„Normalerweise arbeiten unsere Jungs allein“, erwiderte der Direktor. „Jetzt, wo wir diesen mechanischen Arm an die Lastwagen angebracht haben, kommen sie eh kaum mehr mit den Leuten auf ihren Strecken in Kontakt. Normalerweise ist das eher gut so.“
Brennan nannte ihm Robin Scovilles Adresse.
„Ok, ich schaue mal, was ich rausfinden kann“, versprach der Direktor.
Riley und die anderen konnten nun das Klappern einer Tastatur vernehmen. Dann sprach der Direktor erneut.
„Ich habe vielleicht etwas Interessantes für Euch. Es ist ein bisschen ungewöhnlich. Der Fahrer auf dieser Strecke ist Dick Abbott. In dieser Nacht hatte er jemanden dabei, einen junger Kerl Namens Wesley Mannis. Es sieht so aus, als würde Wesley ein Bewohner der Wilburton House, IEB Institution sein.“
Jenn fragte nach: „IEB?“
„Intellektuelle und Entwicklungsbehinderungen“, erklärte der Direktor.
Chief Brennan runzelte die Stirn und sagte: „Heißt das also, dass er zurückgeblieben ist, oder körperlich beeinträchtigt, oder…?“
„Das kann ich nicht sagen“, antwortete der Direktor. „Aber die Institution und die Stadt haben ein gemeinsames Programm für IEB Bewohner der Institution. Die Stadt stellt diese Leute für Arbeiten außerhalb der Einrichtung ein und hilft ihnen somit den Übergang zu einem normalen Leben zu ermöglichen. Dieser Wesley Mannis war in diesem Program und sein Job war eigentlich ein erfundener, etwas, was nicht zu anspruchsvoll wäre. Eigentlich lief er nur neben dem Müllwagen her und stellte sicher, dass kein Müll runterfiel. Keine richtige Arbeit, aber er hatte was zu tun, bis…“
Der Direktor hielt inne. Riley musste sich zusammenreißen um nicht zu fragen…
„Bis was?“
Nach weiterem Geklapper der Tastatur fuhr der Direktor fort: „Vor zwei Tagen hat der Fahrer einen Bericht eingereicht, dass Wesley irgendwann während der Morgenschicht verschwand. Wir müssen das tun, wenn diese Arbeiter nicht zum Dienst erscheinen, oder sich vom Arbeitsplatz entfernen.“
„Das war an dem Morgen, an dem Robin Scoville ermordet wurde“, stellte Jenn fest.
„Kannst du uns die ungefähre Zeit nennen?“, fragte Brennan nach.
„Nein“, sagte der Direktor. „Der Bericht nennt keine genaue Zeit, Ort oder Grund aus dem Wesley verschwunden sein konnte. Anscheinend ist Wesley irgendwo auf der Strecke einfach davongelaufen und der Fahrer hat es nicht sofort bemerkt. Die öffentlichen Werke haben Wilburton House gemeldet, dass einer ihrer Bewohner sich vom Arbeitsplatz entfernt hatte und…das ist alles was im Bericht steht.“
Riley fragte: „Nichts davon, ob Wesley irgendwann wieder in Wilburton House aufgekreuzt ist?“
„Nein, ich nehme an, das müsst ihr das Personal vor Ort fragen.“
„Das werden wir tun, danke“, sagte Chief Brennan.
Er legte auf und schaute Riley und ihre zwei Kollegen an.
„Was meinen Sie?“, fragte er die drei Agenten. „Vielleicht ist dieser Wesley Mannis unser Mörder?“
Riley hatte keine Ahnung, und dem Schweigen nach zu urteilen, hatten auch Jenn und Bill keine.
„Wenn er es ist“, sagte Jenn zögernd, „dann haben wir ihn.“
„Ja, das wäre aber schön und einfach“, murmelte Bill.
Es schien Riley aber wenig Sinn zu ergeben. War dann derselbe Bewohner derselben Einrichtung vor einer Woche nach New Haven gereist und hatte Vincent Cranston auf seiner morgentlichen Joggingstrecke ermordet? Riley fand das schwer vorstellbar.
