„Danke“, sagte Susan. Sie fragte sich, ob er das gleiche denken würde, wenn er sie gesehen hätte, wie sie damals weinend in diesem Raum gesessen und gedacht hatte, dass neunzigtausend Menschen oder mehr durch den Ebola-Angriff sterben würden.
Sie nickte zuversichtlich.
Er zeigte mit seinem dicken Zeigefinger auf sie. „Lass mich dir etwas sagen. Ich wusste schon immer, dass du das Zeug dazu hast. Ich kann Menschen gut einschätzen. Das habe ich schon als Kind gelernt und ich habe das gewisse Etwas in dir gesehen, seit du nach DC kamst. Als am sechsten Juni das Unglück passiert ist, habe ich den Leuten gesagt, dass wir in guten Händen sind. Den Überlebenden, den Fernsehinterviewern und mindestens zehntausend Leuten in meinem Bezirk.“
Susan nickte. „Das weiß ich.“ Und das stimmte. Dieser Fakt war ebenfalls bei ihren Nachforschungen immer wieder aufgetaucht. Michael Parowski steht hinter dir.
„Du musst aber etwas über mich wissen“, sagte er. „Du weißt wie ich bin. Ich bin ein großer Typ – nicht nur körperlich. Wenn du jemanden suchst, der sich hinten hinstellt und im Hintergrund verschwindet, dann bin ich wahrscheinlich nicht der Richtige.“
„Michael, wir haben dich auf jede erdenkliche Weise überprüft. Wir wissen alles über dich. Wir wollen nicht, dass du im Hintergrund stehst. Wir wollen dich im Vordergrund. Wir wollen, dass du du selbst bist. Wir wollen deine Stärke. Wir bauen hier eine Regierung auf, und in gewisser Weise bauen wir den Glauben der Leute an Amerika wieder auf. Es wird ein hartes Stück Arbeit, darauf kannst du dich verlassen. Deshalb haben wir dich ausgewählt.“
Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Du weißt alles über mich, wie?“
Sie lächelte. „Na ja, fast alles. Es gibt noch ein Rätsel, das ich gerne lösen würde.“
„Okay, nur zu“, sagte er. „Was ist es?“
„Wenn du bei deinen Veranstaltungen Damen zur Seite ziehst, was flüsterst du ihnen dann zu?“
Er schnaufte. Ein etwas merkwürdiger Blick machte sich auf seinem Gesicht breit. Es sah aus, als würde jahrzehntelange Anspannung etwas von ihm abfallen. Für ein paar Sekunden sah er fast unschuldig aus, wie das Kind, das er einmal gewesen sein musste.
„Ich sage ihnen, wie schön sie heute aussehen“, sagte er. „Dann sage ich: ‚Sagen Sie es nicht weiter. Das bleibt unser kleines Geheimnis.‘ Und das meine ich ernst, jedes Wort davon.“
Er schüttelte den Kopf, und Susan glaubte, eine Art Bewunderung in ihm zu entdecken – über die Menschen, die ihm folgten, über die Politik an sich, über das schiere Ausmaß dessen, was Menschen wie er und Susan jeden einzelnen Tag ihres Lebens leisteten.
„Es funktioniert jedes Mal“, sagte er.
KAPITEL SIEBEN
11:45 Uhr
Atlanta, Georgia
„Geht es Herrn Li gut? Ich habe ihn hier schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.“
Der Mann war klein und dünn, mit einem schmalen und gebeugten Rücken. Er trug eine graue Uniform mit dem Namen Sal, der auf seine Brust gestickt war. Er hatte ständig eine angezündete Zigarette im Mund. Er sprach, während sie in seinem Mundwinkel steckte. Er schien nie die Notwendigkeit zu sehen, sie herauszunehmen, bis sie aufgeraucht war. Dann zündete er sich eine weitere an. In einer Hand trug er einen schweren Bolzenschneider.
„Oh, es geht ihm gut“, sagte Luke.
Sie gingen einen langen, breiten Holzkorridor entlang. Er wurde von flackernden Leuchtstoffröhren beleuchtet. Während sie den Gang hinabschritten, huschte eine kleine Ratte vor ihnen her und verschwand in einem Loch in der Wand. Sal schien sie gar nicht zu bemerken, also ließ Luke sie ebenfalls unkommentiert. Er warf Ed einen Blick zu. Ed lächelte schweigend. Swann hustete hinter ihnen.
Lis Räumlichkeiten befanden sich in einem großen alten Lagerhaus, das über die Jahre in mehrere kleinere Abteile unterteilt worden war. Dutzende von kleinen Firmen mieteten hier Räume. Am Ende des Korridors gab es eine Laderampe und der Korridor selbst war perfekt, um Waren zu verladen.
