“Ich muss sie finden.” Jede Sekunde, die auf der Uhr vorbei tickte, klang wie ein donnernder Chor, der ihn daran erinnerte, dass er seine Töchter vielleicht nie wieder sehen würde, wenn er nicht sofort, in diesem Moment, aufbräche. “Ich habe Thompsons Leiche gesehen. Er ist schon seit mindestens vierundzwanzig Stunden tot. Das ist ein wichtiger Hinweis für uns. Ich brauche eine Ausrüstung, und ich muss gehen. Jetzt.”
Als seine Frau, Kate, zwei Jahre zuvor an einem Hirninfarkt verstorben war, fühlte er sich komplett taub. Ein benommenes, unbeteiligtes Gefühl hatte sich seiner bemächtigt. Nichts fühlte sich echt an, als ob er jeden Moment von einem Alptraum erwachen würde, um herauszufinden, dass sich alles nur in seinem Kopf abgespielt hatte.
Er war nicht für sie dagewesen. Er hatte an einer Konferenz über antike europäische Geschichte teilgenommen – nein, das stimmte nicht. Es war nur seine Deckung, während er in Wirklichkeit bei einem CIA-Einsatz in Bangladesch war und einem Hinweis über eine Terrorzelle nachging.
Doch er war damals nicht für Kate dagewesen. Er war auch nicht für seine Mädchen da, als sie entführt wurden.
Doch todsicher würde er jetzt für sie da sein.
“Wir werden dir helfen, Null”, versicherte Cartwright ihm. “Du bist einer von uns, und wir kümmern uns um die unseren. Wir schicken Techniker zu dir nach Hause, damit sie der Polizei bei den Ermittlungen helfen. Sie werden sich als Personal der inneren Sicherheit ausgeben. Unsere Spurensicherer arbeiten schneller, wir sollten eine Spur binnen der nächsten —”
“Ich weiß, wer es war”, unterbrach ihn Reid. “Er war es.” Es gab für Reid keine Zweifel daran, wer dafür verantwortlich war, wer eingebrochen und seine Mädchen entführt hatte. “Rais.” Er brauchte nur den Namen laut nennen, um seinen Zorn erneut auflodern zu lassen. Er begann in seiner Brust und weitete sich auf jedes einzelne seiner Gliedmaße aus. Er ballte seine Hände zu Fäusten, damit sie nicht zitterten. “Der Amun Attentäter, der aus der Schweiz entkam. Er war es.”
Cartwright seufzte. “Null, solange wir keine Beweise haben, können wir das nicht mit Sicherheit behaupten.”
“Ich schon. Ich weiß es. Er hat mir ein Foto von ihnen geschickt.” Er hatte ein Foto erhalten, das von Saras Handy auf Mayas geschickt wurde. Das Foto war von seinen Töchtern, die immer noch Schlafanzüge trugen und zusammengekauert auf dem Rücksitz von Thompsons Wagen saßen.
“Kent”, warnte der stellvertretende Direktor vorsichtig, “du hast dir eine Menge Leute zum Feind gemacht. Das bestätigt nicht —”
“Er war es. Ich weiß, dass er es war. Dieses Photo bestätigt, dass sie noch leben. Er stichelt. Jeder andere hätte einfach…” Er konnte es nicht über die Lippen bringen, doch jeglicher von der Unzahl von Gegnern, die Kent Steele sich über den Lauf seiner Karriere gemacht hatte, hätte die Mädchen aus Rache einfach umgebracht. Rais tat dies, weil er ein Fanatiker war, der glaubte, dass es sein Schicksal war, Kent Steele zu töten. Das bedeutete, dass der Attentäter letztendlich von Reid gefunden werden wollte – und hoffentlich würden dabei auch die Mädchen wieder auftauchen.
Ob sie aber noch am Leben sind, wenn ich sie finde… Er griff sich mit beiden Händen an die Stirn, als ob er so vielleicht einen Gedanken aus seinem Gehirn zerren könnte. Bleib jetzt klar im Kopf. Du darfst so nicht denken.
“Null? “ erkundigte sich Cartwright. “Bist du noch dran?”
Reid atmete tief ein, um sich zu beruhigen. “Ich bin da. Hör mal, wir müssen Thompsons Wagen orten. Es ist ein neueres Modell und hat ein Navigationsgerät. Außerdem hat er auch Mayas Handy. Ich bin mir sicher, dass die Agentur ihre Nummer hat.” Sowohl den Wagen als auch das Telefon könnte man orten. Stimmten die Standorte überein und Rais hatte sich noch keinem der beiden entledigt, so hätten sie schon eine zuverlässige Richtung, in der sie suchen könnten.
