Lacey würde sich nicht von Taryn herunterziehen lassen. Wenn sie es zuließ, dass ihr die Besitzerin der Boutique unter die Haut ging, würde sie sich nur ein Eigentor schießen.
Als Lacey hinter den Verkaufstresen schlüpfte, fiel ihr auf, dass der ältere Herr die gebrochene Figur darauf platziert hatte.
„Ich würde sie gerne kaufen“, erklärte er.
„Aber sie ist kaputt“, erwiderte Lacey. Er versuchte offensichtlich einfach nur nett zu sein, obwohl er keinen Grund hatte, sich wegen des Missgeschicks schlecht zu fühlen. Es war wirklich nicht seine Schuld gewesen.
„Ich will sie trotzdem haben.“
Lacey lief rot an. Er war sehr hartnäckig.
„Darf ich wenigstens versuchen, sie zu reparieren?“, fragte sie. „Ich habe Superkleber und –“
„Das ist nicht nötig!“, unterbrach sie der Herr. „Ich will sie genauso, wie sie ist. Sehen Sie, die Figur erinnert mich jetzt nur noch mehr an meine Frau. Das wollte ich eigentlich gerade sagen, als das Auto über die Schwelle gerumpelt ist. Sie war die erste Ballerina mit Handicap in der Royal Ballet Society.“ Er hielt die Figur hoch und drehte sie im Lichtschein. Das Licht spiegelte sich im rechten Arm, der immer noch elegant ausgestreckt war, am Ellenbogen jedoch in einem gezackten Stumpf endete. „Sie tanzte mit einem Arm.“
Lacey zog die Augenbrauen hoch. Ihr Mund stand offen. „Das kann doch nicht wahr sein!“
Der Mann nickte eifrig. „Ehrlich! Sehen Sie das nicht? Das war ein Zeichen von ihr.“
Lacey konnte ihm nur zustimmen. Sie war schließlich selbst gerade auf der Suche nach einem Geist in der Form ihres Vaters und daher besonders empfänglich für die Zeichen des Universums.
„Dann haben Sie recht, Sie müssen sie haben“, sagte Lacey. „Aber ich werde Sie nicht dafür bezahlen lassen.“
„Sind Sie sicher?“, fragte der Mann überrascht.
Lacey strahlte. „Absolut sicher! Ihre Frau hat Ihnen ein Zeichen geschickt. Die Figur gehört rechtmäßig Ihnen.“
Der Herr wirkte gerührt. „Dankeschön.“
Lacey begann die Figur in Seidenpapier einzuwickeln. „Lassen Sie uns sicherstellen, dass ihr keine weiteren Gliedmaßen abbrechen, nicht wahr?“
„Sie halten eine Auktion ab, wie ich sehe“, sagte der Mann und deutete über ihre Schulter auf ein Plakat an der Wand.
Anders als das plumpe, handgezeichnete Poster, das sie bei der letzten Auktion verwendet hatte, war dieses professionell angefertigt worden. Es war mit nautischen Bildern dekoriert; mit Booten und Möwen und einem Rahmen, der so aussah, als bestünde er aus blau und weiß karierten Wimpeln zu Ehren von Wilfordshires eigener Obsession mit Wimpeln.
„Das ist richtig“, sagte Lacey mit stolzgeschwellter Brust. „Es ist erst meine zweite Auktion. Sie dreht sich ausschließlich um antike Seefahrtobjekte. Sextanten. Anker. Teleskope. Ich werde eine ganze Reihe von Schätzen verkaufen. Vielleicht wollen Sie ja vorbeikommen?“
„Ja, vielleicht“, antwortete der Mann mit einem Lächeln.
„Ich lege Ihnen einen Flyer in die Einkaufstüte.“
Genau das tat Lacey auch und reichte dem Mann die zarte Figur über den Tresen. Er dankte ihr und machte sich auf den Weg hinaus.
Lacey beobachtete, wie der alte Herr den Laden verließ, berührt von seiner Geschichte, bis ihr der andere Kunde wieder ins Gedächtnis kam.
Sie blickte nach rechts, um ihre Aufmerksamkeit auf den anderen Mann zu richten. Doch er war bereits verschwunden. Er hatte den Laden leise und unbemerkt verlassen, bevor sie überhaupt die Chance hatte, ihm ihre Hilfe anzubieten.
Sie ging zu dem Areal, das er gerade noch begutachtet hatte. Auf der unteren Ablage hatte sie die Boxen abgestellt, in der sich alle Objekte für die Auktion befanden. Auf einem Schild in Ginas Handschrift stand geschrieben: Keines dieser Stücke steht zum Verkauf. Alles wird versteigert! Sie hatte daneben eine Zeichnung hinterlassen, die wohl einen Schädel mit gekreuzten Knochen darstellen sollte. Dabei musste sie das Seefahrtthema mit Piraten verwechselt haben. Hoffentlich hatte der Kunde das Schild gesehen und würde morgen wiederkommen, um auf den Gegenstand zu bieten, der ihn so brennend interessiert hatte.
