„Ich weiß“, sagte Lacey, der gerade eine Idee gekommen war. „Ich werde den Sextant als Lockvogel verwenden, als die Hauptattraktion für eine allgemeine Auktion. Und alles, was ich bei seinem Verkauf einnehmen kann, werde ich dem Wohltätigkeitsladen zukommen lassen.“
Das würde zwei Dilemmas lösen; das unangenehme Gefühl, etwas unter seinem echten Wert von einer Wohltätigkeitsorganisation zu kaufen, und was sie damit tun sollte, sobald sie ihn besaß.
Und so war der gesamte Plan entstanden. Lacey hatte den Sextanten gekauft (und die Konsole, die sie in ihrer Aufregung fallen gelassen und beinahe vergessen hatte, wieder aufzuheben), sich für ein nautisches Thema entschieden und dann damit begonnen, die Auktion auf die Beine zu stellen und anzupreisen.
Das Geräusch der Glocke über der Eingangstür riss Lacey aus ihren Gedanken. Sie sah auf und erblickte ihre grauhaarige Nachbarin mit Strickjacke, Gina, die gerade mit ihrem Border Collie Boudicca im Schlepptau hereinmarschierte.
„Was machst du denn hier?“, fragte Lacey. „Ich dachte, wir treffen uns zum Lunch.“
„Das tun wir!“, antwortete Gina und deutete auf die große Uhr aus Messing und Schmiedeeisen, die an der Wand hing.
Lacey blickte hinüber. Abgesehen von den anderen Objekten in der „nordischen Abteilung“ war die Uhr unter ihren meist geliebten Dekorationselementen im Laden. Sie war eine Antiquität (selbstverständlich) und sah so als, als wäre sie einst auf der Vorderseite eines viktorianischen Armenhauses gehangen.
„Oh!“, platze Lacey hervor, als sie die Uhrzeit las. „Es ist halb zwei. Schon? Der Tag ist einfach verflogen.“
Es war das erste Mal, dass die beiden Freunde beschlossen hatten, den Laden für eine Stunde zu schließen und ein richtiges Mittagessen miteinander zu verbringen. Und mit „beschlossen“ war viel eher gemeint, dass Gina Lacey an einem Abend mit zu viel Wein abgefüllt und so lange überredet hatte, bis sie eingeknickt war und eingewilligt hatte. Es stimmte, dass fast jeder Bewohner und Besucher von Wilfordshire seine Mittagsstunde in einem Café oder Pub verbrachte, statt die Regale eines Antiquitätenladen zu durchforsten, und so würde die eine Stunde wohl kaum einen großen Einfluss auf Laceys Umsatz haben. Doch seitdem Lacey erfahren hatte, dass dieser Montag ein Feiertag war, zweifelte sie an ihrer Entscheidung.
„Vielleicht ist es doch keine gute Idee“, sagte Lacey.
Gina stemmte die Hände in ihre Hüften. „Warum? Welche Ausrede hast du dieses Mal?“
„Nun, mir war nicht klar, dass heute ein Feiertag ist. Es sind viel mehr Menschen unterwegs als üblicherweise.“
„Viel mehr Menschen, nicht viel mehr Kunden“, sagte Gina. „Denn jeder einzelne von ihnen wird innerhalb der nächsten zehn Minuten in einem Pub oder Café einkehren, genauso wie wir es auch tun sollten! Komm schon, Lacey. Wir haben bereits darüber gesprochen. Keiner kauft Antiquitäten um die Mittagszeit!“
„Aber was, wenn einige von ihnen Europäer sind?“, sagte Lacey. „Du weißt doch, dass sie am Festland alles etwas später machen. Wenn sie um neun oder zehn Uhr Abendessen, zu welcher Zeit haben sie dann ihr Mittagessen? Wahrscheinlich nicht um ein Uhr!“
Gina fasste sie an den Schultern. „Du hast recht. Aber sie verbringen die Mittagsstunde stattdessen mit einer Siesta. Sollte es irgendwelche europäischen Touristen geben, dann schlafen sie in der nächsten Stunde. Um es in Worte zu fassen, die du verstehst: Kein Einkaufen in Antiquitätenläden!“
„Na gut. Also schlafen die Europäer. Aber was, wenn sie von einem weiter entfernten Land kommen und ihre biologischen Uhren noch nicht auf unsere Zeit eingestellt sind. Dann haben sie zur Mittagszeit noch keinen Hunger und wollen stattdessen vielleicht Antiquitäten einkaufen.“
Gina verschränkte ihre Arme. „Lacey“, sagte sie auf eine mütterliche Art. „Du brauchst eine Pause. Du wirst dich noch selbst in den Ruin treiben, wenn du jede Minute jedes Tages innerhalb dieser vier Wände verbringst, egal wie hübsch sie auch dekoriert sein mögen.“
Lacey verzog ihren Mund. Dann stellte sie den Sextanten auf dem Tresen ab und kam in den vorderen Bereich des Ladens. „Du hast recht. Eine Stunde kann doch wirklich nicht schaden, oder?“
Dies waren die Worte, die Lacey schon bald bereuen würde.
