkhaus zum Haupteingang des Reviers ging, huschten ihre Augen hin und her und suchten nach Ungewöhnlichem. Aber dann erinnerte sie sich an das Versprechen, das sie sich selbst gegeben hatte, kurz bevor sie am Abend zuvor eingeschlafen war. Sie würde nicht zulassen, dass die Drohung ihres Vaters sie beeinflusste.
Sie hatte keine Ahnung, wie vage oder spezifisch die Informationen, die Bolton Crutchfield ihrem Vater gegeben hatte, waren. Sie wusste nicht einmal, ob Crutchfield ihr die Wahrheit sagte. Trotzdem gab es nicht viel mehr, was sie dagegen tun konnte, als sie es bereits tat. Kat Gentry überprüfte die Bänder von Crutchfields Besuchen. Sie lebte im Grunde genommen in einem Bunker. Sie würde heute ihre offizielle Waffe bekommen. Darüber hinaus musste sie ihr Leben leben. Sonst würde sie verrückt werden.