Jenn stellte ihm dieselbe Frage, die Riley zu Beginn ihrer Befragung an Lori Tovar gerichtet hatte. „Wie haben Sie erfahren, was mit ihrem Vater passiert ist?“
Ian sagte: „Naja, Sie wissen wahrscheinlich, dass Dad ein Kundenberater in einer Bank in Petersboro war. Einmal die Woche haben wir uns während seiner Mittagspause zum Mittagessen getroffen. Er fuhr von der Arbeit nach Hause und ich kam vorbei und holte ihn ab und dann fuhren wir dort hin, wo wir essen wollten.“
Riley freute sich über Ians Klarheit. Im Gegensatz zu Lori Tovar hatte er zwei Wochen gehabt, um das, was passiert war, zu verarbeiten, und er konnte ruhig darüber sprechen.
Ein besserer Zeuge, dachte sie.
Ian fuhr fort: „Ich habe vor dem Haus gehalten und gehupt, aber Dad ist nicht rausgekommen. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Also bin ich ausgestiegen und rüber zur Haustür gelaufen und habe geklopft. Er hat nicht aufgemacht.“
Ian schüttelte den Kopf.
„Da fing ich wirklich an, mir Sorgen zu machen. Wenn Dad andere Pläne gemacht hätte, hätte er mir das ganz bestimmt gesagt. Ich begriff, dass irgendetwas wirklich passiert sein musste. Also öffnete ich die Tür und…“
Ian erschauderte sichtbar bei dem Gedanken.
„Da lag er, direkt auf dem Boden.“
Jenn fragte: „Was haben Sie dann gemacht?“
„Naja, ich glaube ein paar Minuten lang war ich in Panik. Aber sobald ich mich zusammenreißen konnte, habe ich 9-1-1 angerufen. Dann habe ich meine Mom angerufen. Sie arbeitet in einem Damenmodegeschäft – Rochelle’s Boutique. Ich habe ihr gesagt, dass Dad etwas zugestoßen sei. Sie hat sofort begriffen, dass ich meinte, dass Dad tot war. Ich habe ihr nicht gesagt, wie und wieso. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich es ja auch selbst noch nicht wirklich begriffen.“
Ian seufzte und fuhr fort. „Sie hatte einen Nervenzusammenbruch am Telefon. Ich wusste, dass es wirklich schlimm wäre, wenn sie direkt nach Hause kommen würde. Ich habe ihr gesagt, dass sie nach der Arbeit zu ihrer Schwester fahren und dort auf mich warten solle, bis ich wirklich alles erklären könnte. Also war sie nicht zuhause, als die Polizei kam und alle möglichen Fragen stellte und als der Gerichtsmediziner den Leichnam wegbrachte. Ich glaube, das war wahrscheinlich auch besser so.“
Ja, ich bin mir sicher, das war es, dachte Riley sich.
Sie war beeindruckt von der Fähigkeit des jungen Mannes einen kühlen Kopf zu behalten inmitten solch eines traumatischen Geschehnisses.
Jenn fragte ihn: „Wann haben sie gemerkt, dass ein Esszimmerstuhl fehlte?“
Ian sagte: „Naja, wie sie wissen, haben die Cops gedacht, dass es sich um einen misslungenen Einbruch handelte. Dass der Typ vielleicht nicht erwartet hatte, dass jemand zuhause sei, und dann überrascht war, dass mein Dad doch da war.“
Er strich sich übers Kinn und fügte hinzu: „Also haben mich die Cops an Ort und Stelle gefragt, ob irgendwelche Wertgegenstände fehlten. Ich bin durchs ganze Haus gelaufen und habe alles überprüft, was mir in den Kopf kam – Computer, Fernseher, Moms Schmuck, das Silberbesteck und das Porzellan, all solche Sachen. Schließlich habe ich den fehlenden Stuhl bemerkt.“
Er schielte ungläubig.
“Die Cops haben mir diesen Morgen gesagt, dass dem anderen Opfer auch ein Stuhl geklaut wurde. Das macht keinen Sinn. Wieso würde jemand einen anderen Menschen wegen einem Stuhl umbringen?“
Riley dachte an Lori Tovar, die dieselbe Frage gestellt hatte. Sie hatte immer noch keine Ahnung, was die Antwort war.
Jenn fragte Ian: „Das andere Opfer hieß Joan Cornell. Hat Ihr Vater jemals diesen Namen erwähnt?“
Ian schüttelte den Kopf.
„Ich glaube nicht, aber ich bin mir nicht sicher. Er war ziemlich extrovertiert. Mom ist zurückhaltender, eine echte Stubenhockerin. Aber Dad ist oft ausgegangen und hat sich mit Freunden getroffen, hat Bridge und Softball gespielt, war in einem Bowlingverein und nahm an einem Aerobic Kurs teil. Er kannte also viele Leute. Er mag den Namen einmal erwähnt haben, und ich habe es vergessen.“
In Rileys Kopf begann sich eine Idee zu formen.