KAPITEL DREI
„Ich wollte diesen neuen Teesalon unbedingt ausprobieren“, sagte Gina ausgelassen, als sie und Lacey an der Uferpromenade entlangspazierten. Ihr Hundebegleiter jagte gerade nach einem Artgenossen in der Brandung und wackelte aufgeregt mit seinem Schwanz.
„Warum?“, fragte Lacey. „Was ist so toll daran?“
„Nichts Besonderes“, antwortete Gina. Sie sprach nun etwas leiser. „Ich habe nur gehört, dass der neue Besitzer früher ein Profi-Wrestler war! Ich kann es kaum erwarten, ihn kennenzulernen.“
Lacey konnte sich einfach nicht zurückhalten. Sie ließ ihren Kopf in den Nacken fallen und lachte laut und herzlich darüber, wie unsinnig dieses Gerücht schon wieder war. Aber andererseits war es noch nicht lange her gewesen, dass jeder in Wilfordshire geglaubt hatte, sie wäre eine Mörderin.
„Vielleicht sollten wir dieses Hörensagen eher mit Vorsicht genießen?“, schlug sie Gina vor.
Ihre Freunde gab nur ein „pfff“ von sich und beide brachen in Kichern aus.
Der Strand sah bei dem warmen Wetter besonders einladend aus. Es war noch nicht heiß genug, um sich in die Sonne zu legen oder hinauszupaddeln, aber es flanierten jetzt immer mehr Menschen entlang und kauften Eiscreme von den Eiswägen. Auf dem Weg quatschen die zwei Freundinnen über alles Mögliche und Lacey erzählte Gina über Davids Anruf und die berührende Geschichte des Mannes mit der Ballerina. Sie erreichten den Teesalon.
Er befand sich in einem Gebäude, das einst ein Abstellplatz für Kanus gewesen war, in der perfekten Lage direkt am Wasser. Die ehemaligen Besitzer hatten den Umbau vorgenommen und aus dem alten Schuppen ein relativ schäbiges Café gemacht – Gina hatte Lacey gelernt, dass man es in England als „Spelunke“ bezeichnen würde. Aber die neuen Besitzer hatten das Design enorm verbessert. Sie hatte die Ziegelfassade gereinigt und alle Schlieren aus Möwenkot entfernt, die hier wahrscheinlich schon seit den fünfziger Jahren geklebt hatten. Sie hatten außerhalb eine Tafel aufgestellt, die Bio-Kaffee in der kursiven Schrift eines professionellen Schildmalers ankündigte. Und die ehemalige Holztür war durch einen glänzenden Glaseingang ersetzt worden.
Gina und Lacey gingen darauf zu. Die Tür öffnete sich automatisch, als würde sie die beiden hineinwinken. Sie tauschten einen Blick aus und traten ein.
Das würzige Aroma von frischen Kaffeebohnen begrüßte sie, gefolgt von dem Geruch von Holz, feuchter Erde und Metall. Es war keine Spur mehr von den weißen Fliesen, die bis zur Decke gereicht hatten, von den pinken Vinylnischen und dem Linoleumboden. Jetzt lag das alte Ziegelwerk frei und die ausgeblichenen Bodendielen waren mit einer dunklen Beize lackiert worden. Um den rustikalen Look weiterzuführen, sahen alle Tische und Sessel so aus, als bestünden sie aus den Planken ehemaliger Fischerboote – was den Holzgeruch erklärte – und die Kupferrohre dienten als Abdeckung für die Verkabelung diverser großer Edison-Glühbirnen, die von der Decke herabhingen – was den Metallgeruch erklärte. Das erdige Aroma kam von der Tatsache, dass auf jedem freien Zentimeter ein Kaktus stand.
Gina griff nach Laceys Arm und flüsterte vergnügt: „Oh nein. Es ist… trendig!“
Lacey hatte vor Kurzem bei einer Antiquitätensuche in Shoreditch in London gelernt, dass trendig kein Kompliment war, das man statt dem Wort „stilsicher“ verwenden konnte. Stattdessen lag in dem Ausdruck eine zusätzliche Bedeutung, die mit unseriös, angeberisch und arrogant gleichzusetzen war.
