„Hallo Dylan, hallo Madison. Wie geht es euren Eltern?“
Cassie zuckte zusammen, da sie offensichtlich nicht auf dem neuesten Stand zu sein schien und sie mit Ryan noch nicht besprochen hatte, wie sie darauf reagieren sollte. Als sie nach den richtigen Worten suchte, sagte Dylan: „Es geht ihnen gut, danke Martha.“
Cassie war dankbar über Dylans kurze Antwort, obwohl seine Gelassenheit sie überraschte. Sie hatte aufgebrachtere Reaktionen von ihm und Madison erwartet. Vielleicht hatte Ryan ihnen aufgetragen, nicht darüber zu sprechen, wenn jemand nicht Bescheid wusste. Vermutlich war das der Grund, schließlich schien die Frau in Eile zu sein und ihre Frage war nur eine höfliche Formalität gewesen.
„Hallo Martha, ich bin Cassie Vale“, sagte sie.
„Du klingst, als kämst du aus den Staaten. Arbeitest du für die Ellis-Familie?“
Wieder zuckte Cassie zusammen.
„Ich helfe nur aus“, sagte sie, da sie trotz ihres informellen Einverständnisses mit Ryan vorsichtig sein musste.
„Es ist so schwer, gute Hilfskräfte zu finden. Wir selbst haben gerade Not am Mann. Erst gestern wurde eine unserer Kellnerinnen ausgewiesen, weil sie nicht die richtigen Papiere hatte.“
Sie sah Cassie an, die schnell zum Tisch blickte. Was meinte die Frau? Verdächtigte sie Cassie, kein Arbeitsvisum zu haben, weil sie mit amerikanischem Akzent sprach?
Wollte sie ihr mitteilen, dass sich die Behörden in der Nachbarschaft umsahen?
Schnell gaben sie und die Kinder ihre Bestellungen auf und die Managerin eilte davon.
Kurze Zeit später erschien eine gestresst wirkende Bedienung, die offensichtlich aus dem Ort zu sein schien, und brachte Pasteten und Pommes.
Cassie wollte nicht länger als nötig sitzen bleiben, um der Managerin keine Gelegenheit zu geben, ihr Gespräch fortzuführen, da das Restaurant sich mittlerweile geleert hatte. Sobald sie aufgegessen hatten, ging sie zum Tresen, um zu bezahlen.
Sie verließen die Teestube auf demselben Weg, den sie auch gekommen waren. An einem Zoogeschäft machten sie Halt, um Fischfutter für die Tiere zu kaufen, die Dylan Orange und Lemon genannt hatte. Außerdem brauchte sein Hase, Benjamin Bunny, frische Streu.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle hörte Cassie Musik und sie bemerkte eine Gruppe von Leuten, die sich auf dem gepflasterten Marktplatz versammelt hatten.
„Was machen die Leute dort?“, fragte Madison, die die Aktivitäten ebenfalls bemerkt hatte.
„Können wir schauen gehen, Cassie?“, fragte Dylan.
Sie überquerten die Straße und entdeckten, dass Straßenkünstler ihre Zelte aufgeschlagen hatten.
In der nördlichen Ecke des Platzes spielte eine Live-Band, die aus drei Musikern bestand und auf der gegenüberliegenden Seite wurden Ballontiere hergestellt. Eltern mit kleinen Kindern standen bereits Schlange.
In der Mitte führte ein Magier, der Frack und Zylinder trug, seine Tricks vor.
„Oh, wow. Ich liebe Zaubertricks“, flüsterte Madison.
„Ich auch“, stimmte Dylan ihr zu. „Ich möchte mehr darüber lernen und erfahren, wie sie funktionieren.“
Madison verdrehte die Augen.
„Ganz einfach. Zauberei!“
Als sie ankamen, hatte der Magier gerade einen Trick vollendet, die Menge staunte und applaudierte und ging dann weiter. Der Zauberer drehte sich zu ihnen.
„Willkommen, liebe Leute. Vielen Dank, dass ihr an diesem wundervollen Nachmittag euren Weg zu mir gefunden habt. Aber sag mal, kleines Fräulein, ist dir nicht ein bisschen kalt?“
Er winkte Madison zu sich.
„Kalt? Mir? Nein.“ Sie machte einen Schritt nach vorne und lächelte vorsichtig.
Er streckte seine leeren Hände aus, ging auf sie zu und klatschte dann neben Madisons Kopf.
Sie keuchte. Als er seine Hände nach unten hielt, sah sie einen kleinen Spielzeugschneemann.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte sie.
Er gab ihr das Spielzeug.
„Er war die ganze Zeit auf deiner Schulter und ist mir dir gereist“, erklärt er und Madison lachte sowohl begeistert als auch ungläubig.