Sie wandte sich an Brennan: „Wir müssen in Wilburton House nachfragen.“
Brennen nickte und wählte eine andere Nummer auf seinem Handy.
Ans Telefon ging eine weiblich Empfangshilfe und Brennan sprach: „Polizei Chef Clark Brennan am Apparat. Drei weitere FBI Agenten hören bei diesem Anruf mit. Wir müssen wissen, ob Sie einen Bewohner Namens Wesley Mannis haben?“
„Ja.“
„Befindet er sich zu diesem Zeitpunkt in der Einrichtung?“
„Ich schaue mal nach.“ Nach einer kurzen Pause meldete sich die Frau wieder: „Ja, er ist gerade in seinem Zimmer.“
Offensichtlich unschlüssig, was er als nächstes fragen sollte, schaute Brennan erwartungsvoll Riley und ihre Kollegen an.
Riley sprach jetzt zu der Frau: „Wir müssen herausfinden, was Wesley Mannis vor zwei Tagen am frühen Morgen gemacht hat.“
Ein kurzes Schweigen folgte.
Dann sagte die Empfangshilfe: „Es tut mir leid und ich hoffe, dass Sie mich verstehen können, aber ich möchte solche Informationen über einen Patienten nicht einfach so am Telefon preisgeben. Könnten Sie vielleicht hierher kommen und mit einem der Mitarbeiter persönlich sprechen?“
„Wir sind auf dem Weg“, antwortete Chief Brennan.
Brennan fuhr Riley und ihre Kollegen durch die ganze Stadt zu Wilburton House. Während Brennan parkte, musste Riley über die schiere Größe der Einrichtung staunen, die wie eine geschmackvolle kleine Villa aussah.
Als sie eintraten wurden sie sofort von einer großen, schlanken, lächelnden Frau begrüßt, die in freundliche Pastelfarben gekleidet war.
Sie trat dem Polizeichef entgegen und schüttelte ihm die Hand. Dann sagte sie: „Sie müssen Clark Brennan sein. Ich glaube nicht, dass wir uns persönlich kennengelernt haben. Ich bin Dr. Amy Rhind, ich leite diese Einrichtung.“
Riley, Bill und Jenn holten ihre Dienstmarken hervor und stellten sich vor, wonach Dr. Rhind allen anbot in der gemütlichen Lobby Platz zu nehmen.
Sie sagte: „Wenn ich richtig verstehe, interessieren Sie sich für einen unserer Bewohner, Wesley Mannis.“
Sie runzelte besorgt die Stirn und fügte hinzu: „Ich bin froh, dass Sie gekommen sind. Vielleicht können Sie uns dabei helfen herauszufinden, was mit ihm passiert ist. Ich fürchte, es ist alles sehr mysteriös.“
Das Wort ließ Riley aufhorchen.
Mysteriös.
Eigentlich hatte sie auf Antworten gehofft, nicht auf weitere Fragen.
Sie hörte, wie Bill leise stöhnte.
Mysteriös?
Alles war also doch nicht so schön und einfach.
Kapitel neun
Riley begann sich Sorgen zu machen. Sie waren hierher gekommen um eine Auflösung für ihren Fall zu bekommen, nicht um ein weiteres Mysterium vorzufinden. Sie konnte sich nicht vorstellen, was Dr. Rhind gemeint haben konnte, als sie sagte…
„Vielleicht können Sie und dabei helfen herauszufinden, was mit ihm passiert ist.“
Hatte die Empfangsdame Riley und ihren Kollegen nicht soeben am Telefon versichert, dass Wesley Mannis in seinem Zimmer war?
Riley fragte: „Meinen Sie damit, dass Wesley verschwunden ist?“
Dr. Rhind schüttelte den Kopf. „Nein, er ist hier, aber…“, sie schwieg einen Moment lang und sagte dann, „könnten sie kurz erklären weshalb Sie hier sind?“
Chief Brennan sagte: „Dr. Rhind, stimmt es, dass Wesley an einem Program teilnimmt, das ihre Einrichtung zusammen mit der Stadt ausgearbeitet hat. Er hat mit einem Arbeiter der Stadtreinigung eine Frühschicht übernommen, ist das korrekt?“
„Das stimmt“, bestätigte Dr. Rhind.