“Kent, hör zu…” versuchte Cartwright einzuwenden, doch Reid unterbrach ihn sofort.
“Wir wissen, dass Amun Mitglieder in den Vereinigten Staaten hat”, quasselte er sofort weiter. Zwei Terroristen hatten seinen Mädchen schon zuvor auf der New Jersey Uferpromenade nachgestellt. “Es ist also möglich, dass es innerhalb der US Grenzen einen geheimen Unterschlupf von Amun gibt. Wir sollten H-6 kontaktieren und versuchen, Informationen von den Gefangenen dort herauszufinden.” H-6 war ein geheimes Gefängnis der CIA in Marokko, in dem verhaftete Mitglieder der Terrorgruppe zur Zeit festgehalten wurden.
“Null—”, versuchte Cartwright erneut in die einseitige Unterhaltung einzugreifen.
“Ich packe ein Tasche und verschwinde hier in zwei Minuten”, erklärte Reid ihm, während er in sein Schlafzimmer eilte. Jeder Moment, der verstrich, war ein Moment, der seine Mädchen weiter von ihm entfernte. “Die Transportsicherheitsbehörde sollte alarmiert werden, falls er versucht, sie außer Landes zu bringen. Gebt auch den Häfen und Bahnhöfen Bescheid. Und die Highway Kameras – zu denen haben wir Zugang. Schick mir jemanden zu einem Treffen, sobald wir einen Hinweis haben. Ich brauche ein Auto, ein schnelles. Und ein Handy von der Agentur, einen GPS-Orter, Waffen —”
“Kent!” schrie Cartwright ins Telefon. “Jetzt warte doch mal eine Sekunde, okay?”
“Warten? Es geht hier um meine kleinen Mädchen, Cartwright. Ich brauche Informationen. Ich brauche Hilfe…”
Der Deputy Direktor seufzte tief, und Reid wusste sofort, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.
“Du gehst nicht auf diesen Einsatz, Agent”, befahl ihm Cartwright. “Du bist da zu nah dran.”
Reids Brust bebte, seine Wut brach erneut aus. “Was redest du da?” fragt er leise. “Was für einen Mist redest du da? Ich gehe auf die Suche nach meinen Mädchen —”
“Das tust du nicht.”
“Das sind meine Kinder…”
“Hör dir doch einfach mal selbst zu”, antwortete Cartwright scharf. “Du zeterst. Du bist emotional. Das ist ein Interessenkonflikt. Wir können das nicht zulassen.”
“Du weißt genau, dass ich die beste Person dafür bin”, gab Reid eindringlich zurück. Niemand sonst würde auf die Suche nach seinen Kindern gehen. Das war seine Aufgabe. Er musste es tun.
“Tut mir leid, aber du hast einfach die Angewohnheit, die falsche Art von Aufmerksamkeit auf dich zu lenken”, sagte Cartwright, als sei dies eine Erklärung. “Die Bosse von oben versuchen, eine… wollen wir es eine Wiederholungsvorstellung nennen, zu vermeiden.”
Reid sträubte sich. Er wusste ganz genau, wovon Cartwright sprach, doch er konnte sich nicht wirklich daran erinnern. Vor zwei Jahren starb seine Frau, Kate, und Kent Steele vergrub seine Trauer in Arbeit. Er brach für Wochen alleine auf und unterbrach jegliche Kommunikation mit seinem Team, während er Mitglieder von Amun und Hinweise in ganz Europa verfolgte. Er weigerte sich, nach Hause zurückzukehren, als die CIA es ihm befahl. Er hörte auf niemanden – weder auf Maria Johansson, noch auf seinen besten Freund, Alan Reidigger. Soweit Reid verstand, hinterließ er einen Haufen Leichen in seinem Kielwasser, was die meisten nichts anderes als einen Amoklauf nannten. Dies war sogar der Hauptgrund, dass Aufrührer aus der ganzen Welt den Namen “Agent Null” mit genau so viel Angst wie Verachtung flüsterten.
Als es der CIA letztendlich zu viel wurde, schickten sie jemanden, um ihn stillzulegen. Sie schickten Reidigger nach ihm. Doch Alan brachte Kent Steele nicht um, er fand einen anderen Ausweg. Er verwendete einen experimentellen Gedächtnishemmer, der es ihm ermöglichte, alles über sein Leben in der CIA zu vergessen.
“Ich verstehe schon. Ihr habt Angst davor, was ich tun könnte.”
“Genau”, stimmte Cartwright ihm zu. “Damit triffst du den Nagel auf den Kopf.”
