Jenn blickte finster drein, als sie die Informationen, die auf ihrem Bildschirm erschienen, überflog.
Sie sagte: „Nicht zu vielem – jedenfalls nicht in den letzten hundert Jahren, oder so. Früher, als es noch keine Kühlschränke gab, haben die Leute verderbliche Lebensmittel in altmodischen Eisschränken aufbewahrt.“
Bill nickte und sagte: „Ja, meine Urgroßmutter hat mir einmal davon erzählt. Ab und zu kam dann so ein Eismann vorbei, der einen Eisklotz für die Eisbox vorbeibrachte. Man hat dann einen Eispickel gebraucht um den Eisblock zu zerteilen.“
„Genau“, sagte Jenn. „Nachdem Eisboxen durch Kühlschränke ersetzt wurden, wurden Eispickel ein beliebtes Werkzeug bei Murder Incorporated. Die Leichen der Mordopfer hatten manchmal bis zu zwanzig Wunden von Eispickeln.“
Bill schnaubte und sagte: „Klingt irgendwie nach einem schlampigen Werkzeug für einen professionellen Auftragsmord.“
„Ja, aber es diente auch der Abschreckung“, sagte Jenn, weiterhin auf den Bildschirm gerichtet. „Niemand wollte auf diese Art und Weise sterben. Die Gefahr, mit einem Eispickel erstochen zu werden half, Mafiosi unter Kontrolle zu halten.“
Jenn drehte den Bildschirm zu Riley und Bill um ihnen zu zeigen, was sie gefunden hatte.
Sie sagte: „Außerdem, schaut mal hier. Nicht alle Eispickelmorde waren blutig und chaotisch. Ein Mafiosi namens Abe Reles war einer der meistgefürchteten Auftragskiller seiner Zeit und der Eispickel war das Werkzeug seiner Wahl. Er erstach seine Opfer fein säuberlich durchs Ohr – genau wie unser Mörder. Er war so gut, dass manche seiner Aufträge überhaupt nicht mehr wie Morde aussahen.“
„Sag nicht“, erwiderte Riley, „dass sie nach Hirnblutungen aussahen.“
„Genau“, bestätigte Jenn.
Bill kratze sich das Kinn. „Meint ihr unser Mörder ist auf die Idee gekommen, weil er von Abe Reles gelesen hat? Dass also seine Morde vielleicht irgendeine Art Hommage an einen alten Meister sind?“
Jenn sagte: „Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Eispickel werden gerade wieder populär unter Gangs. Junge Gangster erledigen einander heutzutage haufenweise mit diesen Eispickeln. Sie werden sogar bei Überfällen verwendet. Opfer werden mit einem Eispickel bedroht, statt mit einer Pistole oder einem Messer.“
Bill kicherte düster und sagte…
„Gerade vor ein paar Tagen bin ich in einen Werkzeugladen gegangen, um Panzertape zu kaufen. Da habe ich einen Aufsteller mit nagelneuen Eispickeln gesehen – ‚professionelle Qualität‘, besagte der Aufkleber, und auch ‚Hartstahl‘. Ich habe mich damals gefragt, wozu genau man sowas heute noch verwendet? Und ich weiß es bis heute nicht. Sicherlich wird nicht jeder, der Eispickel kauft, einen Mord im Schilde führen.“
„Frauen könnten die zum Selbstschutz dabeihaben, nehme ich an“, sagte Riley. „Obwohl Pfefferspray wahrscheinlich eine bessere Wahl ist, wenn ihr mich fragt.“
Jenn drehte den Bildschirm wieder in ihre Richtung und sagte: „Ihr könnt euch vorstellen, dass Versuche der Gesetzgebung den Verkauf oder Besitz von Eispickeln einzuschränken wenig Erfolg hatten. Aber einige Geschäfte führten freiwillig die Praxis Käufer dazu aufzufordern sich auszuweisen um sicherzustellen, dass diese bereits einundzwanzig Jahre alt sind. In Oakland, Kalifornien ist es sogar illegal Eispickel mit sich zu führen – gleichsam mit Schnappmessern und anderen Hieb- und Stichwaffen.“
Rileys Gedanken überschlugen sich von der Vorstellung zu versuchen den Kauf und Besitz von Eispickeln zu regulieren.
Sie fragte sich…
Wie viele Eispickel gibt es da draußen?
Zu diesem Zeitpunkt wussten sie und ihre Kollegen von zumindest einem.
Und sein Gebrauch war der Denkbar schlimmste.