Lacey nahm eine der Boxen mit zur Theke, in der sich noch nicht geschätzte Artikel befanden. Als sie ein Objekt nach dem anderen herauszog und sie auf dem Tresen aufreihte, konnte sie ihre freudige Aufregung nicht mehr verbergen. Ihre letzte Auktion war wunderbar gewesen, doch die Suche nach einem Killer hatte ihre Freude geschmälert. Diese würde sie in vollen Zügen genießen. Endlich würde sie die Chance erhalten, ihre Auktionskünste zu üben, und sie konnte es wirklich kaum erwarten!
Sie war gerade voll im Fluss beim Schätzen und Katalogisieren der Artikel, als sie von dem schrillen Läuten ihres Handys unterbrochen wurde. Mit leichter Frustration über die Störung, die sicherlich von ihrer melodramatischen, jüngeren Schwester Naomi und ihrer Alleinerzieherkrise ausging, blickte Lacey auf ihr Handy, das mit dem Display nach oben auf dem Tisch lag. Sie war überrascht zu sehen, dass der Name ihres Ex-Mannes David aufleuchtete.
Lacey starrte einen Moment lang auf den blinkenden Bildschirm, zu benommen, um zu reagieren. Ein Tsunami der Gefühle durchflutete ihren Körper. David und sie hatten seit der Scheidung kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt – obwohl er immer noch mit Laceys Mutter zu sprechen schien – und alles über ihre Anwälte geregelt. Aber dass er sie direkt anrief? Lacey wusste gar nicht, wo sie mit ihren Theorien über sein plötzliches Verhalten anfangen sollte.
Obwohl sie es eigentlich besser wissen sollte, hob Lacey ab.
„David? Ist alles in Ordnung?“
„Nein, ist es nicht“, erklang seine gereizte Stimme, die eine Million verborgene Erinnerungen aus Laceys Verstand hervorwühlte, wie als würde jemand Staub aufwirbeln.
Sie verkrampfte sich, bereit für schreckliche Nachrichten. „Was ist los? Ist etwas passiert?“
„Deine Alimente sind nicht angekommen.“
Lacey rollte ihre Augen so weit nach oben, dass es schmerzte. Geld. Natürlich. Es gab nichts, was David wichtiger war als Geld. Einer der lächerlichsten Aspekte ihrer Scheidung war die Tatsache, dass sie ihm Unterhalt zahlen musste, da sie mehr verdient hatte als er. Natürlich war dies der einzige Grund, um ihn dazuzubringen, mit ihr in Kontakt zu treten.
„Aber ich habe die Zahlungen bereits bei der Bank eingerichtet“, sagte ihm Lacey. „Sie sollten automatisch laufen.“
„Nun, scheinbar haben die Briten eine andere Definition von automatisch und falls du es nicht mitbekommen hast, die Deadline ist heute! Also schlage ich vor, dass du schleunigst bei der Bank anrufst und die Situation klärst.“
Er klang genauso wie ein Rektor. Lacey erwartete schon fast, dass er seinen Monolog mit den Worten „du dummes, kleines Mädchen“ abschloss.
Sie krallte sich in das Telefon und bemühte sich, David keinen Raum in ihrem Kopf zu lassen, nicht heute, am Tag vor der Auktion, auf die sie sich schon so gefreut hatte!
„Was für ein schlauer Vorschlag, David“, antwortete sie und klemmte ihr Handy zwischen ihrem Ohr und ihrer Schulter ein, damit sie die Hände freihatte, um sich in ihrem Online-Account der Bank einzuloggen. „Auf die Idee wäre ich nie gekommen.“
Auf ihre Worte folgte Stille. David hatte wahrscheinlich noch nie eine sarkastische Bemerkung von ihr erhalten und es brachte ihn aus dem Konzept. Der englische Humor ihres neuen Freundes schien sehr schnell abzufärben.
„Du nimmst das nicht sonderlich ernst“, erwiderte David, als er endlich durchblickte.
„Sollte ich?“, antwortete Lacey. „Es ist nur ein Missverständnis bei der Bank. Ich kann das wahrscheinlich bis zum Ende des Tages aus der Welt schaffen. Tatsächlich, ja, hier ist eine Nachricht auf meinem Account.“ Sie klickte auf das kleine, rote Symbol und eine Informationsbox poppte auf. Sie las laut vor. „Auf Grund der Feiertage werden alle planmäßigen Zahlungen, die auf Sonntag oder Montag fallen, erst am Dienstag bei den Empfängerkonten ankommen. Aha. Hier haben wir die Lösung. Ich wusste, dass es etwas Simples sein würde. Ein Feiertag.“ Sie pausierte und blickte aus dem Fenster auf eine Gruppe von Passanten. „Ich dachte mir schon, dass die Straßen heute besonders belebt wirken.“
Sie konnte beinahe hören, wie David auf der anderen Seite mit seinen Zähnen knirschte.
