Sie eilte zum Parkhaus und stieg in ihr Auto. Hier angekommen, verfiel sie erneut in einen aufgeregten Teenager-Modus. Was, wenn sie aus irgendeinem Grund in ihrem Auto landeten. Es war ziemlich schmutzig – wenn man bedachte, dass sie es nicht gesäubert hatte, seit sie sich von Steven getrennt hatte. Und während sie so an Steven dachte, wurde ihr klar, dass genau das der Grund war, weshalb es sich für sie so unangenehm anfühlte, sich wieder in die Dating-Welt zu begeben. Vor Steven war sie in nur einer weiteren Langzeitbeziehung gewesen und war dann für vier Jahre mit Steven ausgegangen, bevor sie sich verlobten. Sie war so überhaupt nicht an die Dating-Szene gewöhnt und der Gedanke daran fühlte sich etwas altmodisch an. Und um ehrlich zu sein, ein bisschen beängstigend.
Sie versuchte ihr Bestes, sich auf der fünfzehnminütigen Heimfahrt zu ihrer Wohnung zu beruhigen. Sie hatte keine Ahnung was Kyle Moultons Geschichte mit Frauen war. Es könnte ja sein, dass er genauso rostig und aus der Übung war wie sie selbst. Seinem Aussehen zufolge bezweifelte sie dies allerdings. Um ehrlich zu sein, wenn sie sich nur auf sein Aussehen beschränkte, dann hatte sie keine Ahnung, weshalb er überhaupt Interesse an ihr zeigte.
Vielleicht steht er auf Frauen mit einer kaputten Vergangenheit, die eine Tendenz dazu haben, sich voll und ganz in ihre Arbeit zu stürzen, dachte sie. Männer finden das heutzutage sexy, oder?
Als sie in ihre Straße einbog, war sie schon deutlich entspannter. Ihre Angst verwandelte sich langsam in eine positive Aufregung. Sieben Monate waren vergangen, seitdem sie sich von Steven getrennt hatte. Das waren also sieben Monate, ohne einen Mann geküsst zu haben, ohne Sex, ohne…
Überstürzen wir mal nichts, sagte sie zu sich selbst, als sie ihr Auto am Ende des Blocks einparkte.
Sie stieg aus und ging mental schon einmal die Dinge in ihrem Kleiderschrank durch, die nett aber nicht zu nett aussehen würden. Sie hatte ein paar Ideen, was sie tragen könnte und ebenfalls, wo sie zum Essen hingehen könnten, da sie in letzter Zeit große Lust auf japanisches Essen gehabt hatte. Tatsächlich wäre Sushi genau passend und—
Als sie sich ihrem Hauseingang näherte, bemerkte sie einen Mann, der auf der Treppe saß. Er sah ziemlich gelangweilt aus. Sein Kopf lehnte in seiner aufgestützten Hand, während er mit der anderen etwas in seinem Handy suchte.
Chloe wurde langsamer und blieb schließlich ganz stehen. Sie kannte diesen Mann. Aber er konnte auf keinen Fall hier sein und auf den Eingangsstufen zu ihrem Wohnhaus sitzen.
Unmöglich …
Sie trat einen weiteren langsamen Schritt vorwärts. Der Mann bemerkte sie schließlich und schaute zu ihr auf. Ihre Augen trafen sich und in diesem Moment lief Chloe ein kalter Schauder über den Rücken.
Der Mann auf der Treppe war Aiden Fine – ihr Vater.
KAPITEL ZWEI
„Hey Chloe.“
Er versuchte, normal zu klingen. Er probierte, so zu tun, als wäre es völlig normal für ihn, einfach so auf ihrer Türschwelle zu erscheinen. So als bedeute die Tatsache nichts, dass er gerade für fünfundzwanzig Jahre im Gefängnis gewesen war, weil er bei der Ermordung ihrer Mutter eine Hand im Spiel gehabt hatte. Sicher, jüngste Geschehnisse, die sie selbst enthüllt hatte, zeigten, dass er höchstwahrscheinlich unschuldig war, aber für Chloe stand fest, dass dieser Mann für immer schuldig sein würde.
Gleichzeitig verspürte sie das Bedürfnis, zu ihm zu gehen. Ihn vielleicht sogar zu umarmen. Es gab keinen Zweifel daran, dass ihre Gefühle kopfstanden, wenn sie ihn hier draußen so öffentlich und frei stehen sah.
Sie traute sich jedoch nicht, sich ihm zu nähern. Sie vertraute ihm nicht und was vielleicht noch schlimmer war, sie traute sich selbst nicht.
„Was machst du hier?“, fragte sie.