Sal schien so etwas wie ein Hausmeister zu sein. Anfangs hatte er gezögert, sie hereinzulassen. Aber als Ed ihm seinen FBI-Ausweis zeigte und Swann seine brandneue NSA-Marke herausholte, spielte Sal auf einmal eifrig mit. Luke hatte sein Abzeichen in der Tasche gelassen. Er hatte nur seinen alten Special Response Team Ausweis und das SRT existierte nicht mehr.
„In was für Schwierigkeiten steckt er bloß?“, fragte Sal.
Luke zuckte die Achseln. „Nichts Spektakuläres. Steuerprobleme, Ärger mit Marken- und Patentverletzungen. Was man von einem Kerl erwarten würde, der Waren aus China einführt. So etwas müssen Sie doch ständig sehen, oder? Ich war vor ein paar Jahren mal in Chongking. Dort kann man in die Lagerhäuser am Hafen spazieren und brandneue iPhones für fünfzig Dollar kaufen, oder Breitling-Uhren für hundertfünfzig. Natürlich sind sie nicht echt. Aber wenn man nicht ganz genau hinschaut, sieht man keinen Unterschied.“
Sal nickte. „Sie würden nicht glauben, was ich hier schon erlebt habe.“ Er blieb vor einer Stahltür stehen. „Herr Li schien aber jedenfalls ein netter Mann zu sein. Sein Englisch ist nicht besonders gut, würde ich sagen, aber er kommt zurecht. Und er ist sehr höflich. Er verbeugt sich ständig und lächelt so nett. Aber ich bin mir nicht sicher, wie viel er tatsächlich so verkauft.“
Die Metalltür hatte ein schweres Schloss. Sal hob den Bolzenschneider an und zerschnitt es mit Leichtigkeit.
„Das hätten wir“, sagte er. „Ich hoffe, Sie finden, wonach Sie suchen.“
Er ging bereits den Flur hinunter in Richtung seines Büros.
„Danke für Ihre Hilfe“, rief Ed hinter ihm her.
Sal hob eine Hand. „Ich bin schließlich ein guter Amerikaner“, sagte er, ohne sich umzudrehen.
Ed beugte sich vor und schob die Tür auf. Ohne einzutreten verschafften sie sich einen Überblick über den Raum dahinter. Ed streckte seine Hand hinein und winkte langsam von einer Seite zur anderen und auf und ab, auf der Suche nach möglichen Sprengfallen.
Scheinbar war es nicht nötig. Lis Lagerhaus wies keine Schutzmechanismen auf. Mehr noch, es schien schon vor langer Zeit verlassen worden zu sein. Als Luke den Lichtschalter umlegte, ging nur die Hälfte der Deckenbeleuchtung an. Plastikverpackte Paletten mit billigem Spielzeug waren in Reihen gestapelt und mit grünen Planen abgedeckt. Kisten mit billigen Haushaltsreinigungsmitteln, wie sie in 1-Dollar-Läden und bei Rabattaktionen auftauchen würden, waren in einer Ecke gestapelt, fast bis zur Decke. Alles war mit einer dünnen Staubschicht bedeckt. Das Zeug lag schon eine Weile hier.
Es schien, als hätte Li eine Ladung Schrott importiert, um den Schein zu wahren, und sich dann nie wieder darum gekümmert.
„Das Büro ist dort drüben“, sagte Swann.
In der hinteren Ecke des Lagerhauses befand sich die Tür zu dem kleinen Büro. Sie war aus Holz, mit einem eingelassenen Fenster. Luke versuchte den Knauf zu drehen. Abgeschlossen. Er warf einen Blick auf Ed und Swann.
„Hat einer von euch beiden einen Dietrich? Sonst müssen wir Sal erklären, dass das organisierte Verbrechen jetzt mit Reinigungsmitteln handelt.“
Ed zuckte die Achseln und nahm sein Schlüsselbund aus der Hosentasche. An ihm war eine kleine schwarze Taschenlampe angebracht. Ed hielt die Taschenlampe wie einen Schlagstock und durchschlug mit ihr das Fenster. Er griff durch das Loch und schloss die Tür von innen auf. Er hielt Luke die Taschenlampe hin, damit er sie inspizieren konnte.
„Wie ein Dietrich, nur nicht so elegant.“
Sie gingen hinein. Das Büro war trostlos, aber ordentlich. Es gab kein Fenster. An der Wand stand ein Aktenschrank mit drei Schubladen, der größtenteils leer war. In den unteren Schubladen waren jeweils ein paar Ordner mit Versandpapieren und Quittungen. In der oberen Schublade lagen ein paar Energieriegel und kleine Tüten mit Brezeln und Kartoffelchips, sowie ein paar Flaschen Wasser.