„Also, dann wollen wir mal sehen, wie schnell eure Augen sind. Und so funktioniert’s. Ihr wettet gegen mich – egal, wie viel. Und ich bewege vier Karten hin und her. Wer erraten kann, wo die Königin gelandet ist, verdoppelt sein Geld. Wer falsch liegt, geht mit leeren Händen von dannen. Also, wer möchte wetten?“
„Ich! Kann ich etwas Geld haben?“, fragte Dylan.
„Klar. Wie viel möchtest du denn verlieren?“ Cassie wühlte in ihrer Jackentasche herum.
„Fünf Pfund, bitte. Dann kann ich zehn gewinnen.“
Cassie, die die Menge bemerkt hatte, die sich hinter ihnen versammelte, gab Dylan das Geld.
„Das sollte kein Problem für dich sein, junger Mann. Ich kann sehen, dass du schnelle Augen hast. Aber vergiss nicht – die Königin ist eine hinterlistige Dame, die schon viele Schlachten gewonnen hat. Sieh gut zu, wenn ich die vier Karten austeile. Ich lege sie mit dem Bild nach oben ab, damit jeder es sehen kann. Das ist fast schon zu einfach. Es ist, als würde ich Geld hergeben. Die Herz-Königin, das Pik-Ass, die Kreuz-Neun und der Bube in Karo. Schließlich sagt man ja über die Ehe: Sie beginnt mit Herzen und endet mit Hacke und Pickel.“
Das Publikum hinter ihnen lachte.
Die Aussage des Zauberers über eine zerbrochene Ehe bereitete Cassie Sorgen und sie betrachtete nervös die Kinder, doch Madison schien den Witz nicht verstanden zu haben und Dylans Aufmerksamkeit war auf die Karten gerichtet.
„Jetzt drehe ich sie um.“
Eine Karte nach der anderen wurde verdeckt.
„Und jetzt bewege ich sie.“
Geschwind, aber nicht zu schnell, mischte er die vier Karten. Es war eine Herausforderung, der Königin zu folgen, doch als er stoppte, war sich Cassie ziemlich sicher, dass sich die Königin ganz rechts befinden musste.
„Wo ist die werte Königin?“, fragte der Zauberer.
Dylan hielt inne und zeigte dann auf die Karte ganz rechts.
„Bist du dir sicher, junger Mann?“
„Ja“, Dylan nickte.
„Du hast noch die Chance, deine Meinung zu ändern.“
„Nein, ich bleibe dabei. Sie muss einfach dort sein.“
„Sie muss einfach dort sein. Nun, dann wollen wir mal sehen, ob unsere Königin gleicher Meinung ist oder ob einer ihrer Konsorten sie verstecken konnte.“
Er drehte die Karte um und Dylan stöhnte hörbar.
Es war der Bube in Karo.
„Verdammt“, sagte er.
„Der Bube. Immer bereit, seine Königin zu beschützen. Treu und loyal bis zum Ende. Doch die Königin der Herzen, dem Zeichen der Liebe, entzieht sich uns noch immer.“
„Also, wo ist die Königin?“
„Ja, wo ist sie?“
Cassie hatte bemerkte, dass er beim Mischen der Karten eine Karte überhaupt nicht berührt hatte – die auf der linken Seite. Das war das Pik-Ass gewesen.
„Ich glaube, sie ist dort“, riet sie und zeigte auf die Karte.
„Ah, eine clevere Frau, zeigt auf die eine Karte, von der sie weiß, dass sie es unmöglich sein kann. Aber wisst ihr was? Wunder geschehen.“
Geschwind deckte er die Karte auf und dort war sie – die Königin.
Gelächter und Applaus füllten den Marktplatz und Cassie freute sich, als Dylan und Madison ihr ein High-Five schenkten.
„Wie schade, dass Sie kein Geld gesetzt haben, meine Dame. Sie wären jetzt ein bisschen reicher, aber so ist das Leben. Wer braucht schon Geld, wenn man von der Liebe selbst erwählt wurde?“
Cassie spürte, wie ihre Wangen rot wurden. Schön wär’s, dachte sie.
„Als Erinnerung dürfen Sie die Karte behalten.“
Er steckte sie in eine Papiertüte und schloss diese mit einem Aufkleber, bevor er sie Cassie übergab, die sie in das Seitenfach ihrer Handtasche steckte.
„Ich frage mich, was geschehen wäre, wenn ich diese Karte ausgewählt hatte“, meinte Dylan, als sie davongingen.
„Ich bin mir sicher, es wäre der Karo-Bube gewesen“, sagte Cassie. „So verdient er sein Geld – er vertauscht die Karten, wenn Leute Geld wetten.“
„Seine Hände waren so schnell“, sagte Dylan und schüttelte den Kopf.