“Das solltet ihr auch.”
“Null”, warnte ihn der Deputy Direktor, “tu es nicht. Lass das einfach uns regeln, damit alles schnell, leise und sauber abläuft. Ich sage es dir nicht nochmal.”
Reid legte auf. Er würde seine Mädchen suchen, mit oder ohne die Hilfe der CIA.
Kapitel drei
Nachdem er das Gespräch mit dem Deputy Direktor abgewürgt hatte, stand Reid vor Saras Schlafzimmertür. Er hatte seine Hand am Türknauf. Er wollte nicht eintreten, doch er musste es tun.
Stattdessen lenkte er sich mit den ihm bekannten Details ab und ließ sie noch einmal vor sich abspielen: Reid hatte das Haus durch eine nicht abgeschlossene Tür betreten. Es gab keine Anzeichen von Einbruch, kein Fenster oder Türschloss war beschädigt. Thompson hatte versucht, ihn abzuwehren, es war zu einen Kampf gekommen. Letztendlich war der alte Mann jedoch an Messerstichen in der Brust erlegen. Keine Schüsse waren gefeuert worden, doch die Glock, die Reid in der Nähe der Eingangstür aufbewahrt hatte, war verschwunden. Das gleiche galt für die Smith & Wesson, die Thompson ständig an der Hüfte trug. Das bedeutete, dass Rais jetzt bewaffnet war.
Doch wohin würde er sie bringen? Keiner der Beweise am Tatort, zu dem sein Zuhause geworden war, führte zu einem Ziel.
In Saras Zimmer stand immer noch das Fenster offen und die Feuerleiter war weiterhin von der Fensterbank entrollt. Es schien, als hätten seine Töchter versucht, oder zumindest mit dem Gedanken gespielt, sie herunterzuklettern. Es war ihnen jedoch nicht gelungen.
Reid schloss seine Augen und atmete tief in seine Hände, er unterdrückte die sich androhenden weiteren Tränen, die neuen Angstgefühle. Stattdessen zog er das Aufladegerät ihres Handys, das immer noch neben ihrem Nachttisch angeschlossen war, aus der Steckdose.
Er hatte ihr Telefon auf dem Kellerboden gefunden, doch die Polizei darüber nicht informiert. Genauso wenig hatte er ihnen das Foto gezeigt, das auf das Handy geschickt wurde – das mit der Absicht geschickt wurde, es ihn sehen zu lassen. Er konnte das Handy nicht übergeben, obwohl es ganz klar ein Beweisstück war.
Er würde es vielleicht brauchen.
In seinem eigenen Schlafzimmer schloss Reid Saras Handy an die Steckdose, hinter seinem Bett, an. Er stellte es auf lautlos und aktivierte dann die Weiterleitung von Anrufen und Nachrichten zu seiner Nummer. Zum Schluss versteckte er es zwischen seiner Matratze und dem Lattenrost. Er wollte nicht, dass die Polizei es beschlagnahmte. Es musste aktiv bleiben, falls noch mehr Sticheleien ankämen. Sie würden zu seinen Anhaltspunkten werden.
Rasch stopfte er ein paar Kleidungsstücke in eine Tasche. Er wusste nicht, wie lange er wegbliebe, wie weit er gehen müsste. Bis zum Ende der Welt, falls notwendig.
Er zog seine Sportschuhe aus und wechselte zu Stiefeln. Er verstaute sein Portemonnaie in oder obersten Schublade seiner Kommode. In diesem Möbelstück, tief im Inneren eines Paar Herrenschuhen versteckt, befand sich ein Bündel von Banknoten, das er für einen Notfall zurückgelegt hatte. Es waren fast fünfhundert Dollar. Er nahm alles mit.
Auf der Kommode stand ein gerahmtes Foto seiner Mädchen. Seine Brust spannte sich beim bloßen Blick darauf an.
Maya hatte ihren Arm um Saras Schultern gelegt. Beide Mädchen hatten ein breites Lächeln auf den Lippen. Sie saßen ihm gegenüber in einem Fischrestaurant, während er dieses Foto gemacht hatte. Es stammte von einem Familienurlaub in Florida im letzten Jahr. Er konnte sich gut daran erinnern. Er hatte den Schnappschuss nur ein paar Momente, bevor ihr Essen serviert wurde, gemacht. Maya hatte einen Daiquiri ohne Rum vor sich. Sara einen Vanille-Milchshake.
Sie waren glücklich. Lächelten. Zufrieden. Sicher. Bevor er diese ganze Horrorgeschichte ausgelöst hatte, waren sie sicher. Als dieses Foto gemacht wurde, schien die reine Idee, dass sie von Radikalen verfolgt würden, die ihnen etwas antun wollten, von Mördern entführt, aus einer kranken Fantasiewelt zu stammen.