„Ich mag es“, erwiderte Lacey. „Das Design ist gut geworden. Sogar Saskia würde zustimmen.“
„Vorsicht. Du willst doch nicht gepiekst werden“, fügte Gina hinzu und machte eine übertriebene Ausweichbewegung, um einen großen, stacheligen Kaktus zu umgehen.
Lacey schnaubte und ging zum Tresen, der aus polierter Bronze geformt war und auf dem eine passende, alte Kaffeemaschine stand, die sicherlich nur Dekoration war. Entgegen dem, was Gina gehört hatte, stand dahinter kein Mann, der wie ein Wrestler aussah, sondern eine Frau mit einem kurzen, blond gefärbten Bob und einem weißen Tanktop, das ihrer goldfarbenen Haut und ihren dicken Bizepsen schmeichelte.
Gina fing Laceys Blick ein und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Muskeln der Frau, als würde sie sagen schau, habe ich es dir doch gesagt.
„Was kann ich Ihnen bringen?“, fragte die Frau in einem der stärksten australischen Akzente, die Lacey jemals gehört hatte.
Bevor Lacey einen Espresso mit Milch bestellen konnte, stieß sie Gina in ihre Seite.
„Sie ist wie Sie!“, verkündete Gina. „Eine Amerikanerin!“
Lacey konnte nicht anders als zu lachen. „Ähm… nein, ist sie nicht.“
„Ich komme aus Australien“, verbesserte die Frau Gina auf freundliche Art.
„Wirklich?“, fragte Gina perplex. „Für mich klingen Sie genauso wie Lacey.“
Die blonde Frau richtete ihre Aufmerksamkeit sofort wieder auf Lacey.
„Lacey?“, wiederholte sie, als hätte sie bereits von ihr gehört. „Sie sind Lacey?“
„Ähm… ja…“, sagte Lacey und war verwundert darüber, dass die Fremde sie zu kennen schien.
„Ihnen gehört der Antiquitätenladen, nicht wahr?“, fügte die Frau hinzu. Sie legte den kleinen Block nieder, den sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, und schob sich den Bleistift hinter ihr Ohr. Dann streckte sie ihre Hand aus.
Amüsiert nickte Lacey und schüttelte sie. Die Frau hatte einen festen Griff. Für einen kurzen Moment fragte sich Lacey, ob etwas an dem Wrestling-Gerücht wahr sein könnte.
„Entschuldigung, aber woher kennen Sie mich?“, fragte Lacey, während die Frau ihren Arm kräftig durchschüttelte und ein breites Grinsen aufsetzte.
„Weil mir jeder Bewohner der Stadt, der in mein Lokal kommt und realisiert, dass ich aus dem Ausland komme, sofort von Ihnen erzählt! Darüber, wie Sie ganz alleine aus einem anderen Land hergezogen sind. Und wie Sie Ihren Laden selbst aufgebaut haben. Ich glaube, ganz Wilfordshire hofft darauf, dass wir beste Freunde werden.“
Sie schüttelte Laceys Hand immer noch energisch und als Lacey zu sprechen begann, bebte ihre Stimme.
„Also sind Sie alleine nach Großbritannien gekommen?“
Endlich ließ die Frau ihre Hand los.
„Ja. Ich habe mich geschieden und realisiert, dass eine Scheidung nicht genug war. Ich musste einfach den halben Planeten zwischen ihn und mich bringen.“
Darüber musste Lacey lachen. „Genauso wie bei mir. Nun, ähnlich. New York ist nicht gerade die andere Seite des Planeten, aber so wie Wilfordshire ist, fühlt es sich auf jeden Fall so an.“
Gina räusperte sich. „Könnte ich einen Cappuccino und ein Thunfisch-Sandwich bekommen?“
Die Frau schien sich auf einmal wieder daran zu erinnern, dass Gina auch da war. „Oh. Entschuldigen Sie. Wo sind nur meine Manieren?“ Sie streckte auch Gina die Hand entgegen. „Ich bin Brooke.“
Gina machte keinen Augenkontakt. Sie schüttelte Brookes Hand lasch. Lacey konnte einen Anflug von Eifersucht erkennen und lächelte innerlich.
„Gina ist meine Komplizin“, sagte Lacey zu Brooke. „Sie arbeitet mit mir im Laden, hilft mir Objekte zu finden, nimmt meinen Hund zum Spielen mit, gibt mir ihr gesamtes Wissen über die Gärtnerei weiter und hilft mir dabei, nicht verrückt zu werden, seitdem ich in Wilfordshire bin.“
Ginas eifersüchtige Schnute war nun einem hämischen Grinsen gewichen.