Sie kamen schon bald in der kleinen Stadt Wilburton an. Riley war angetan davon, wie antiquiert malerisch die Gegend, in der Robin Scoville gelebt hatte, war – schöne in Schindel verkleidete Häuschen mit Fensterläden standen entlang der Straße, deren Vorgärten reihenweise von hübschen weißen Palisadenzäunen umgeben waren. Das Viertel war alt, womöglich sogar historisch. Trotzdem glänzte alles vor schneeweißer Farbe, so dass man meinen könnte, sie sei noch frisch.
Riley begriff, dass die Menschen, die hier lebten sehr stolz auf ihre Nachbarschaft waren und deren Vergangenheit bewahrten, so als lebten sie in einem Freilichtmuseum. Auf den Straßen waren nicht viele Autos zu sehen, daher fiel es ihr leicht sich das Städtchen in einer anderen Zeit vorzustellen mit Karren und Kutschen, die an den Häusern von Pferden vorbeigezogen wurden.
Dann fiel ihr ein…
Der Eismann hatte hier früher bestimmt oft seine Runde gemacht.
Sie stellte sich das sperrige Gefährt vor mit aufgetürmtem Eis und einen starken Mann, der die Blöcke mit schweren eisernen Zangen vor die Haustüren hievte. Damals besaß jede Hausfrau, die hier lebte, einen Eispickel, den sie für einen absolut unschuldigen Zweck einsetzte.
Doch die Stadt hatte vorgestern Nacht einen bitteren Verlust der Unschuld erfahren müssen.
Die Zeiten haben sich geändert, dachte Riley. Und nicht zum besseren.
Kapitel drei
Rileys Puls wurde schneller, als Agent Sturman den Kleintransporter vor einem kleinen Haus in einer netten Nachbarschaftsstraße parkte. Hier war es, wo Robin Scoville gelebt hatte und wo sie ermordet wurde. Riley spürte immer diese gesteigerte Aufmerksamkeit, wenn sie kurz davor war, einen Tatort zu betreten. Manchmal konnte sie ihre einzigartige Fähigkeit nutzen um die verdrehte Psyche des Mörders Einblick zu erhalten, genau an dem Ort, an dem der Mord stattgefunden hatte.
Würde es ihr auch hier gelingen?
Wenn ja, so war es nichts, worauf sie sich freute.
Es war ein hässlicher und verstörender Teil ihrer Arbeit, doch sie musste es nutzen, wann immer sie die Möglichkeit bekam.
Als sie aus dem Transporter stiegen, bemerkte sie, dass das Haus das kleinste in der Nachbarschaft war – ein bescheidener einstöckiger Bungalow mit einem kompakten Vorgarten. Doch wie alle Häuser auf dem Block war es hervorragend erhalten und akkurat gestrichen. Es war ein malerischer Anblick, der nur von dem gelben Polizeiband verdorben wurde, dass die Öffentlichkeit vom Grundstück fernhalten sollte.
Als Riley, Jenn, Bill und Agent Sturman durch das Zauntörchen gingen, trat ein großer, uniformierter Mann aus dem Haus. Agent Sturman stellte ihn den anderen als Clark Brennan, den Polizeichef Wilburtons, vor.
„Kommen Sie rein“, sagte Brennan mit einem angenehmen Akzent, der Sturmans ähnelte. „Ich zeige Ihnen, wo es geschah.“
Sie gingen eine lange hölzerne Rampe hoch, die zur Veranda führte.
Riley fragte Brennan: „Was das Opfer fähig sich selbstständig fortzubewegen?“
Brennan nickte und sagte: „Ihre Nachbarn sagen, dass sie die Rampe nicht mehr wirklich gebrauch hat. Nach einem Autounfall im letzten Jahr war ihr linkes Bein bis über dem Knie amputiert, aber sie kam sehr gut mit ihrer Prothese zurecht.“
Brennan öffnete die Eingangstür und alle betraten das gemütliche, komfortable Häuschen. Riley bemerkte keine weiteren Anzeichen dafür, dass hier eine behinderte Person gelebt hatte – keine besonderen Möbel oder Handgriffe, nur ein Rollstuhl, der in der Ecke stand. Es war offensichtlich, dass Robin Scoville sich alle Mühe gegeben hatte, ein so normales Leben, wie es ihr nur möglich war, zu leben.
Eine Überlebende, dachte Riley voll bitterer Ironie.
Die Frau musste gedacht haben, dass sie bereits die schlimmsten Herausforderungen, die ihr das Leben nur präsentieren konnte, überstanden hatte. Sie hatte sicherlich keine Ahnung welch grausames Schicksal sie erwartete.