Es gab einen langen Holzschreibtisch, auf dem ein alter Desktop-Computer stand. Auf der einen Seite des Schreibtisches befanden tiefe Schubladen, in denen für gewöhnlich Akten in Hängevorrichtungen aufbewahrt wurden. Diese Schubladen waren verschlossen.
„Ed?“, fragte Luke.
Ed ging hinüber, griff nach der obersten Schublade und riss sie mit roher Gewalt auf. Es sah ein wenig aus, als hätte er einen Trick angewandt, eine Technik, die er eigens dafür entwickelt hatte, solche Schlösser zu knacken. Luke wusste jedoch, dass es nur reine Kraft war.
„Wie ein Dietrich“, sagte er.
Luke nickte. „Nur nicht so elegant.“
In den Schubladen war nicht viel zu finden. Bleistifte, verblasste Schreibwarenreste. Eine ungeöffnete Packung Wrigley-Kaugummis. Ein alter Taschenrechner von Texas Instruments. In einer der Schubladen lagen drei CD-ROMs in schmutzigen Plastikhüllen.
Die Hüllen waren mit den Buchstaben A, B und C beschriftet. Die Hülle von CD C war kaputt.
Swann setzte sich an den Computer und fuhr ihn hoch. „Ziemlich altmodisch“, sagte er. „Das Ding ist wahrscheinlich 20 Jahre alt. Ich wette, es ist nicht einmal mit dem Internet verbunden. Oh Mann, schaut euch das an. Das Teil stammt aus einer Zeit vor Kabelanschlüssen, von WLAN ganz zu schweigen. Es gibt nicht mal einen Anschluss für Cat-5-Kabel. Hierfür bräuchte man ein 56k-Modem. Erinnert sich noch jemand an die Dinger?“
Für Luke ergab das keinen Sinn.
„Warum sollte jemand aus einem Land, das für seine Hacker bekannt ist, einen Computer hier stehen haben, der sich nicht einmal mit dem Internet verbinden könnte, wenn er es wollte?“
Swann zuckte die Achseln. „Ich habe da ein paar Vermutungen.“
„Möchtest du sie mit uns teilen?“
„Erstens, vielleicht ist er überhaupt kein Chinese. Er ist kein Hacker-Genie oder sonst etwas. Der Hack, der den Damm ausgeschaltet hat, war nicht besonders fortschrittlich. Wir wissen, dass das Computersystem vom Damm extrem rückständig war. Vielleicht gehört er einfach zu einer Gruppe, die nicht von der Regierung unterstützt wird.“
„Wenn er kein Chinese ist, was ist er dann?“, fragte Luke.
Swann zuckte die Achseln. „Er könnte Amerikaner sein. Er könnte Kanadier sein. Er hat hohe Wangenknochen und flache Gesichtszüge, was bedeuten könnte, dass er Thailänder ist. Er ist ein großer Kerl, was bedeuten könnte, dass er Nordchinese ist. Er könnte ein Amerikaner asiatischer Abstammung sein. Ich habe nichts an ihm gesehen, was eindeutig auf irgendeine Nationalität hindeuten könnte. Aber ich würde ihn nicht gleich als Chinesen abstempeln, nur weil er einen chinesischen Pass hat.“
„Okay, was ist deine zweite Vermutung?“, fragte Luke.
„Meine zweite Vermutung ist, dass sie sich für dieses altmodische Ding entschieden haben, damit niemand erfahren kann, was sie hier tun. Man kann sich in keinen Computer einhacken, wenn er nicht mit dem Internet verbunden ist. So kann niemand seine Daten auslesen. Der einzige Weg, an diese Daten zu kommen, ist hier in dieses gottverlassene Lagerhaus mitten im Industriegebiet am Rande von Atlanta zu gehen. Und wir wissen nur von diesem Lagerhaus, weil wir Li gefoltert haben, oder ihm angedroht haben, ihn zu foltern. Und das hätte von vornherein eigentlich gar nicht geschehen dürfen, da er sich selbst hätte umbringen sollen, bevor er gefasst wurde. Wenn jemand diesen Computer gefunden hätte, wären es Lis eigene Leute oder im schlimmsten Fall Sal, wenn keiner mehr Miete zahlt. Und der hätte das Ding entweder direkt auf den Müll geworfen oder für 10 Dollar verkauft.“
Der Computerbildschirm ging an und verlangte ein Passwort.
Swann gestikulierte auf dem Bildschirm. „Und das hier wäre schon genug gewesen, um Sal aufzuhalten.“
„Kannst du es knacken?“, fragte Ed.