Brooke lächelte. „Ich hoffe, ich finde auch meine eigene Gina“, scherzte sie. „Es war mir eine Freude, Sie beide kennenzulernen.“
Sie zog den Bleistift wieder hinter ihrem Ohr hervor, sodass ihre glatten Haare wieder an ihren Platz fallen konnten. „Also das war ein Cappuccino und ein Thunfisch-Sandwich…“, sagte sie, während sie auf ihren Block kritzelte. „Und für Sie?“ Sie sah Lacey mit einem erwartungsvollen Blick an.
„Einen Espresso mit Milch“, sagte Lacey, als sie auf das Menü blickte. Sie überflog alle Punkte auf der Speisekarte. Es gab eine große Auswahl an lecker klingenden Speisen, aber in Wirklichkeit bestand das Menü nur aus Sandwiches mit eleganten Bezeichnungen. Das Thunfisch-Sandwich, das Gina bestellt hatte, war hier eigentlich ein Toast mit echtem Bonito und mit Eichenholz geräuchertem Cheddarkäse. „Ähm… Das Baguette mit Avocado-Creme.“
Brooke notierte sich die Bestellung.
„Wie sieht es bei unseren flauschigen Freunden aus?“, fügte sie hinzu und deutete mit dem Bleistift zwischen Gina und Laceys Schultern, wo Boudicca und Chester in einer Achterschleife auf- und abmarschierten, um sich gegenseitig zu beschnuppern. „Wasserschüsseln und ein paar Hundeleckerlis?“
„Das wäre großartig“, sagte Lacey, beeindruckt über Gastfreundlichkeit der Frau.
Sie wäre eine großartige Hotelbesitzerin, dachte Lacey. Vielleicht hatte sie in Australien in der Tourismusbranche gearbeitet? Oder vielleicht war sie einfach nur ein netter Mensch. Auf jeden Fall hatte sie einen guten ersten Eindruck bei Lacey hinterlassen. Vielleicht würden die Bewohner von Wilfordshire ja ihren Willen durchsetzen und die beiden würde tatsächlich enge Freunde werden. Lacey konnte weitere Verbündete gebrauchen!
Sie und Gina wählten einen Tisch aus. Unter den Vintage-Gartenmöbeln gab es auch Sitzgelegenheit an einem Tisch, der aus einer alten Tür gefertigt wurde, Stühle aus Baumstümpfen oder eine der Sitznischen, die aus den Hälften zersägter Ruderboote bestanden und mit Kissen gefüllt waren. Sie entschieden sich für eine sichere Option – einen hölzernen Picknicktisch.
„Sie wirkt sehr sympathisch“, sagte Lacey, als sie auf ihren Sessel glitt.
Gina zuckte mit den Schultern und ließ sich auf der Bank gegenüber von ihr nieder. „Naja. Sie wirkt in Ordnung.“
Sie war wieder in ihrem Eifersuchtsmodus.
„Du weißt, dass du meine engste Freundin bist“, sagte Lacey zu Gina.
„Jetzt noch. Aber was, wenn Brooke und du euch über all die Dinge unterhalten könnt, die man als Expat erlebt?“
„Ich kann mehr als einen Freund haben.“
„Das weiß ich. Aber mit wem wirst du mehr Zeit verbringen wollen? Mit jemandem in deinem Alter, der selbst einen trendigen Laden besitzt oder mit jemandem, der alt genug ist, um deine Mutter zu sein, und Schafe verkauft?“
Lacey konnte nicht anders, als zu lachen, obwohl darin keine Häme steckte. Sie streckte ihren Arm über den Tisch und drückte Ginas Hand.
„Ich habe es ernst gemeint, als ich gesagt habe, dass ich ohne dich verrückt werden würde. Ehrlich, mit allem, was mit Iris passiert ist und der Polizei oder Taryns Versuchen, mich aus Wilfordshire zu vertreiben, hätte ich ohne dich den Verstand verloren. Du bist eine tolle Freundin, Gina, und das ist für mich nicht selbstverständlich. Ich werde dich nicht vergessen, weil eine Kaktus-schwingende Ex-Wrestlerin in die Stadt gezogen ist. Okay?“
„Eine Kaktus-schwingende Ex-Wrestlerin?“, sagte Brooke, die gerade von der Seite mit einem Tablett mit Kaffee und Sandwiches erschienen war. „Sie reden doch nicht etwa von mir oder?“
Laceys Wangen wurden sofort rot. Es war nicht ihre Art, über andere Leute hinter ihrem Rücken zu lästern. Sie hatte nur versucht, Gina aufzumuntern.
„Ha! Lacey, Ihr Gesicht!“, prustete Brook und klopfte ihr auf den Rücken. „Kein Problem. Es macht mir nichts aus. Ich bin stolz auf meine Vergangenheit.“