„Ich wollte nur vorbeikommen und dich besuchen“, antwortete er, als er gleichzeitig aufstand.
Tausend Fragen schwirrten durch ihren Kopf. Die Hauptfrage war, wie er herausgefunden hatte, wo sie wohnte. Allerdings wusste sie, dass jeder mit einer Internetverbindung und einer hartnäckigen Entschlossenheit das herausfinden könnte. Stattdessen versuchte sie, höflich zu bleiben, ohne warm und einladend zu wirken
„Wie lange bist du schon raus?“, fragte sie.
„Seit anderthalb Wochen. Ich musste erst den Mut aufbringen, herzukommen.“
Sie erinnerte sich an das Telefonat mit Director Johnson, als sie vor zwei Monaten die letzten Beweise gefunden hatte – Beweise, die anscheinend mehr als genug gewesen waren, um ihren Vater freizulassen. Aufgrund ihrer Bemühungen. Sie fragte sich, ob er überhaupt wusste, was sie für ihn getan hatte.
„Und genau deshalb habe ich gewartet“, sagte er. „Diese … diese Stille zwischen uns. Sie ist unangenehm und unfair und … “
„Unfair? Dad, für den größten Teil meines Lebens warst du im Gefängnis … für eine Gewalttat, für die du, wie ich jetzt weiß, nicht einmal schuldig warst. Du hast allerdings ohne Probleme deinen Kopf dafür hingehalten. Ja, es wird unangenehm sein. Und wenn man sich den Grund für deine Inhaftierung anschaut und an die letzten Unterhaltungen denkt, die wir hatten, dann hoffe ich, dass du verstehst, dass ich dir nicht tanzend und mit Blumensträußen entgegengelaufen komme.“
„Das verstehe ich voll und ganz. Aber … wir haben so viel gemeinsame Zeit verpasst. Es kann gut sein, dass du das noch nicht empfinden kannst, weil du so jung bist. Aber diese Jahre, die ich im Gefängnis verschwendet habe, wissend, was ich geopfert habe … meine Zeit mit dir und Danielle … mein eigenes Leben …“
„Du hast diese Dinge für Ruthanne Carwile geopfert“, fauchte Chloe. „Das war deine eigene Entscheidung.“
„Das war es. Und es ist etwas, was ich für die letzten fünfundzwanzig Jahre bereut habe.“
„Was willst du also?“, fragte sie.
Sie ging an ihm vorbei und auf ihre Eingangstür zu. An ihm vorbeizugehen, kostete sie mehr Willenskraft, als sie erwartet hätte. So nah bei ihm zu sein.
„Ich hatte gehofft, wir könnten gemeinsam zu Abend essen.“
„Einfach so?“
„Irgendwo müssen wir ja anfangen, Chloe.“
„Nein, wir müssen gar nichts.“ Sie öffnete die Tür und drehte sich zu ihm um. Zum ersten Mal schaute sie ihm direkt in die Augen. Ihr Magen drehte sich und sie tat ihr Bestes, um vor ihm nicht emotional zu werden. „Ich möchte, dass du gehst. Und bitte komm niemals zurück.“
Er sah zutiefst verletzt aus, wandte seinen Blick jedoch nicht von ihr ab. „Willst du das wirklich?“
Sie wollte einfach ja sagen aber die Worte, sagte aber stattdessen: „Ich weiß es nicht.“
„Sag Bescheid, wenn du deine Meinung änderst. Ich wohne in …“
„Ich will nicht wissen, wo du wohnst“, unterbrach sie ihn. „Wenn ich Kontakt mit dir möchte, dann finde ich dich.“
Er lächelte ihr zu, allerdings mit sichtbarem Leid. „Ah, stimmt. Du arbeitest jetzt fürs FBI.“
Und was mit Mom und dir passiert ist, hat mich auf diesen Weg geführt, dachte sie.
„Tschüss, Dad“, sagte sie und ging durch ihre Eingangstür.
Sobald sich die Tür hinter ihr schloss, schaute sie nicht mehr zurück. Stattdessen machte sie sich schnellen Schrittes auf den Weg zum Aufzug, ohne so erscheinen zu wollen, als wäre sie in Eile.
Die Türen des Aufzugs schlossen sich hinter ihr und Chloe verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Sie begann zu weinen.
* * *
Sie starrte in ihren Kleiderschrank und dachte ernsthaft darüber nach, Moulton anzurufen und ihm zu sagen, dass sie es heute Abend leider nicht schaffen würde. Sie konnte ihm nicht den wahren Grund nennen – dass ihr Vater gerade nach fünfundzwanzig Jahren aus dem Gefängnis gekommen war und auf einmal auf ihrer Türschwelle erschienen war. Sicher würde er das Psychotrauma dessen verstehen, oder?