„Das ist wirklich sehr unpraktisch für mich“, fauchte er. „Ich muss meine Rechnungen bezahlen, weißt du.“
Lacey sah zu Chester herunter, als brauchte sie einen Kameraden in dieser besonders frustrierenden Unterhaltung. Er hob seinen Kopf von seinen Pfoten und zog eine Braue hoch.
„Kann dir Frida nicht ein paar Millionen borgen, wenn es knapp wird?“
„Eda“, besserte David sie aus.
Lacey wusste den Namen von Davids neuer Verlobten ganz genau. Aber Naomi und sie hatten begonnen, sie Zwei-Wochen-Frida zu nennen, bezugnehmend darauf, wie schnell die beiden sich verlobt hatten, und jetzt konnte sie an nichts anderes mehr denken.
„Und nein“, sprach er weiter. „Sie sollte das nicht müssen. Wer hat dir überhaupt von Eda erzählt?“
„Meine Mutter hat es möglicherweise bei ein oder zwei Dutzend Gelegenheiten erwähnt. Warum redest du eigentlich noch mit meiner Mutter?“
„Sie war vierzehn Jahre ein Teil meiner Familie. Ich habe mich ja nicht von ihr geschieden.“
Lacey seufzte. „Nein. Ich schätze nicht. Also, was ist der Plan? Dass ihr drei euch bei der Mani-Pedi trefft und beste Freunde werdet?“
Jetzt wollte sie ihn aufziehen und sie konnte sich einfach nicht zurückhalten. Es machte richtig Spaß.
„Du bist lächerlich“, sagte David.
„Ist sie nicht die Erbin eines Emporiums für falsche Nägel?“, fragte sie mit gespielter Unschuld.
„Ja, aber du musst es nicht so sagen“, erwiderte David mit einer Stimme, die das Bild von seiner beleidigten Schnute vor Laceys innerem Augen erscheinen ließ.
„Ich habe nur spekuliert, wie ihr drei wohl am ehesten eure gemeinsame Zeit verbringen würdet.“
„Mit kritischem Unterton.“
„Mom hat mir erzählt, dass sie jung ist“, sagte Lacey und versuchte das Gespräch in eine andere Richtung zu führen. „Zwanzig. Ich denke, zwanzig ist doch vielleicht ein bisschen zu jung für einen Mann deines Alters. Aber zumindest hat sie noch ganze neunzehn Jahre Zeit, um herauszufinden, ob sie Kinder will oder nicht. Neununddreißig ist bei dir schließlich die Grenze.“
Sobald sie es ausgesprochen hatte, wurde ihr bewusst, wie sehr sie nach Taryn klang. Sie zuckte zusammen. Sie hatte kein Problem damit, dass Toms Eigenarten auf sie abfärbten, aber bei Taryn ging es wirklich zu weit!
„Entschuldige“, murmelte sie und ruderte zurück. „Das war unpassend.“
David wartete einen Moment. „Sorg einfach dafür, dass ich das Geld bekomme, Lace.“
Der Anruf wurde beendet.
Lacey seufzte und legte das Telefon zur Seite. Obwohl die Unterhaltung extrem ärgerlich gewesen war, würde sie sich nicht die Laune vermiesen lassen. David lag in ihrer Vergangenheit. Sie hatte sich ein ganz neues Leben in Wilfordshire aufgebaut. Und in Wirklichkeit war Davids neue Beziehung mit Eda ein Glück im Unglück. Sie würde ihm keinen Unterhalt mehr bezahlen müssen, sobald die beiden geheiratet hatten, und das Problem würde sich von selbst lösen! Aber so wie die Dinge normalerweise für sie liefen, hatte sie das ungute Gefühl, dass diese Verlobung lange andauern würde.