Das kleine, saubere Wohnzimmer war mit günstigen Möbeln ausgestattet, die ziemlich neu aussahen. Riley bezweifelte, dass Robin allzu lange in diesem Haus gelebt hatte. Der Ort machte irgendwie den Eindruck einer Übergangslösung und Riley dachte, dass sie sich vorstellen konnte, wieso.
Riley fragte: „Das Opfer war geschieden?“
Brennan schaute sie überrascht an.
„Ja, ganz genau“, erwiderte er. „Sie und ihr Mann hatten sich erst dieses Jahr getrennt.“
Es war genau, wie Riley vermutet hatte. Dieses Haus ähnelte stark der Unterkunft, in der sie und April gewohnt hatten, nachdem ihre Ehe mit Ryan in die Brüche ging.
Doch Robin Scovilles Herausforderungen waren sehr viel schwerwiegender, als Rileys. Sie musste nicht nur eine Scheidung, sondern auch einen Schrecklichen Unfall überwinden, in ihrem Versuch ein neues Leben aufzubauen.
Die Position, in der die Leiche aufgefunden wurde, war mit Kreppband auf dem Boden markiert. Brennan zeigte auf einen kleinen, dunklen Fleck auf dem Boden.
„Sie hat nur ein bisschen aus dem Ohr geblutet. Genau wie bei einer Gehirnblutung. Doch wegen des kürzlichen Mordes an Cranston war der Gerichtsmediziner sofort misstrauisch. Und genau wie erwartet hat die Obduktion gezeigt, dass Robin auf dieselbe Art wie Cranston ermordet wurde.“
Riley dachte…
Dieselbe Methode, aber unter derart unterschiedlichen Umständen.
Und sie wusste, dass jegliche Unterschiede oftmals genauso wichtig waren wie die Ähnlichkeiten.
Sie fragte Brennan: „Gibt es Indizien dafür, dass sie sich zur Wehr gesetzt hat?“
„Überhaupt keine“, sagte Brennan.
Sturman fügte hinzu: „Es sieht ganz danach aus, als wäre sie überrascht worden und ganz unerwartet von hinten angegriffen worden.“
Bill fragte: „Hat sie ihre Prothese zum Zeitpunkt ihres Todes getragen?“
„Nein“, sagte Brennan. „Sie hatte ihre Krücken benutzt.“
Riley kniete sich hin und untersuchte die Position des Körpers, wie das Kreppband sie wiedergab. Sie war direkt vor dem Fester zusammengebrochen. Robin wurde höchstwahrscheinlich angegriffen, als sie gerade vor dem Fenster stand.
Sie fragte Brennan: „Was ist der ungefähre Todeszeitpunkt?“
Brennan antwortete: „Gegen vier Uhr morgens.“
Riley stand am Fenster und schaute hinaus auf die ruhige, freundliche Straße und fragte sich…
Wieso hat sie aus dem Fenster geschaut?
Was konnte in dieser Nachbarschaft um diese Uhrzeit passieren, dass es ihre Aufmerksamkeit beansprucht hatte? Und war das überhaupt relevant? Hatte es irgendetwas mit dem tatsächlichen Mord zu tun?
Riley fragte: „Wie hat man ihre Leiche gefunden?“
Brennan sagte: „Sie ist am nächsten Morgen nicht zu ihrer Arbeit bei einer örtlichen Literaturzeitschrift erschienen. Und sie hat auch nicht den Hörer abgenommen. Ihr Boss fand das merkwürdig und hat sich Sorgen gemacht, da es überhaupt nicht zu ihr passte. Er befürchtete, dass sie zuhause vielleicht irgendeinen Unfall hatte, wegen ihnen Behinderung. Also schickte er einen Mitarbeiter zu ihr nach Hause, um nach ihr zu sehen. Als sie die Tür nicht öffnete, ging der Mitarbeiter hintenrum und stellte fest, dass die Hintertür aufgebrochen war. Er betrat das Haus und fand die Leiche und rief die Rettungskräfte und Polizei.“
Riley stand noch einen Moment lang da und fragte sich, was Robin wohl aus dem Fenster gesehen haben könnte.
War dort irgendetwas passiert, was sie geweckt und ans Fenster gebracht hatte?
Riley hatte keine Ahnung.
In jedem Fall war es für Riley viel weniger interessant, was das Opfer in den letzten Momenten ihres Lebens erfahren hatte, als das, was im Kopf des Mörders vor sich gegangen war. Sie hoffte, dass sie vielleicht einen Anhaltspunkt dafür bekommen konnte, während sie hier war.