Aber dann entschied sie, dass sie ihren Vater nicht ihr Leben ruinieren lassen würde. Sein Schatten hatte schon viel zu lange über ihrem Leben gehangen. Und selbst etwas Banales, wie ein Date abzusagen, würde ihm zu viel Macht über ihr Leben geben.
Sie rief Moultons Nummer an und als sie direkt zur Mailbox weitergeleitet wurde, hinterließ sie eine Empfehlung für ein gutes Restaurant zum Abendessen. Jetzt, da das erledigt war, ging sie kurz duschen und zog sich um.
Als sie sich gerade ihre Hose anzog, klingelte ihr Handy. Sie sah Moultons Namen auf dem Bildschirm und ihre Gedanken wanderten gleich zu den schlimmsten Szenarien.
Er hat seine Meinung geändert. Er ruft an, um abzusagen.
Sie glaubte dies tatsächlich, bis zu dem Moment, in dem sie abhob. „Hallo?“
„Also, ja, japanisch klingt gut“, sagte Moulton. „Vielleicht können Sie aufgrund des Mangels an Details und der Umsetzung schon bemerken, dass ich so etwas nicht oft mache. Also weiß ich nicht genau, wie das funktioniert – hole ich Sie ab oder treffen wir uns einfach dort …?“
„Sie können mich gerne abholen, wenn Ihnen das passt“, sagte sie und dachte wieder an den schäbigen Zustand ihres Autos. „Es gibt ein wirklich gutes Restaurant in der Nähe von hier.“
„Klingt gut“, sagte er. „Bis dann.“
… Ich mache so etwas nicht oft. Obwohl er das gerade gesagt hatte, fand Chloe es schwer, ihm zu glauben.
Sie zog sich weiter an, gab sich Mühe mit ihrem Haar und wartete dann auf ein Klopfen an der Tür.
Vielleicht ist es wieder dein Vater, dachte sie zu sich selbst.
Und wenn sie ganz ehrlich war, dann kamen diese Worte nicht von ihrer eigenen Stimme in ihrem Kopf. Es war Danielles Stimme, herablassend und selbstsicher.
Ich frage mich, ob sie schon weiß, dass er aus dem Gefängnis raus ist, dachte Chloe. Mein Gott, sie wird vor Wut außer sich sein.
Sie hatte allerdings keine Zeit, mehr darüber nachzudenken. Bevor sie die Chance hatte, klopfte es an der Tür. Für einen lähmenden Moment war sie sich sicher, dass es ihr Vater war. Sie gefror geradezu für einen Moment, weil sie nicht bereit war, zu antworten. Aber dann erinnerte sie sich wieder daran, wie unbehaglich Moulton gewesen war, als sie sich in der Eingangshalle des Schießstandes getroffen hatten und ihr wurde bewusst, wie sehr sie ihn sehen wollte – besonders nach allem, was in den letzten paar Stunden in ihrem Leben passiert war.
Sie öffnete die Tür mit einem breiten Grinsen auf den Lippen. Moulton selbst lächelte fröhlich. Vielleicht lag es daran, dass sie sich selten außerhalb der Arbeit trafen, aber Chloe fand sein Lächeln unheimlich sexy. Es war sicherlich auch hilfreich, dass er, obwohl er recht schlicht gekleidet war – ein Hemd und eine gute Jeans – unglaublich attraktiv aussah.
„Sind Sie soweit?“, fragte er.
„Auf jeden Fall“, sagte sie.
Sie schloss die Tür hinter sich und sie begaben sich in den Flur.
Wieder einmal entstand diese perfekte Stille zwischen ihnen, die sie wünschen ließ, sie wären schon etwas weiter. Selbst etwas so Einfaches und Harmloses wie nach ihrer Hand zu greifen … sie brauchte irgendetwas.
Und es war diese schlichte Sehnsucht nach menschlichem Kontakt, die ihr zeigte, wie sehr sie das Auftauchen ihres Vaters durcheinandergebracht hatte.
Es wird nur schlimmer werden, jetzt wo er aus dem Gefängnis raus ist, dachte sie, während Moulton und sie den Aufzug ins Erdgeschoss nahmen.
Aber sie würde ihn nicht diese Verabredung versauen lassen.
Sie verdrängte alle Gedanken an ihren Vater, als sie und Moulton hinaus in die warme Abendluft traten.
Und zu ihrer Überraschung funktionierte es sogar.
Für eine Weile.