KAPITEL ZWEI
Lacey war gerade dabei, die Objekte zu schätzen, als Taryn vor ihrem Fenster endlich den großen Van wegfuhr und den Blick auf Toms Geschäft auf der anderen Seite der gepflasterten Straße wieder freigab. Die karierten Wimpel mit Ostermotto waren durch sommerliche Wimpel ersetzt worden und Tom hatte die Auslage mit den Macarons aufgepeppt, sodass sie jetzt wie eine Szene auf einer tropischen Insel aussah. Der Sand bestand aus Zitronen-Macarons, umgeben von einem Ozean in unterschiedlichen Blautönen – türkisblau (Zuckerwattegeschmack), hellblau (Kaugummigeschmack), dunkelblau (Blaubeergeschmack) und marineblau (blaue Himbeeren). Hohe Stapel von Schokoladen-Macarons, Kaffee-Macarons und Erdnuss-Macarons bildeten die Plamen, während die Blätter aus Marzipan geformt worden waren; ein weiteres Lebensmittel, mit dem Tom sehr geübt war. Das Schaufenster war atemberaubend und es lief einem schon beim reinen Anblick das Wasser im Mund zusammen. Ständig versammelten sich davor große Gruppen von aufgeregten Touristen, um es zu bewundern.
Wenn sie durch das Fester neben dem Tresen blickte, konnte Lacey Tom dahinter sehen. Er war damit beschäftigt, seine Kunden mit seinen theatralischen Auslagen zu begeistern.
Sie ließ ihr Kinn auf ihre Faust sinken und stieß ein verträumtes Seufzen heraus. Bisher waren die Dinge wunderbar mit Tom gelaufen. Sie waren jetzt offiziell dabei sich zu „daten“, wie es Tom genannt hatte. Sie würde diesen Begriff niemals wählen. Während ihrer Diskussion über „die Art ihrer Beziehung“ hatte Lacey darauf bestanden, dass dies ein unpassender und kindischer Ausdruck für zwei Erwachsene sei, die eine romantische Verbindung hatten. Tom hatte erwidert, dass es nicht ihre Aufgabe war, die Terminologie anzufechten, sofern sie nicht bei dem Wörterbuch Merriam-Webster arbeitete. Sie gab bei diesem Diskussionspunkt nach, zog jedoch den Schlussstrich bei den Worten „Freund“ und „Freundin“. Sie mussten sich erst auf passende Titel einigen, mit denen sie sich bezeichnen würden und wichen normalerweise auf ‚Schatz’ aus.
Auf einmal sah Tom zu ihr herüber und winkte. Lacey zuckte zusammen und richtete sich auf. Ihre Wangen wurden heiß, als ihr bewusst wurde, dass er sie gerade dabei erwischt hatte, ihn wie ein verliebtes Schulmädchen anzuhimmeln.
Toms winkende Geste wurde zu einer Aufforderung und Lacey bemerkte erst jetzt, wie spät es war. Zehn nach elf, Teezeit! Und sie war bereits zehn Minuten zu spät für ihr tägliches zweites Frühstück!
„Komm schon, Chester“, sagte sie rasch, als die Aufregung einschoss. „Es ist Zeit, Tom zu besuchen.“
Sie rannte förmlich aus dem Laden und erinnerte sich gerade noch, das „Geöffnet“-Schild umzudrehen, damit es „Zurück in 10 Minuten“ anzeigte, und die Tür abzuschließen. Dann hüpfte sie über die gepflasterte Straße in Richtung der Patisserie und ihr Herz klopfte im Rhythmus mit den federnden Schritten, während die Vorfreude auf Tom immer weiter anstieg.
Gerade als Lacey die Tür der Patisserie erreichte, strömte eine Gruppe von chinesischen Urlaubern heraus, die Tom vor einigen Augenblicken noch bedient hatte. Jeder von ihnen klammerte sich an eine große braune Papiertüte voller duftender Leckereien, während sie miteinander plauderten und kicherten. Lacey hielt die Tür geduldig auf, wartete bis sie alle herausgekommen waren. Sie nickten ihr als Dankeschön höflich zu.
Als der Weg endlich frei war, spazierte Lacey herein.
„Hallo, mein Schatz“, sagte Tom mit einem breiten Grinsen auf seinem gutaussehenden, braun gebrannten Gesicht, sodass Lachfalten neben seinen strahlend grünen Augen auftauchten.
„Deine Groupies sind also schon gegangen“, witzelte Lacey, als sie zum Tresen kam. „Und sie haben eine Menge Fanartikel mitgenommen.“
„Du kennst mich“, antwortete Tom und zog seine Augenbrauen hoch. „Ich der erste Konditor der Welt mit einem Fanclub.“
Er schien heute besonders gut gelaunt zu sein, dachte Lacey. Nicht dass er jemals schlecht gelaunt war. Tom war einer dieser Menschen, die einfach so durch das Leben schwebten, ohne sich von dem üblichen Stress herunterziehen zu lassen. Es war eine der Sachen, die Lacey besonders an ihm mochte. Er war so anders als David, der sich schon von der kleinsten Irritation aus dem Konzept bringen hatte lassen.
Sie lehnte sich über den Tresen und Tom stützte sich auf seinen Armen ab, um sie zu küssen. Lacey vergaß alles rund um sich und genoss den Moment, bis Chester aufheulte, unglücklich darüber, ignoriert zu werden.