„Hat er jemals Bingo gespielt?“, fragte sie.
Ians Augen weiteten sich ein wenig.
„Jetzt wo Sie es erwähnen, ja“, sagte er. „Es war an irgendeiner Kirche. Er war eigentlich kein Kirchgänger, deshalb glaube ich, dass er einfach wegen der Spiele dort hinging.“
„Hatte er gesagt, um welche Kirche es sich handelte?“, fragte Jenn.
Er schwieg einen Moment lang und sagte dann: „Nein, ich kann mich nicht daran erinnern, dass er das jemals erwähnt hätte. Aber eines Tages hat er mir gesagt, dass er dort nicht mehr hingehen wollte.“
„Hat er gesagt, wieso?“, fragte Riley.
„Nein.“
Riley und Jenn tauschten einen flüchtigen Blick.
Jenn fragte: „Wie lange ist das her, das er ihnen das sagte?“
Ian zuckte mit den Schultern und sagte: „Ich glaube, es war ein paar Tage bevor er ermordet wurde.“
„Danke für Ihre Zeit“, sagte Riley. „Sie haben uns sehr geholfen.“
„Und unsere aufrichtige Anteilnahme für Ihren Verlust“, fügte Jenn hinzu.
„Danke“, sagte Ian. „Ich verarbeite es ganz ok, glaube ich, aber für Mom ist es wirklich schwer. Ich bin ihr einziges Kind und es ist richtig schwierig für sie jetzt alleine in diesem Haus zu leben. Ich habe ihr angeboten ein Urlaubssemester einzulegen und bei ihr zu sein, aber sie will nichts davon hören. Ich mache mir viele Sorgen um sie.“
Riley wünschte ihm alles Gute und dankte ihm noch einmal, bevor sie ihren Chat Anruf beendeten.
„Also haben beide Opfer womöglich zusammen Bingo an einer Kirche gespielt“, sagte Jenn. „Das ist unsere nächste Anlaufstelle.“
Riley stimmte zu. Sie suchte die Telefonnummer der Westminster Presbyterian Kirche heraus und rief dort an. Sie fragte die Empfangsangestellte, die den Hörer abnahm, wer für die Bingospiele an der Kirche zuständig war. Die Empfangsdame stellte Riley sofort zum Freizeitdirektor der Kirche, Buddy Sears, durch. Als Riley und Jenn sich als FBI Agentinnen vorstellten, sagte Sears: „Das klingt sehr ernst. Darf ich fragen, worum es geht?“
Riley fragte ihn, ob er Joan Cornell gekannt hatte.
„Aber ja. Eine liebenswürdige Frau. Eine unserer regelmäßigen Besucherinnen. Wieso fragen Sie?“
Riley und Jenn tauschten erneut Blicke. Riley wusste, dass sie und ihre Partnerin beide dasselbe dachten: Er weiß nicht, dass sie ermordet wurde.
Dieses Telefonat wäre keine gute Art und Weise ihm das beizubringen. Sie entschloss sich, Selves Namen vorerst nicht zu erwähnen.
Riley sagte zu Sears: „Wir würden gerne persönlich mit Ihnen sprechen, wenn Sie nichts dagegen haben. Sind Sie diesen Nachmittag frei?“
„Aber natürlich“, sagte der Mann und klang nun besorgt. „Ich werde hier sein und auf Sie warten.“
Riley bedankte sich bei ihm und legte auf. Als Riley und Jenn hastig ihre Sandwiches aßen, sagte Jenn: „Das ist es Riley. Das ist die Verbindung, nach der wir gesucht haben. Wenn beide Opfer an dieser Kirche waren, dann muss der Mörder es auch gewesen sein.“
Ich hoffe es, dachte Riley.
Doch aus vielen Jahren Erfahrung wusste sie, dass es noch vieles über diesen Fall herauszufinden gab.
Kapitel sechs
Drew Cadigan wusste genau was sie gerade wollte. Sie öffnete das kleine Gefrierfach ihres Kühlschranks und fand die Leckerei, nach der sie gesucht hatte. Das Gefrierfach ließ sich ein wenig schwer wieder verschließen, denn der Kühlschrank musste enteist werden – und auch geputzt.
Aber es ist nicht so, als ob das bald passieren würde! dachte sie mit einem Grinsen.
Sie wusste, dass die meisten Wohnungen abseits des Campus, die ihre Kommilitonen mieteten, sich mit neueren Geräten schmückten, inklusive Kühlschränken, die eine No-Frost Funktion hatten. Doch sie und ihre Mitbewohnerin, Sylvia, waren beide froh gewesen diese kostengünstigere Wohnung in einem großen, älteren Haus, das zu Wohneinheiten umgewandelt worden war, gefunden zu haben.
