„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie.
DeMarco stellte sich und Kate vor und, nachdem sie sich ausgewiesen hatten, betätigte die Frau einen Türsummer am hinteren Ende der Lobby. Sie traten durch eine Tür, hinter der die Frau sie in Empfang nahm und sie einen schmalen Flur entlang führte, an deren Ende sie eine Doppeltür aufstieß, die in die Produktionshalle von Biltmore Threads führte. Mehrere Webrahmen und andere große Maschinen, die Kate noch nie zuvor gesehen hatte, ratterten vor sich hin. Am anderen Ende der Halle transportierte ein großer Gabelstapler eine Palette mit Stoffen ins Lager.
Sie gingen mit Vorsicht an der Wand der Halle entlang bis die Frau vor einer Tür Halt machte und sie dann hindurchführte. Sie standen in einem Flur, von dem fünf Räume abzweigten. Die Frau ging auf die erste Tür zu und klopfte an.
„Ja?“, donnerte eine Männerstimme von drinnen.
„Wir haben Besucher“, sagte die Frau, ohne die Tür zu öffnen. „Zwei Damen vom FBI.“
Es herrschte ein Moment Stille, bevor die Tür von innen geöffnet wurde. Dort stand ein dunkelhaariger Mann mit dicker Brille. Sein Blick wanderte an Kate und DeMarco auf und ab, weniger aus Nervosität heraus, sondern eher neugierig.
„FBI?“, fragte er. „Was kann ich für Sie tun?“
„Haben Sie eine Minute Zeit?“, fragte Kate.
„Sicher“, antwortete er, ging einen Schritt zur Seite und ließ sie in sein Büro eintreten.
Abgesehen von seinem Bürostuhl gab es nur einen einzigen anderen Stuhl in dem Raum. Weder Kate noch DeMarco setzten sich. Auch der dunkelhaarige Mann setzte sich nicht, sondern blieb bei ihnen stehen.
„Ich nehme an, Sie sind einer der Vorgesetzten?“, fragte Kate.
„Ich bin der Regionalmanager und Leiter der Tagesschicht, ja“, antwortete er und streckte ihnen schnell seine Hand entgegen; als sei er verlegen, dass er dies nicht schon früher getan hatte. „Ray Garraty.“
Kate gab ihm die Hand und zeigte ihm ihren Ausweis. Dann griff sie in die Tasche und zog das Plastiktütchen mit dem Stofffetzen, das vom Nash-Tatort stammte, hervor.
„Dies ist ein Stofffetzen, der kürzlich an einem Tatort gefunden wurde“, begann sie. „Und wir glauben, dass er elementar ist, um dem Killer auf die Spur zu kommen. Das Labor hat darin Bambuswolle gefunden, und soweit ich unterrichtet bin, verwendet Biltmore Threads regelmäßig eben solche Bambuswolle in seinen Produkten.“
„Ja, das tun wir“, sagte Garraty. Er griff nach dem Tütchen, zögerte und fragte, „darf ich?“
Kate übergab ihm das Tütchen. Garraty betrachtete es sehr genau und nickte dann. „Ohne es weiter zu zerreißen, kann ich natürlich keine Garantien geben, aber ja, hier scheint Bambuswolle drin zu sein. Wissen Sie, woher der Fetzen stammt?“
„Von einer Decke, nehme ich an.“
„Ja. Sieht so aus“, stimmte Garraty zu. „Und obwohl ich natürlich nicht sicher sein kann, sieht es so aus, als sei sie hier entworfen und produziert worden.“
„Hier bei Biltmore Threads?“, fragte Kate.
„Sehr gut möglich.“
Garraty gab Kate das Tütchen zurück und ging dann zu einem alten Aktenschrank in der Ecke seines kleinen Büros. Er öffnete die untere Schublade und zog nach einigem Suchen zwei Bücher heraus. Beide waren recht groß. Während er anfing, in dem einen zu blättern, sah Kate, dass es sich um Produktkataloge handelte.
„Farbe und Beschaffenheit kann man ähnlich erscheinen lassen“, erklärte er, während er weiter blätterte. „Wenn die Decke hier hergestellt wurde, ist sie in einem dieser Bücher abgebildet.“
Der Gedanke erregte Kate, aber sie war sich noch nicht ganz sicher, was dies bedeutete. Falls die Decke wirklich von Biltmore Threads hergestellt worden war, eröffnete dies denn überhaupt neue Möglichkeiten? Bevor man zu solch einer Schlussfolgerung gelangen konnte, mussten noch viele weitere Fragen gestellt und beantwortet werden.
„Hier“, sagte Garraty, drehte das Buch zu ihnen und wies auf eine von vielen verschiedenen Decken auf einer Seite im hinteren Teil des Buches. „Sieht das für Sie passend aus?“
Kate und DeMarco betrachteten die Seite. Sie blickte zwischen dem Stofffetzen und dem Bild hin und her, um sicherzugehen, dass sie sich nichts einbildete. Aber nach einigen Sekunden antwortete schon DeMarco.