„Ich nehme an, dafür braucht man eine natürliche Begabung und muss jahrelang trainieren“, antwortete Cassie.
„Vermutlich“, stimmte Dylan ihr zu, als sie die Bushaltestelle erreichten.
„Ich glaube, dass auch Irreführung eine Rolle spielt, aber ich weiß nicht, wie das funktioniert, wenn vier Karten so nah beieinander liegen.“
„Ok, lass uns üben. Versuche, mich irrezuführen, Cassie“, bat Madison.
„Das werde ich, aber jetzt kommt der Bus. Lass uns erst einsteigen.“
Madison drehte sich um und während sie abgelenkt war, zog Cassie den Karamellapfel aus ihrer Jackentasche.
„Hey! Was hast du getan? Ich habe etwas gespürt. Und da ist gar kein Bus.“ Madison drehte sich um, sah, dass Dylan laut auflachte und hielt kurz inne, während sie realisierte, was geschehen war. Dann kicherte auch sie.
„Du hast mich erwischt!“
„Es ist nicht immer so einfach. Ich hatte Glück.“
„Der Bus kommt, Madison“, sagte Dylan.
„Ich werde mich nicht umdrehen. Du kannst mich nicht zwei Mal austricksen.“ Noch immer lachend verschränkte sie ihre Arme.
„Dann wirst du wohl hierbleiben müssen“, meinte Dylan, als der schlanke, einstöckige Bus vor ihnen stehen blieb.
Währen der kurzen Fahrt gaben sie alle ihr Bestes, sich gegenseitig in die Irre zu führen. Als sie ihre Haltestelle erreichten, schmerzte Cassies Bauch vor lauter Lachen und sie war glücklich, dass der Tag ein Erfolg gewesen war.
Als sie die Haustüre aufschloss, vibrierte ihr Handy. Es war eine Nachricht von Ryan, der ankündigte, Pizza nach Hause zu bringen und wissen wollte, ob sie etwas nicht mochte.
Sie schrieb zurück. „Ich bin für alles zu haben, danke.“ Als sie kurz davor war, die Nachricht abzuschicken, bemerkte sie, wie das klingen musste.
Mit roten Wangen löschte sie die Nachricht und ersetzte die Worte mit „Mir schmeckt eigentlich alles, danke.“
Eine Minute später klingelte ihr Handy erneut und sie griff schnell danach, um Ryans Antwort zu lesen.
Aber die Nachricht war nicht von ihm. Sie war von Renee, einer alten Schulfreundin aus den Staaten.
„Hey, Cassie. Heute Morgen hat jemand nach dir gesucht. Eine Frau. Sie rief aus Frankreich an. Sie war auf der Suche nach dir, wollte aber nicht mehr sagen. Kann ich ihr deine Nummer geben?“
Cassie las die Nachricht wieder und wieder durch und plötzlich fühlte sich das Dorf weder abgelegen noch sicher an.
Die Verhandlung ihres ehemaligen Arbeitgebers in Paris stand an und sein Verteidigungsteam suchte nach weiteren Zeugen – sie befürchtete, dass sich das Netz über ihr zusammenzog.
Kapitel sieben
Als sie den Kindern bei ihrer Abendroutine half, ihnen im Bad und beim Umziehen zur Seite stand, konnte Cassie die verstörende Nachricht nicht vergessen. Sie versuchte, sich davon zu überzeugen, dass Pierre Dubois‘ Anwaltsteam sie vermutlich direkt kontaktiert hätte ohne eine alte Schulfreundin ausfindig machen zu müssen. Aber die Tatsache blieb: Jemand suchte nach ihr.
Und sie musste dringend herausfinden, wer.
Nachdem sie das Badezimmer aufgeräumt hatte, antwortete sie Renee.
„Hat die Frau dir eine Nummer oder einen Namen hinterlassen?“
Sie ließ ihr Handy im Zimmer und ging zur Küche, um Madison dabei zu helfen, den Tisch mit all den Extras zu decken, die zur Pizza passten – Salz, Pfeffer, Knoblauch, Tabasco-Sauce und Mayonnaise.
„Dylan mag Mayo“, erklärte sie. „Ich finde es eklig.“
„Ich auch“, gab Cassie zu und ihr Herz machte einen Sprung, als sie hörte, wie sich die Haustür öffnete.
Madison eilte aus der Küche und Cassie folgte ihr.
„Pizza!“, rief Ryan und übergab Madison die Schachteln. „Es ist schön, drinnen zu sein. Draußen ist es dunkel und eiskalt.“
Er sah Cassie und sein Mund verzog sich zu einem unglaublich attraktiven Grinsen, ganz wie sie es sich erhofft hatte.