Swann lächelte verschmitzt. „Machst du Witze? Diese Verschlüsselungen von 1994 sind ein Witz. Ich habe diese Dinger schon geknackt, als ich noch dreizehn Jahre alt war.“
Er tippte einen Befehl ein, und eine schwarze MS-DOS-Konsole erschien in der linken oberen Ecke. Er gab noch ein paar weitere Befehle ein, zögerte einen Moment, tippte weiter, und der Windows-Bildschirm tauchte wieder auf. Dieses Mal verlangte er nicht nach einem Passwort.
Als der Desktop geladen war, klickte Swann sich für ein paar Minuten durch die Ordner. Es dauerte nicht lange. „Hier sind keine Dateien drauf“, sagte er. „Keine Dokumente, keine Tabellen, keine Fotos, nichts.“
Luke blickte über seine Schulter.
„Dieser Computer ist komplett leer. Die Festplatte ist da und funktioniert, aber es ist nichts auf ihr drauf. Ich glaube, unser Freund Mr. Li hat uns verarscht.“
„Kann man die gelöschten Daten wiederherstellen?“, fragte Luke.
Swann zuckte die Achseln. „Vielleicht, aber nicht hier. Vielleicht gab es auch von Anfang an keine Dateien hier drauf. Wir müssten die Festplatte ausbauen und mit zur NSA nehmen, um sicherzugehen.“
Luke sackte ein wenig zusammen. Normalerweise konnte er Menschen gut einschätzen. Aber vielleicht hatte Swann Recht. Vielleicht hatte Li sie wirklich angelogen. Seine Angst hatte echt genug gewirkt, aber vielleicht hatte er ihnen etwas vorgespielt. Aber warum sollte er das tun? Er musste doch wissen, dass Luke sofort zurückkommen würde.
„Was ist mit den CDs?“, fragte er. „Lasst uns die mal einlegen.“
Swann nahm die erste, auf der der Buchstabe A stand. Er hielt sie zwischen zwei Fingern, als ob sie ansteckend wäre. „Na gut, warum nicht?“
Er schob die CD in den Schlitz. Der Computer begann zu surren wie ein Flugzeug, das sich auf den Start vorbereitet. Ein Moment verging, dann öffnete sich ein Fenster. Es war eine Liste von Textdokumenten. Die Dateien waren in sequenziellen Mustern benannt, meistens bestehend aus einem Wort und einer Zahl. Es gab Dutzende und Aberdutzende von Dateien.
Das erste Wort war „flug“ und die Dateien gingen von „flug1“ bis „flug27“. Ein weiteres interessantes Wort auf der Liste war „strom“. Die zugehörigen Dokumente gingen von „strom1“ bis „strom9“. Weiter unten standen Dokumente „damm1“ bis „damm39“. Noch weiter unten gab es „bohr1“ bis „bohr19“. Außerdem „bahn1“ bis „bahn21“.
„Sollen wir mit ‚flug‘ anfangen?“, fragte Swann.
„Okay.“
Swann öffnete „flug1“. Die Worte am Anfang dienten wohl als eine Art Titel. Die Überschrift lautete Internationaler John F. Kennedy Flughafen, New York City.
„Oh-oh“, sagte Swann.
Es gab eine kurze Beschreibung des Flughafens, einschließlich des Eröffnungsdatums, seiner Koordinaten, der Anzahl der Flüge und Passagiere pro Jahr, der wichtigsten Fluggesellschaften, und mehr. Dann folgten mehrere Seiten mit Fotos der Terminals, ein New Yorker Stadtplan mit Angabe zur Lage des Flughafens, und dann mehrere Übersichtskarten der Terminals. Danach fanden sich technische Details – lange Listen mit Daten, eine Unmenge von Zahlen und Buchstaben. Swann wurde still.
„Houston, wir haben ein Problem“, sagte er schließlich.
*
Der schwarze Geländewagen raste durch die Stadt und fuhr auf die Autobahn zu.
Luke hing in der Warteschleife und versuchte, die Präsidentin zu erreichen. Im Hintergrund hörte er Ed und Swann an ihren eigenen Telefonen reden.
„Ich brauche sofort ein Team von Analysten, die sich mit der Sache befassen“, sagte Swann. „Das stimmt, sobald ich alles hochgeladen habe. Nein, es ist alles auf CD-ROM. Ich kann es jetzt noch nicht machen. Ich bin in einem Auto. Ja. Es gibt hier eine Basis außerhalb der Stadt, Naval Air Station Atlanta. Wir sind bald da. Ich nehme an, irgendjemand wird schon ein CD-Laufwerk haben. Warum glauben Sie, hat er es auf CD gebrannt? Damit niemand es hacken kann, deshalb. Es war in einer Schublade in einem verschlossenen Büro in einem verschlossenen Lagerhaus, von dem niemand wusste.“