„Zeigen Sie uns, wo der Mörder eingebrochen ist“, bat Riley.
Brennan und Sturman führten Riley und ihre Kollegen durch das kleine Haus zu einer Tür, die in den Hinterhof führte.
Riley sah sofort, dass das Glas in der Nähe des Türriegels und der Klinke zerbrochen war. Der Mörder hatte offensichtlich das Glas zerbrochen und hatte anschließend die Tür entriegelt und geöffnet.
Doch nun bemerkte Riley noch etwas, was ihr wichtig vorkam.
Reste von Abklebefolie hafteten an den Scherben, die noch im Rahmen hingen.
Riley berührte vorsichtig eine Scherbe, an der etwas von der Folie klebte.
Der Mörder hatte die Scheibe mit Abklebefolie beklebt in der Hoffnung, nicht allzu viel Lärm zu machen, doch auch weil…
Vielleicht wollte er keine zu große Unordnung verursachen.
Riley fuhr zusammen von der plötzlichen Sicherheit, die sie verspürte.
Er ist penibel.
Er ist ein Perfektionist.
Das war die Art der plötzlichen intuitiven Einsicht, auf die sie gehofft hatte.
Wie viel mehr konnte sie über den Mörder hier und jetzt herausfinden?
Ich muss es versuchen, dachte sie.
Kapitel vier
Während Riley sich geistig darauf vorbereitete in die Psyche des Mörders vorzudringen, kreuzte ihr Blick sich einen Augenblick lang mit Bills. Er stand da, neben den anderen, und beobachtete sie. Sie sah, wie Bill nickte, da er offensichtlich verstanden hatte, dass sie alleine gelassen werden wollte um ihre Arbeit zu machen. Jenn lächelte zurückhaltend, als auch sie zu begreifen schien, was Riley vorhatte.
Bill und Jenn machten kehrt und begleiteten Sturman und Brennan zurück ins Haus, nachdem sie die Kellertür hinter sich zuzogen.
Riley blieb alleine zurück und schaute erneut auf das kaputte Türglas. Dann ging sie hinaus, schloss die Tür und fand sich in dem adretten kleinen Hinterhof wieder. Es gab einen kleinen Gehweg gleich hinter dem Zaun am Rande des Hinterhofs.
Riley fragte sich, ob der Täter über diesen Weg zum Haus gelangt war.
Oder war er von der Straße aus zwischen zwei Häuser geschlüpft – Robins und das eines Nachbarn?
Wahrscheinlich über den Gehweg.
Er hätte sein Auto in einer benachbarten Nebenstraße parken, den Gehweg hinunterlaufen und heimlich durch das Hintertor schlüpfen können. Dann war er durch den schmalen Hinterhof zur Hintertür geschlichen und…
Und dann?
Riley holte ein paarmal langsam und tief Luft um sich vorzubereiten. Sie stellte sich genau vor, wie der Hinterhof zu der frühen Stunde ausgesehen haben muss. Sie konnte beinahe das zirpen der Grillen hören und die angenehme kühle Luft einer Septembernacht auf ihrer Haut fühlen. Wahrscheinlich hatte es ein wenig Licht von den Straßenlaternen, aber kaum Licht von den Häusern selbst gegeben.
Wie hatte der Mörder sich gefühlt, als er sich auf seine Aufgabe einstimmte?
Gut vorbereitet, dachte Riley sich.
Schließlich hatte er sein Opfer offensichtlich im Voraus ausgewählt und wusste einige wichtige Einzelheiten über sie, unter anderem, dass sei ein amputiertes Bein hatte.
Riley schaute erneut auf das zerbrochene Glas. Nun erkannte sie, dass die Abklebefolie fast haargenau auf die Größe des Glases in der Tür zugeschnitten war. Das bedeutete sicherlich, dass er wohl genau hier gestanden und die Folie zugeschnitten selbst im schwachen Morgenlicht zugeschnitten hatte, wahrscheinlich mit einer Schere.
Erneut kam Riley dieses Wort in den Sinn…
Penibel.
Doch was mehr war, er was ruhig und geduldig gewesen. Riley spürte, dass der Mörder komplett leidenschaftslos geblieben war – er hatte kein bisschen Wut oder Rachesucht in sich. Ob er das Opfer persönlich gekannt hatte oder nicht, er hegte keinerlei feindseelige Gefühle ihr gegenüber. Der Mord war im allerweitesten Sinne kaltblütig gewesen.
Fast steril.