„Hallo Cassie! Gut siehst du aus. Wie ich sehe, hat die frische Meeresluft ordentlich Farbe in deine Wangen gebracht. Ich kann es kaum erwarten, von eurem Tag zu hören.“
Cassie lächelte zurück und war dankbar, dass er annahm, die frische Luft hatte ihre Wangen gerötet – nicht die Tatsache, dass sie wegen seines Erscheinens aufgeregt und merkwürdig verlegen geworden war.
Sie versuchte sich einzureden, dass es vermutlich das Beste wäre, diese Schwärmerei für ihren Chef abzulegen.
Einige Minuten später gesellte sich Ryan zu ihnen in die Küche und Cassie sah, dass er eine braune Papiertüte in der Hand hielt.
„Ich habe Geschenke mitgebracht“, kündigte er an.
„Was denn?“, fragte Madison.
„Geduld, mein Liebling. Setzt euch hin.“
Als die Kinder am Tisch saßen, öffnete er die Tüte.
„Maddie, das ist für dich.“
Es war ein schwarzes, enganliegendes Top mit einem Slogan in glitzerndem Pink, der auf dem Kopf geschrieben war.
„Das ist mein Handstand-Shirt“, stand auf dem Oberteil.
„Oh, wie hübsch. Ich kann es kaum erwarten, das Top in die Turnhalle anzuziehen“, sagte Madison und ihre Augen leuchteten, als sie das Shirt drehte und wendete und dabei zusah, wie es im Licht glitzerte.
„Das ist für dich, Dylan.“
Sein Geschenk war ein neongelbes, langärmeliges Fahrradshirt.
„Cool, Dad. Danke.“
„Ich hoffe, es trägt zu deiner Sicherheit bei, jetzt wo es morgens so dunkel ist. Und das ist für dich, Cassie.“
Zu Cassies Erstaunen zog Ryan ein Paar eleganter, warmer Handschuhe aus der Tasche. Ihre Augen weiteten sich, als ihr klar wurde, dass es sich fast um dieselben Handschuhe handelte, die sie in der Stadt anprobiert hatte.“
„Oh, wie wunderhübsch. Und so praktisch.“
Entsetzt stellte Cassie fest, dass ihre Schwärmerei für Ryan so garantiert nicht abklingen würde, denn sie stellte sich gerade vor, mit ihm auf der Terrasse zu sitzen und Wein zu trinken.
„Ich hoffe, sie passen dir. Ich habe versucht, mir deine Hände vorzustellen, als ich sie gekauft habe“, sagte Ryan.
Für einen Moment blieb Cassie der Atem weg und sie fragte sich, ob er ähnlich dachte wie sie.
„Also, hattet ihr einen schönen Tag?“, fragte Ryan.
„Wir hatten so viel Spaß. In der Stadt war ein Magier. Er hat mir einen Schneemann geschenkt und Dylan fünf Pfund leichter gemacht. Aber dann hat Cassie erraten, wo die Karte war und sie gewonnen – aber leider kein Geld.“
„Welche Karte hat sie gewonnen?“, fragte Ryan seine Tochter.
„Die Herz-Königin, also hat der Magier gesagt, dass sie bald Liebe finden wird.“
Cassie nahm einen Schluck Orangensaft, weil sie nicht wusste, wo sie hinschauen sollte und zu schüchtern war, um Ryans Blick aufzufangen.
„Nun, ich denke, Cassie verdient diese Karte und alles, was sie mit sich bringt“, sagte Ryan und sie verschüttete fast ihren Saft, als sie das Glas abstellte.
„Was habt ihr danach gemacht?“, fragte er.
„Wir haben auf dem Weg zum Bus über Irreführungen geredet und Cassie hat mich ausgetrickst und meinen Karamellapfel gestohlen!“
Die Worte strömten nur so aus Madison heraus und obwohl Dylan mit seiner Pizza beschäftigt war, nickte er enthusiastisch.
„Wir haben dir auch etwas mitgebracht“, sagte Cassie und gab ihm schüchtern die Cashewnüsse.
„Mein Lieblingssnack! Ich habe einen anstrengenden Tag vor mir und werde die Nüsse mitnehmen und zu Mittag essen. Welch Überraschung. Danke für das aufmerksame Geschenk.“
Während der letzten Worte sah er Cassie an und seine blauen Augen hielten ihren Blick mehrere Sekunden lang fest.
Nachdem die Pizzen verschlungen waren – Cassies fehlender Appetit wurde von Ryan und seinen Kindern wettgemacht, am Ende war der Teller blitzeblank – nahm Cassie die Kinder mit ins Familienzimmer zum Fernsehen. Nach einer Talentshow, die ihnen allen gefiel, brachte sie sie ins Bett.
Die Abenteuer des Tages und die Talentshow, in der es auch um zwei Turnschülergruppen gegangen war, beschäftigten Madison noch länger.