Glücklicherweise waren Sylvia und sie sich in vielen Hinsichten einer Meinung. Keine von ihnen beiden hatte wirklich ein Bedürfnis die Dinge sauber, ordentlich und funktionstüchtig zu halten. Keine von ihnen hatte etwas dagegen, dass die Wohnung, die sie beide teilten, eigentlich eine ziemliche Bruchbude war.
Drew schnappte sich einen Esslöffel aus einer Küchenschublade und ging damit und dem Becher Chocolate Chip Cookie Dough Eiscreme rüber zu dem hübschen, kleinen Küchentisch, den sie und Sylvia gekauft hatten, als sie diesen Sommer hier eingezogen waren. Sie stellte den Eisbecher auf den Tisch und setzte sich auf einen der einfachen Stühle, die sie zum Tisch gekauft hatten.
Ein kluger Kauf, dachte sie.
Sie und Sylvia hatten die Stühle und den Tisch in dem Dies-und-Das Gebrauchtwarenladen geholt. Sie sahen wirklich genauso gut aus, wie die brandneuen und bedeutsam teureren Sets bei Wolfe’s Möbel, wo Drew über den Sommer als Verkäuferin gearbeitet hatte.
Sie dachte an die Kunden, die sie dort betreut hatte und murmelte laut: „Solche Loser.“
Natürlich waren diese Leute alle sehr viel besser situiert, als Drew oder ihre Familie es jemals gewesen waren, deshalb wussten sie es auch nicht besser. Seit Drew ein kleines Mädchen war, hatte ihre Mutter ihr immer gesagt, dass man ausgezeichnete Dinge in einem guten Gebrauchtwarenladen kaufen konnte. Der Tisch und die Stühle waren ein gutes Beispiel. Genauso wie die beinahe gesamte Kleidung, die Drew besaß.
Und Kleidung war wichtig hier am Springett College, wo so ziemlich jedermann sehr viel reicher war, als Drew. Sie musste wenigstens so tun, als wäre sie wohlhabend, auch wenn alle um sie herum wussten, dass sie kein Geld hatte.
Sie öffnete den Eiscremebecher und starrte einen Moment lang das Eis an, den Esslöffel in der Hand, bereit die unangetastete Oberfläche der cremigen Substanz zu attackieren.
Soll ich wirklich? fragte sie sich.
Nein, natürlich sollte sie es nicht tun. Sie und Sylvia hatten sich darauf geeinigt, das Eis für einen besonderen Anlass aufzuheben und es dann gemeinsam zu verspeisen.
Doch Drew hatte jetzt gerade einen besonderen Anlass und Sylvia war nicht da.
Nur ein Löffel, dachte sie.
Sie stieß den Löffel gegen die harte Oberfläche und schaufelte ein wenig von der kalten Masse heraus, die ein weiches Stückchen Kuchenteig beinhaltete. Sie schloss ihre Augen und genoss die himmlisch kalte Süße.
Das habe ich mir verdient, beschloss sie.
Drew war sich sicher, dass Sylvia ihr verzeihen würde, wenn sie ihr sagte, was sie feierte. Sie hatte gerade ihren ersten Test im Kurs „Einführung in die amerikanische Literatur“ überlebt. Eigentlich war sie sich sogar sicher, dass sie ihn ziemlich gut bestanden hatte.
Und das war wirklich ein Grund zum Feiern.
Zum Ende ihres ersten Jahres letzten Frühling, hatte sie begonnen daran zu zweifeln, ob sie hier in Springett überhaupt überleben könnte. Nicht, weil sie nicht intelligent genug war. Ihre ausgezeichneten Noten im standardisierten Test und ihre Leistungen im Abschlusszeugnis hatten ihr zu einem bemerkenswerten Stipendium verholfen, das es ihr ermöglicht hatte, hierher zu kommen.
Trotzdem hatte sie es schwer gefunden, während der ersten zwei Semester mitzuhalten und war kurz davor gewesen, das Stipendium zu verlieren. Sie war von reichen Leuten umgeben, die sich alle Art von Nachhilfe leisten konnten. Das hatte Drew in eine klar benachteiligte Lage gebracht – besonders in einem Pflichtmodul zum kritischen Denken im Sommersemester.
Sie hatte ein Seminar ausgesucht, das ironischerweise „Armut und Reichtum in der amerikanischen Kultur“ hieß. Alle am Seminartisch redeten sie schwindlig und benutzten manchmal akademische Fachausdrücke, die sie nie zuvor gehört hatte. Sie alle bekamen täglich Nachhilfe für dieses Seminar und sie konnte nicht mit ihnen mithalten. Und die Seminararbeiten ihrer Kommilitonen waren so geschliffen, dass sie daran zweifelte, ob sie diese selber verfasst hatten.