Brennan fuhr fort: „Nun ja, er ist auf einer Überwachungsaufnahme aufgetaucht. Er stand genau vor dem Haus einer Frau, die an dem Morgen ermordet wurde. Danach verschwand er spurlos.“
Dr. Rhind machte große Augen.
Sie sprach: „Oh, nein. Sie wollen nicht etwa sagen, dass Sie Wesley verdächtigen im Zusammenhang mit…“
Sie brach mitten im Satz ab und schaute unruhig von einem ihrer Besucher zum anderen.
Riley versuchte beschwichtigend zu klingen, als sie sagte: „Wir wissen nicht, was wir denken sollen, Dr. Rhind. Wir müssen aber mit Wesley sprechen.“
Dr. Rhind sagte: „Ich bin mir nicht sicher, dass das möglich ist. Sehen Sie, Wesley ist schwer autistisch. Und wie viele autistische Personen hat er ernsthafte Defizite in seinen sozialen Fertigkeiten und seinen Sprachfähigkeiten. Er hat sich eine Weile lang wirklich gut entwickelt und das Arbeitsprogram schien ihm wirklich viel zu bringen, hat ihn richtig aus seinem Kokon geholt.“
Sie seufzte und fuhr fort: „Dann hat vorgestern Nacht das Amt für öffentliche Dienste angerufen und ihn als vermisst gemeldet. Wir haben uns schreckliche Sorgen gemacht, aber einige Stunden später ist er hier aufgekreuzt. Er ist anscheinend den ganzen Weg zu Fuß hierher gelaufen, von wo auch immer er herkam. Aber…“
Sie legte besorgt ihre Hände zusammen und sagte: „Er hat einen schrecklichen Rückschlag erlitten. Er war auf so einem guten Weg, aber nun ist er wieder wie früher – absolut unkommunikativ. Wir konnten es uns nicht erklären, obwohl wir die Gründe dafür selten verstehen können, was unsere autistischen Bewohner angeht. Ihr Progress ist oftmals ruckartig und unvorhersehbar, und wir müssen immer wieder mit Enttäuschungen rechnen. Doch, wenn Sie das jetzt erzählen, vielleicht hat sein Rückschlag auch damit zu tun, dass…“
Dr. Rhind sah nun zutiefst besorgt aus.
Sie sagte: „Ich kann wirklich nicht glauben, dass Wesley jemals irgendjemandem wehtun würde. Er ist wirklich überhaupt nicht gewaltfähig.“
Jenn sagte: „Wir haben auch gar keinen Grund etwas anderes zu glauben, Dr. Rhind.“
Bill fügte an: „Aber wir müssen trotzdem mit ihm sprechen, wenn das nur irgendwie möglich ist.“
Dr. Rhind überlegte einen Moment lang.
Dann sagte sie: „Seine Mutter ist mit ihm in seinem Zimmer. Sie versucht ihm über seinen Rückschlag hinwegzuhelfen. Lassen Sie uns schauen, wie es ihr geht.“
Als Dr. Rhind Riley und ihre drei Begleiter ins Innere der Einrichtung führte, war Riley überrascht von dem, was sich ihr offenbarte. Sie konnte sich gut an das letzte Mal erinnern, dass sie in einer solchen Art von Pflegeeinrichtung gewesen war. Es war damals in Mississippi, als sie, Bill und Jenn einen Mann, der an Demenz litt, befragen mussten.
Das war ein Altersheim gewesen und die Einrichtung hatte in Riley ziemliches Unbehagen hervorgerufen. Es fühlte sich alles irgendwie falsch an, viel mehr nach einem Bestattungsbüro, als nach einem Ort, wo sich tatsächlich um lebendige Menschen gekümmert wurde.
Doch dieser Ort hier war ganz anders.
