Reid glaubte zu wissen, worüber Reidigger schrieb – die Verschwörung. Ein kurzes Aufblitzen einer Erinnerung, das ihn überkam, während er Imam Khalil und den Pockenvirus jagte, hatte ihm gezeigt, dass er etwas wusste, bevor der Gedächtnishemmer in seinen Kopf implantiert wurde.
Er schloss seine Augen und kehrte zu der Erinnerung zurück:
Das geheime Gefängnis der CIA in Marokko. Offizielle Bezeichnung H-6, genannt Hölle-Sechs. Eine Vernehmung. Du ziehst die Fingernägel eines arabischen Mannes, um Informationen über den Standort eines Bombenherstellers zu bekommen.
Zwischen Schreien und Wimmern und Beschwörungen, dass er es nicht weiß, kommt etwas anderes heraus – ein bevorstehender Krieg. Etwas Großes, das sich annähert. Eine Verschwörung, die von der US Regierung konzipiert wurde.
Du glaubst ihm nicht. Nicht zu Beginn. Doch du konntest es nicht einfach vergessen.
Er wusste damals etwas. Er hatte angefangen, es wie ein Puzzle zusammenzufügen. Dann geschah Amun. Kate wurde ermordet. Er wurde abgelenkt und während er schwor, dazu zurückzukehren, hatte er niemals die Möglichkeit.
Er las den Rest von Alans Brief:
Was auch immer es war, es ist immer noch da, irgendwo in deinem Gehirn verschlossen. Wenn du es jemals brauchen solltest, so gibt es einen Weg. Der Neurochirurg, der das Implantat installierte, nennt sich Dr. Guyer. Zuletzt arbeitete er in Zürich. Er könnte alles wiederbringen, wenn du dich dazu entscheidest. Oder er könnte alle Erinnerungen erneut unterdrücken, solltest du das wollen. Die Wahl liegt an dir. Möge Gott dich behüten, Null. – Alan
Reid konnte sich nicht daran erinnern, wie oft er vor dem Computer oder seinem Telefon gesessen war und versuchte, seine Finger dazu zu motivieren, Dr. Guyers Namen in eine Suchleiste einzugeben. Sein Verlangen danach, seine Erinnerung zurückzubekommen – nein, sein Bedürfnis, sie wiederzuerlangen, wurde jede Woche intensiver. Er war an dem Punkt angelangt, an dem es sich dringend anfühlte, auch nur zu wissen, wie viel er nicht wusste. Er musste dazu fähig sein, sich an seine eigene Vergangenheit zu erinnern.
Doch ich kann die Mädchen nicht alleine lassen. Nach dem Vorfall war es ganz unmöglich, einfach so in die Schweiz zu reisen. Er wäre durch und durch neurotisch um ihre Sicherheit besorgt, selbst mit den Ortungsimplantaten. Selbst wenn Agent Strickland sie bewachte. Was dächten sie außerdem von ihm? Maya glaubte ihm niemals, dass es aufgrund eines medizinischen Verfahrens war. Sie dächte, dass er wieder im Einsatz wäre.
Dann nimm sie mit. Der Gedanke sprang ihm so einfach in den Kopf, dass er sich fast dafür auslachte, nicht zuvor daran gedacht zu haben. Doch er schloss ihn genauso schnell wieder aus. Was wäre mit seinem Job? Was wäre mit Saras Therapie? Hatte er nicht gerade versucht, Maya zu überreden, wieder zur Schule zu gehen?
Denk nicht zu viel darüber nach, sagte er sich selbst. War die einfachste Lösung für gewöhnlich nicht die beste? Nichts hatte bisher gefruchtet, um Sara aus ihrem Trauma zu locken und Maya schien fest entschlossen zu sein, wie gewöhnlich ihren Dickkopf durchzusetzen.
Reid drückte Reidiggers Ausfalltasche zurück in den Schrank und stellte sich auf die Beine. Bevor er sich selbst davon überzeugen könnte, seine Meinung zu ändern, schritt er den Flur entlang zu Mayas Zimmer und klopfte schnell an ihre Tür.
Sie öffnete sie und verschränkte ihre Arme, war offensichtlich immer noch verärgert über ihn. “Was?”
“Lass uns verreisen.”
Sie blinzelte ihn an. “Was?”
“Lass uns verreisen, uns drei”, wiederholte er und drängte sich an ihr vorbei in ihr Schlafzimmer. “Schau mal, es war falsch von mir, den Vorfall zu erwähnen. Ich kann das jetzt verstehen. Sara muss nicht daran erinnert werden, ganz im Gegenteil.” Er sprach schnell, gestikulierte mit den Händen, doch fuhr fort: “Den ganzen letzten Monat über hat sie nur rumgelegen und darüber nachgedacht, was geschehen ist. Vielleicht braucht sie eine Ablenkung. Vielleicht muss sie nur ein paar schöne Erlebnisse haben, um sich daran zu erinnern, wie gut das Leben sein kann.”