„Ich meine, der Fetzen, den wir haben, ist ausgeblichen, aber es passt. Trotz des verblichenen weißen Karomusters.“
„Es ist verblichen, weil es ein altes Produkt ist“, sagte Garraty. Er zeigte auf die Produktbeschreibung. „Hier steht, dass es ab 1991 produziert wurde, und dass 2004 die Produktion eingestellt wurde.“
„Diese Decke wurde also dreizehn Jahre lang produziert?“, fragte DeMarco.
„Ja, es war ein sehr beliebtes Produkt, deshalb habe ich es auch gleich erkannt.“
„Das heißt, das letzte Mal, dass solch eine Decke ihr Lager verlassen hat, war 2004“, meinte Kate. „Also ist unser Fetzen zwischen fünfzehn und dreißig Jahre alt.“
„Korrekt.“
Also, selbst wenn die Decke eine Verbindung darstellt, macht es das dreißigjährige Zeitfenster extrem schwierig, dachte Kate.
„Mr. Garraty, wie lange sind Sie schon in dieser Position beschäftigt?“
„Fast sechsundzwanzig Jahre“, antwortete Garraty. „Nächstes Jahr gehe ich in Rente.“
„Während Ihrer Zeit hier, hatte Biltmore Threads jemals Angestellte namens Scott oder Bethany Langley, oder Toni und Derrick Nash?“
Garraty überlegte einen Moment und zuckte dann mit den Schultern. „Die Namen sagen mir nichts, aber wenn es hier um einen Zeitrahmen von mehr als zehn Jahren geht, würde ich Sie an die Personalabteilung verweisen. Wir haben eine große Fluktuation, was Angestellte angeht.“
„Wie bald können Sie uns eine konkrete Antwort geben?“, fragte DeMarco.
„Innerhalb einer Stunde.“
„Das wäre hilfreich“, sagte Kate. „Eine Frage hätten wir noch. Gab es einen Angestellten, der der Firma innerhalb des letzten Monats Ärger gemacht hat? Einen Störenfried, oder jemanden, den Sie oder das Management aus irgendeinem Grunde im Auge behalten haben?“
„Wo Sie das nun gerade ansprechen…“, sagte Garraty. „Vor zwei Wochen musste ich einen Arbeiter entlassen. Er ist stoned zur Arbeit erschienen und wir sind sicher, dass er auch Material gestohlen hat. Als ich ihn konfrontiert habe, ist er handgreiflich geworden, und ich musste die Security rufen. Und da wir nur einen Security-Mann haben, musste ich auch die Polizei involvieren und der Mann wurde verhaftet. Aber am nächsten Tag war er schon wieder draußen.“
„Material gestohlen?“, fragte DeMarco mit einem Anflug von Erregung in der Stimme.
„Ja… aber nicht das da“, sagte Garraty und zeigte auf das Plastiktütchen. „Da die Produktion eingestellt wurde, haben wir den Stoff seit Jahren nicht mehr auf Lager gehabt. Später, als sich der Mann beruhigt hatte, kam er nochmal vorbei und sagte, dass er das Material für irgendein Projekt seiner Freundin gestohlen hatte. Sie hat einen online-Shop oder so etwas.“
„Wie lautet der Name des Mannes?“, fragte Kate.
„Travis Rogers. Er ist ungefähr dreißig Jahre alt. Hat eine kriminelle Akte, glaube ich, irgendwas leicht gewalttätiges. Aber wir hier bei Biltmore Threads geben den Leuten gern eine zweite Chance.“
„Ist er aus der Gegend?“, fragte DeMarco.
„Ja, aus Whip Springs. Ich kann Ihnen seine Adresse besorgen.“
„Das wäre eine große Hilfe“, sagte Kate.
Garraty begleitete sie aus seinem Büro und den gleichen Weg zurück, den sie vorher mit der Rezeptionistin gekommen waren. Als sie wieder in der Lobby ankamen, sprach Garraty mit der Rezeptionistin, während sich Kate und DeMarco nahe der Lobbytüren aufhielten.
„Dass die Decke hier hergestellt wurde…“, begann DeMarco. „Das kann doch nicht nur ein unheimlicher Zufall sein?“
„Könnte sein. Ich tendiere dahin. Allerdings, man muss sich schon fragen…“
„Was muss man sich fragen?“
„Egal woher die Decke stammt, wir wissen, dass sie alt ist. Mindestens fünfzehn Jahre, und vielleicht sogar bis zu dreißig. Wenn das also der Fall ist, dann hat jemand sie so lange aufbewahrt. Warum sollte man so etwas so lange aufbewahren, wenn es nicht irgendeine Bedeutung für einen selbst hat?“