Das ist alles deine Schuld.
Er drehte den Rahmen um und riss die Rückseite auf. Während er dies tat, versprach er sich selbst etwas. Wenn er sie gefunden hatte – und er würde sie finden – dann wäre er fertig damit. Fertig mit der CIA. Fertig mit den geheimen Einsätzen. Fertig damit, die Welt zu retten.
Zum Teufel mit der Welt. Ich will einfach nur, dass meine Familie sicher ist und in Sicherheit bleibt.
Er würde weggehen, weit weg ziehen, ihre Namen ändern, falls notwendig. Das Einzige, was ihm für den Rest seines Lebens noch etwas bedeutete, wäre ihre Sicherheit, ihr Glück. Ihr Überleben.
Er nahm das Foto aus dem Rahmen, faltete es auf die Hälfte und steckte es in seine innere Jackentasche.
Er bräuchte eine Waffe. Er könnte wahrscheinlich eine in Thompsons Haus finden, direkt nebenan, würde er es schaffen, dort hineinzukommen, ohne dass die Polizei oder das Notfallpersonal ihn sähen —
Jemand räusperte sich lautstark im Flur, offensichtlich ein Warnsignal, das ihm galt, falls er einen Moment Zeit bräuchte, um sich zusammenzureißen.
“Mr. Lawson.” Der Mann trat in die Tür des Schlafzimmers. Er war klein und hatte einen Bauch, doch harte Falten standen in seinem Gesicht. “Mein Name ist Detective Noles von der Alexandria Polizeibehörde. Ich verstehe, dass dies ein besonders schwieriger Moment für sie ist. Ich weiß, dass sie den Kollegen vom Notdienst schon eine Aussage gemacht haben, doch ich habe noch einige weitere Fragen an Sie, die ich gerne in der Akte hätte. Würden Sie mich bitte auf das Revier begleiten?”
“Nein.” Reid griff nach seiner Tasche. “Ich werde jetzt meine Mädchen finden.” Er marschierte am Kriminalbeamten vorbei aus dem Zimmer.
Noles folgte ihm schnell. “Mr. Lawson, wir raten Bürgern stark davon ab, in Fällen wie diesen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Lassen Sie uns unseren Job machen. Am besten wäre es, Sie kämen an einem sicheren Ort unter, bei Freunden oder Familie, aber bleiben Sie bitte in der Nähe…”
Am Ende der Treppe hielt Reid an. “Detective, stehe ich bei der Entführung meiner eigenen Töchter unter Verdacht?” fragte er mit einer leisen, feindlichen Stimme.
Noles starrte geradeaus. Seine Nasenlöcher bliesen sich kurz auf. Reid wusste, dass der Beamte im Training gelernt hatte, diese Art von Situation feinfühlig anzugehen, um die Familien der Opfer nicht noch weiter zu traumatisieren.
Doch Reid war nicht traumatisiert. Er war wütend.
“Wie schon gesagt, ich habe nur ein paar weitere Fragen”, erklärte Noles vorsichtig. “Ich möchte Sie bitten, mich auf das Revier zu begleiten.”
“Ich lehne ihre Fragen ab”, gab Reid mit einem starren Blick zurück. “Ich steige jetzt in mein Auto ein. Wenn Sie mich irgendwo hinbringen wollen, dann müssen Sie das in Handschellen tun.” Er wollte diesen stämmigen Kriminalbeamten einfach nur loswerden. Für einen kurzen Moment dachte er sogar darüber nach, seine CIA-Referenzen zu erwähnen, doch er hatte nichts bei sich, mit dem er sie belegen könnte.
Noles sagte nichts, als Reid auf dem Absatz kehrt machte und das Haus in Richtung Auffahrt verließ.
Er folgte ihm dennoch durch die Tür und über den Rasen. “Mr. Lawson, ich werde Sie nur noch einmal darum bitten. Denken Sie doch einen Moment darüber nach, wie das aussieht, dass Sie ihre Tasche packen und aus dem Haus stürmen, das wir gerade durchsuchen.”
Ein Ruck von glühend heißem Zorn durchfuhr Reid, vom Ende seiner Wirbelsäule bis hoch in seinen Kopf. Fast hätte er seine Tasche zu Boden fallen lassen, um Detective Noles einen ordentlichen Kieferhaken zu verpassen, dafür, dass er auch nur entfernt darauf andeutete, dass er damit etwas zu tun gehabt hätte.