Maya legte die Stirn in Falten, als ob es ihr schwerfiele, seiner Logik zu folgen. “Also willst du auf Reisen gehen. Wohin?”
“Lasst uns Skifahren”, antwortete er. “Erinnerst du dich daran, als wir nach Vermont fuhren, vor vier oder fünf Jahren? Weiß du noch, wie sehr Sara den Hasenhügel liebte?”
“Ich erinnere mich”, entgegnete Maya, “aber Papa, es ist April. Die Skisaison ist vorbei.”
“Nicht in den Alpen!”
Sie starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. “Du willst in die Alpen reisen?”
“Ja. In die Schweiz, um es genau zu nehmen. Und ich weiß, dass du das für verrückt hältst, aber ich denke ganz klar darüber. Wir tun uns keinen Gefallen damit, hier herumzuhängen. Wir brauchen einen Tapetenwechsel – besonders Sara.”
“Aber… was ist mit deiner Arbeit?”
Reid zuckte mit den Schulter. “Ich mache blau.”
“Das sagt man nicht mehr so.”
“Ich kümmere mich darum, was ich der Uni erzähle”, sagte er. Und der Agentur. “Die Familie kommt zuerst dran.” Reid war sich fast sicher, dass die CIA ihn nicht dafür feuern würde, weil er etwas freie Zeit mit seinen Mädchen bräuchte. Er war sich ziemlich sicher, dass sie ihn nicht kündigen ließen, selbst wenn er es wollte. “Saras Gips wird morgen abgenommen. Wir können diese Woche fahren. Was sagst du?”
Maya spitzte ihren Mund. Er kannte diesen Ausdruck, sie gab ihr bestes, um ein Grinsen zurückzuhalten. Sie war immer noch nicht gerade glücklich darüber, wie er ihre Nachrichten zuvor aufgenommen hatte. Doch sie nickte. “OK, es macht Sinn. Ja, lass uns verreisen.”
“Super.” Reid ergriff sie an den Schultern und küsste ihre Stirn, bevor sich seine Tochter ihm entwinden konnte. Als er ihr Schlafzimmer verließ, blickte er zurück und ertappte sie definitiv beim Lächeln.
Er schlich in Saras Zimmer und sah, wie sie auf dem Rücken lag und die Decke anstarrte. Sie sah ihn nicht an, als er hereinkam und neben ihrem Bett kniete.
“Hey”, flüsterte er fast. “Es tut mir leid, was vorhin beim Essen geschehen ist. Doch ich habe eine Idee. Was hältst du davon, wenn wir ein wenig verreisen? Nur du und ich und Maya, und wir fahren an einen schönen Ort, weit weg. Würde dir das gefallen?”
Sara drehte ihren Kopf zu ihm, gerade genug, damit ihr Blick den seinen traf. Dann nickte sie leicht.
“Ja? Gut. Dann machen wir das.” Er reichte herüber und nahm ihre Hand in seine. Er war sich fast sicher, dass ihre Finger ein wenig zudrückten.
Das wird funktionieren, sagte er sich. Das erste Mal in einer langen Weile fühlte sich etwas gut für ihn an.
Und die Mädchen mussten nichts von seinem tieferen Beweggrund wissen.
Kapitel fünf
Maria Johansson lief durch die Haupthalle des Atatürk Flughafens in Istanbul in der Türkei und öffnete die Tür zur Damentoilette. Sie hatte die letzten paar Tage damit verbracht, die Spur der drei israelischen Journalisten zu verfolgen, die vermisst wurden. Es gescha, nachdem sie über Imam Khalils Sekte von Fanatikern berichtet hatten, die fast einen tödlichen Pockenvirus in den Industrienationen verbreitet hätten. Man vermutete, dass das Verschwinden der Journalisten möglicherweise etwas mit Khalils überlebenden Anhängern zu tun hatte, doch die Spur verlor sich im Irak, kurz vor ihrem Ziel in Bagdad.
Sie zweifelte stark daran, dass man sie jemals fände, zumindest nicht, bis wer auch immer für ihr Verschwinden verantwortlich war, sich bekannt gab. Ihr Befehl war es derzeitig, eine angebliche Quelle zu verfolgen, die die Journalisten hier in Istanbul hatten und anschließend zu dem regionalen Hauptquartier der CIA in Zürich zurückzukehren, wo es eine Nachbesprechung gäbe und man sie möglicherweise zu einem anderen Einsatz schickte, falls dieser nichts Weiteres ergab.