Zum einen waren die Menschen auf den Fluren alle verschiedenen Alters, von Kindern bis zu Senioren. Und viele der Gesichter hatten wirklich glückliche Ausdrücke. Mehrere Bewohner lächelten und winkten Riley und ihre Kollegen an.
Moment – sind das Bewohner oder Mitarbeiter? fragte Riley sich.
Niemand schien irgendwelche Uniformen zu tragen und Riley konnte sich nicht sicher sein, wer hier lebte und wer hier arbeitete.
Sie kamen an einem gemütlichen Aufenthaltsraum vorbei, wo mehrere Leute rumsaßen und redeten, Brettspiele spielten oder Snacks aßen, und an einem Klassenzimmer, wo eine kleine Schülergruppe aufmerksam ihrem Lehrer zuhörte und etwas mitschrieb.
Während sie an großflächigen Wohnungsähnlichen Zimmern vorbeigingen, drehte sich Riley zu Dr. Rhind und sagte…
„Ich bin beeindruckt. Das hier macht eher den Eindruck einer Schule inklusive Wohnheim, als eines…“
Riley hielt sich noch rechtzeitig davon ab, den Satz zu beenden, doch Dr. Rhind lächelte ein breites Lächeln.
„Haben Sie keine Angst es auszusprechen“, sagte sie zu Riley. „Sie meinen, als eines Irrenhauses.“
Riley nickte und errötete leicht.
Dr. Rhind sagte: „Wir versuchen unsere Bewohner nicht wie…naja, Patienten zu behandeln. Stattdessen behandeln wir sie wie Individuen, die ihre eigenen Probleme, Hoffnungen, Veränderungen, Herausforderungen, Fähigkeiten, Einschränkungen und Bedürfnisse haben. Wir versuchen ein familiäres Gefühl zu schaffen, für Bewohner und Mitarbeiter gleichermaßen. Das führt dazu, dass sich positive und hilfreiche Netzwerke herausbilden, ebenso wie Beziehungen, die manchmal ein ganzes Leben lang anhalten, selbst nachdem einige unserer Bewohner die Einrichtung verlassen und in der Welt da draußen weiterleben. Unsere ‘Alumni’ kommen uns oft besuchen um anderen zu helfen, ihnen wertvolle Fertigkeiten beizubringen und andere Sachen, die sie inzwischen gelernt haben. Vor allem versuchen wir Selbstständigkeit zu fördern.“
Mit einem Seufzen fügte sie hinzu: „Wir hatten solche Hoffnungen für Wesley. Er schien sich so gut zu entwickeln.“
Da blieb Dr. Rhind stehen und klopfte an eine der Türen.
Riley hörte eine weibliche Stimme aus dem Inneren sagen: „Herein.“
Riley und ihre drei Begleiter folgten Dr. Rhind ins Innere eines großen, angenehmen Ein-Zimmer Apartments. Eine Frau mittleren Alters und ein junger Mann saßen an einem Tisch in der Näher einer vollausgestatteten Küchenzeile.
Die Frau schaute den jungen Mann mit einem traurigen, fürsorglichen Blick an. Die Aufmerksamkeit des jungen Mannes war einzig und allein auf ein Objekt gerichtet, dass sich auf einem kleinen Stand auf dem Tisch drehte.
Ein Spielzeuggyroskop, erkannte Riley.
Als kleines Mädchen hatte sie auch so eins besessen.
Wesley Mannis’ Konzentration auf das Gyroskop schien weit bloße Faszination zu überschreiten. Er war absolut vereinnahmt, beinahe hypnotisiert davon. Er blinkte nicht einmal als das sich drehende Objekt sich verlangsamte, dann zur Seite lehnte und endlich von seinem Stand auf die Tischplatte herabfiel.
Ohne ein Wort fädelte Wesley ein Stück Garn durch ein kleines Loch in der Achse des Gyroskops und drehte die Achse ganz akkurat, bis das Garn fein säuberlich darauf aufgespult war. Danach zog er an dem Garn und brachte das Rädchen erneut zum Kreiseln.
Er setzte das Gyroskop zurück auf den Stand und schaute zu wie es sich drehte und summte.