KAPITEL DREI
Das japanische Restaurant, das sie ausgewählt hatte, war ein traditioneller Hibachi Grill. Es gab große, offene Kochplatten, die es großen Gruppen von Menschen erlaubten, außen herum zu sitzen und dem Koch bei seinen Künsten zuzusehen.
Chloe und Moulton wählten einen Tisch in einer ruhigeren, privateren Ecke des Restaurants. Als sie beide Platz genommen hatten, stellte sie erfreut fest, wie natürlich sich die ganze Situation mit ihm anfühlte. Selbst wenn sie die körperliche Anziehung außer Acht ließ, hatte sie Moulton doch schon seit dem ersten Moment gemocht, in dem sie sich trafen. Er war das einzige helle Licht am Ende des Tunnels gewesen, als sie vom Team für Beweissicherung in das ViCAP-Programm versetzt worden war. Und hier war er nun und machte unangenehme Momente in ihrem Leben mal wieder erträglicher.
Sie wollte den Abend nicht mit einer solchen Unterhaltung zerstören, aber sie wusste auch, dass es eine unnötige Ablenkung wäre, würde sie nicht mit ihm darüber sprechen.
„Also“, sagte Moulton, der an den Ecken seiner Speisekarte spielte, als er sie öffnete, „sagen Sie, Agentin Fine, ich hatte mich gefragt, ob es in Ordnung wäre, uns zu duzen? Da wir hier ja nicht dienstlich sind …“ Er zwinkerte sie an, während er sprach.
„Ich dachte schon, du fragst nie! Das würde ich sehr gern“, antwortete Chloe.
„War es nicht komisch, dass ich dich zum Abendessen eingeladen habe?“, fragte Moulton.
„Ich bin mir sicher das hängt davon ab, wen man fragt“, antwortete sie. „Director Johnson hält es sicher nicht für die beste Idee. Aber wie auch immer, lass mich ehrlich sein“, sagte sie, „ich hatte gehofft, du würdest mich fragen.“
„Du bist also eher traditionell? Du hättest mich also nicht gefragt? Du hättest gewartet, bis ich dich frage?“
„Es geht dabei weniger um Tradition, mehr um meine Ängste aus vergangenen Beziehungen. Von denen ich dir vermutlich ein wenig erzählen sollte. Bis vor ungefähr sieben Monaten war ich verlobt.“
Der Schreck in seinem Gesicht hielt nur für einen Moment an. Zum Glück sah sie keine Angst oder Verlegenheit in ihm. Bevor er irgendetwas antworten konnte, kam die Kellnerin zu ihnen, um ihre Getränkebestellung aufzunehmen. Beide bestellten schnell ein Sapporo-Bier, um nicht den Faden ihrer Konversation zu verlieren.
„Darf ich fragen, wie eure Beziehung endete?“, fragte Moulton.
„Es ist eine lange Geschichte. Die kurze Version ist, dass er zu bestimmend war und sich nicht von den Schatten seiner Familie trennen konnte – vor allem nicht von seiner Mutter. Und als ich dann plötzlich eine Karriere beim FBI vor mir hatte, war er keine große Unterstützung. Er war auch keine wirkliche Hilfe mit den Schwierigkeiten in meiner Familie…“
Es kam ihr in den Sinn, dass er vermutlich sogar ein wenig über ihre Familiengeschichte wusste. Als sie zum Ende ihrer Ausbildung angefangen hatte, die Geschichte aufzuwühlen, war ihr bewusst, dass es sich in der Akademie herumgesprochen hatte.
„Ja, ich habe so dies und das gehört …“
Er ließ diesen Satz im Raum stehen. Chloe verstand dies als Einverständnis, sollte sie mit ihm darüber reden wollen, dass er hier wäre, um zuzuhören. Und sollte sie sich dagegen entscheiden, dann wäre das für ihn auch in Ordnung. Und in diesem Moment, mit all den Gedanken, die in ihrem Kopf herumschwirrten, entschied sie, dass es jetzt oder nie war. Es macht ja keinen Sinn mehr zu warten, dachte sie.
„Ich erspare dir die Details für ein anderes Mal, aber ich denke ich sollte erwähnen, dass ich heute meinen Vater gesehen habe.“
„Also ist er aus dem Gefängnis raus?“
„Ja. Und ich glaube, dass es hauptsächlich an einigen Funden bezüglich des Todes meiner Mutter liegt, die ich in den letzten paar Monaten gemacht habe.“
Es dauerte eine Weile bis Moulton wusste, wie er die Konversation fortsetzen sollte.
Genau wie sie trank er einen Schluck von seinem Bier, um sich Zeit zu nehmen. Nach einem weiteren großen Schluck erwiderte er mit der besten Frage, die ihm einfiel.