Doch in der Zwischenzeit hatte sie ein anderes Treffen.
In einer der Toilettenkabinen öffnete Maria ihre Handtasche und entnahm ihr eine wasserdichte Tüte aus dickem Plastik.
Bevor sie ihr Telefon, das ihr von der CIA ausgestellt wurde, darin versiegelte, rief sie die Mailbox ihrer privaten Linie an.
Es gab keine neuen Nachrichten. Es schien, als hätte Kent es aufgegeben, zu versuchen, sie zu erreichen. Er hatte ihr mehrere Nachrichten in den letzten Wochen hinterlassen, alle paar Tage eine weitere. In den kurzen, einseitigen Abschnitten hatte er ihr von den Mädchen berichtet, dass Sara immer noch mit dem Trauma der Ereignisse, die sie mitmachen musste, beschäftigt war. Er hatte seine Arbeit für die nationale Ressourcen Division erwähnt und wie langweilig sie war, im Vergleich zu den Einsätzen. Er hatte ihr gesagt, dass er sie vermisste.
Es war eine kleine Erleichterung, dass er es aufgegeben hatte. Jetzt musste sie mindestens nicht mehr der Klang seiner Stimme hören und sich dessen bewusst werden, wie sehr auch sie ihn vermisste.
Maria versiegelte das Telefon in der Plastiktüte und ließ es vorsichtig in den Spülkasten hinunter, bevor sie wieder den Deckel darauflegte. Sie wollte keine neugierigen Ohren riskieren, die ihrer Unterhaltung zuhören könnten.
Dann verließ sie die Toilette und ging den Terminal entlang zu einem Gate, an dem etwa zwei Dutzend Menschen warteten. Das Flugbrett kündigte an, dass das Flugzeug nach Kiew in eineinhalb Stunden abhöbe.
Sie saß in einem festgeschraubten Plastiksitz in einer Reihe von sechs. Der Mann war schon hinter ihr, er saß in der gegenüberliegenden Reihe und blickte in die andere Richtung. Er hielt ein Automagazin geöffnet vor sein Gesicht.
“Studentenblume”, sagte er mit einer rauen, doch leisen Stimme. “Berichte.”
“Es gibt nichts zu berichten”, antwortete sie auf ukrainisch. “Agent Null ist wieder zu Hause mit seiner Familie. Seitdem meidet er mich.”
“Oh?” fragte der Ukrainer neugierig. “Ist das so? Oder vermeidest du ihn?”
Maria blickte finster drein, doch drehte sich nicht, um den Mann anzusehen. Er behauptete so etwas nur, wenn er wüsste, dass es wahr wäre. “Überwacht ihr mein privates Handy?”
“Natürlich”, sagte der Ukrainer offen. “Es scheint, als ob Agent Null sehr dringend mit dir reden möchte. Warum hast du ihn nicht kontaktiert?”
Es ging den Ukrainer zwar nichts an, doch Maria war Kent aus dem einfachen Grund aus dem Weg gegangen, weil sie ihn erneut angelogen hatte – nicht nur einmal, sondern zweimal. Sie hatte ihm gesagt, dass die Ukrainer, mit denen sie arbeitete, Mitglieder des auswärtigen Geheimdienstes waren. Einige der Splittergruppe waren es vielleicht einst gewesen, doch sie waren dem FIS etwa so loyal gegenüber, wie sie es der CIA war.
Die zweite Lüge bestand darin, ihm zu sagen, dass sie nicht mehr mit ihnen arbeiten würde. Kent hatte sein Misstrauen den Ukrainern gegenüber klar ausgesprochen, als sie auf dem Weg waren, seine Töchter zu retten, und Maria hatte halbherzig versprochen, dass sie der Beziehung ein Ende setzen würde.
Doch das hatte sie nicht getan. Noch nicht. Es war auch ein Teil des Grundes für das Treffen in Istanbul. Es war noch nicht zu spät, ihr Wort einzuhalten.
“Wir sind fertig”, erklärte sie kurz. “Ich arbeite nicht mehr mit euch. Ihr wisst, was ich weiß und ich weiß, was ihr wisst. Wir können Informationen austauschen, um einen Fall aufzubauen, doch ich werde nicht mehr eure Botengänge für euch übernehmen. Und ich lasse Null da raus.”
Der Ukrainer war einen langen Moment still. Er schlug lässig eine Seite seines Automagazins um, so als läse er es tatsächlich. “Bist du dir sicher?” fragte er. “Neue Information ist vor kurzem ans Licht gekommen.”
Marias Augenbraue erhob sich instinktiv, doch sie war sich sicher, dass das nur eine Finte war, um sie weiter zu beschäftigen. “Was für neue Information?”
“Information, die dich interessiert”, antwortete der Mann geheimnisvoll. Maria konnte sein Gesicht nicht sehen, doch aufgrund seines Tonfalls hatte sie den Eindruck, dass er grinste.
“Du bluffst”, gab sie unverblümt zurück.
“Das tue ich nicht” versicherte er ihr. “Wir kennen seine Position. Und wir wissen, was geschehen könnte, wenn er seine Haltung beibehält.”
Marias Puls beschleunigte sich. Sie wollte ihm nicht glauben, doch sie hatte kaum die Wahl. Ihre Verwicklung in der Aufdeckung der Verschwörung, ihre Entscheidung, mit ihnen zu arbeiten und zu versuchen, an Information der CIA zu gelangen, bedeutete mehr als nur das Richtige zu tun. Natürlich wollte sie einen Krieg vermeiden, die Täter davon abhalten, ihre fälschlich errungenen Gewinne zu erhalten, unschuldige Menschen davor beschützen, verletzt zu werden. Doch viel mehr noch hatte sie ein persönliches Interesse an dem Komplott.
Ihr Vater war ein Mitglied des nationalen Sicherheitsrats, ein hoher Beamter, was internationale Angelegenheiten anbelangte. Auch wenn es sie beschämte, nur daran zu denken, war es dennoch ihre höchste Priorität, viel höher noch als Leben zu retten oder die Vereinigten Staaten davon abzuhalten, einen Krieg zu beginnen, herauszufinden, ob er daran beteiligt war, ob er ein Mitverschwörer war – und sollte er es nicht sein, ihn in Sicherheit vor jenen zu bringen, die alles täten, um ihren Willen durchzusetzen.
Maria konnte ihn nicht einfach anrufen und fragen. Ihre Beziehung war etwas angespannt, beschränkte sich hauptsächlich auf professionellen Smalltalk über Gesetzgebung und das gelegentliche Gespräch über ihre Privatleben. Wäre er sich der Verschwörung bewusst, dann hätte er außerdem auch keinen Grund, es offen vor ihr zuzugeben. Sollte dem nicht so sein, dann wollte er sicher handeln. Er war ein entschiedener Mann, der an Justiz und das Rechtssystem glaubte. Maria war eher etwas zynisch veranlagt und deshalb auch vorsichtig.
“Was meinst du mit,was geschehen könnte’?” wollte sie wissen. Die rätselhafte Erklärung des Ukrainers schien darauf hinzuweisen, dass ihr Vater nicht eingeweiht war, während sie gleichzeitig auch ein gewisses Gewicht einer Drohung in sich trug.
“Wir wissen es nicht”, antwortete er kurz.
“Wie habt ihr es rausgefunden?”
“E-Mails”, gab der Ukrainer zurück, “die von einem privaten Server stammen. Seine Name war erwähnt, zusammen mit zwei anderen, die… sich vielleicht nicht fügen.”
“Sowas wie eine Abschussliste?” fragte sie geradeheraus.
“Unklar.”
Frust breitete sich in ihrer Brust aus. “Ich will diese E-Mails lesen. Ich will es mit eigenen Augen sehen.”
“Das kannst du ja”, versicherte ihr der Ukrainer. “Doch nur, wenn du nicht darauf bestehst, mit uns zu brechen. Wir brauchen dich, Ringelblume. Du brauchst uns. Und wir alle brauchen Agent Null.”
Sie seufzte. “Nein. Haltet ihn da raus. Er ist zu Hause mit seiner Familie. Er muss sich jetzt darauf konzentrieren. Er ist ja nicht mal mehr ein Agent —”
“Doch er arbeitet immer noch für die CIA.”
“Er hat keine Loyalität zu ihnen —”
“Doch dir gegenüber schon.”
Maria schnaubte. “Er erinnert sich nicht mal ausreichend, um das Wenige, das er weiß, zu verstehen.”
“Die Erinnerungen sind immer noch da, in seinem Kopf. Letztendlich wird er sich erinnern, und wenn es soweit ist, dann musst du da sein. Verstehst du nicht? Wenn er sich an die Information erinnert, dann hat er keine Wahl, dann muss er handeln. Er braucht dich dann, um ihn zu beraten, und er wird deine Ressourcen brauchen, wenn er etwas Sinnvolles dagegen tun möchte.” Der Ukrainer hielt inne, bevor er hinzufügte: “Die Information in Agent Nulls Kopf könnte uns die fehlenden Stücke zur Verfügung stellen oder zumindest zu Beweisen führen. Einen Weg, dies aufzuhalten. Darum geht es doch, oder nicht?”