„Das hättest du nicht tun müssen. Ich habe dir doch gesagt, dass du gerne bei uns übernachten kannst.“
„Ich weiß“, sagte sie und nahm schließlich den Blick von ihrem Enkel, während sie ihn auf ihren Knien hüpfen ließ. „Aber ihr seid beide beruflich eingespannt und ich wollte nicht im Weg sein. Außerdem habe ich heute Abend einen Whirlpool in meinem Zimmer und kann morgen ein bisschen Sightseeing machen. Ich war zuvor noch nie in DC, also …“
Sie verstummte und erklärte die Unterhaltung damit für beendet. Und was Mackenzie betraf, war sie das auch.
„Nun, das Abendessen ist so gut wie fertig“, sagte Mackenzie. „Noch ein paar Minuten. Der Tisch ist schon gedeckt, wir können also ins Esszimmer umziehen.“
Das taten sie auch – Patricia trug Kevin im Arm, während Ellington den Hochstuhl an den Tisch schob. Als sie saßen, schenkte Ellington sich selbst und Patricia Wein ein, während Mackenzie nach und nach das Essen servierte. Sie hatte schon immer ein Händchen fürs Kochen gehabt, blieb aber bei den einfachen Gerichten. Heute hatte sie ein schlichtes Vier-Zutaten-Hühnchen mit Rosmarin und Zitrone zubereitet, dazu gab es Kartoffeln und Spargel. Patricia sah sie überrascht an.
„Du kannst kochen?“, fragte sie.
„Ein bisschen. Definitiv nicht überdurchschnittlich.“
„Sie ist bescheiden“, meinte Ellington.
„Das war sie schon immer.“
Und das Abendessen begann, einfach so. Die Unterhaltung war zwar ein bisschen holprig, aber nicht unangenehm. Ellington redete am meisten und erzählte Patricia mehr über sich – wo er aufgewachsen war, seit wann er als Agent arbeitete und seine Version, wie die Beziehung mit ihrer Tochter ins Rollen gekommen war. Mackenzie war überrascht, wie viel es ihr bedeutete, dass ihrer Mutter ihre Kochkünste komplementiert hatte. Während des Essens saß Kevin in seinem Hochstuhl und aß kleine Hühnchen-Stücke, die Mackenzie ihm abschnitt. Er wurde immer besser darin, selbst mit den Händen zu essen, dennoch landete ein großer Teil des Essens auf dem Boden.
Als sowohl die Teller als auch die Weinflasche leer waren, begriff Mackenzie, dass der Abend möglicherweise nicht so katastrophal enden würde, wie sie befürchtet hatte. Ellington säuberte Kevin und gab ihm ein paar Joghurtdrops, bevor er den Tisch abräumte. Mackenzie saß ihrer Mutter gegenüber, während Ellington in der Küche die Spülmaschine einräumte.
„Ich nehme an, dass du in letzter Zeit nicht mit deiner Schwester gesprochen hast“, meinte Patricia.
„Nein. Bei unserem letzten Treffen hast du erwähnt, dass sie in Los Angeles ist, oder?“
„Ja. Und wenn sich das geändert haben sollte, weiß ich nichts davon. Ich könnte schwören, dass sie sich seit deinen Ermittlungen im Falle eures Vaters weiter zurückgezogen hat. Ich habe nie verstanden, wie sie …“
Sie wurde von einem Klopfen an der Wohnungstür unterbrochen – was seltsam war, da Mackenzie und Ellington kaum Besuch bekamen.
„Babe, kannst du aufmachen?“, rief Ellington aus der Küche. „Ich stecke bis zu den Ellbogen im Spülwasser.“
„Entschuldige mich kurz, Mom“, sagte Mackenzie und stand auf. Sie kniff Kevin spielerisch in die Nase, als sie an ihm vorbeiging. Es überraschte sie, wie ausgesprochen gut der Abend lief. Ja, vielleicht könnte man sogar sagen, dass sie den Besuch ihrer Mutter genoss.
Mit federnden Schritten ging sie zur Tür. Doch als sie sie öffnete, verschwand das Federn und die Realität überrollte sie.
„Hallo Mackenzie“, sagte die Frau an der Tür.
Mackenzie setzte ein falsches Lächeln auf, das irgendwie nicht zu passen schien. „Hey E“, rief sie über die Schulter nach hinten. „Deine Mom ist hier.“
KAPITEL DREI
Mackenzie hatte wirklich nichts gegen Frances Ellington. Sie war sogar eine Art Retter in der Not gewesen und hatte auf Kevin aufgepasst, als Mackenzie zur Arbeit zurückgekehrt war. Es schadete auch nicht, dass Kevin seine Oma E über alles liebte. Doch die Vorstellung, beide Großmütter zur selben Zeit am selben Ort zu haben war unglaublich beunruhigend. Mackenzie glaubte, beide Frauen gut genug zu kennen, um zu wissen, dass dieses Aufeinandertreffen einem Pulverfass ähnelte, das den Hügel hinunterrollte, wo ein immer größer werdendes Feuer tobte.
Langsam und schüchtern führte Mackenzie Frances ins Esszimmer. Als Kevin sie erblickte, leuchteten sein Augen auf und er streckte die Arme aus. Hinter ihr betrat Ellington mit perplexem Gesicht das Zimmer.
„Mom … was machst du hier?“
„Ich war in der Gegend und dachte, ich lad euch beide zum Abendessen ein – aber ich scheine zu spät zu kommen.“
„Das hättest du gewusst, wenn du angerufen hättest.“
Frances ignorierte ihren Sohn und schenkte Patricia, die sie am Tisch erblickt hatte, ein großes Lächeln. „Ich bin übrigens Frances Ellington.“
„Und ich bin Patricia White“, sagte Patricia. „Wie schön, Sie kennen zu lernen.“
Dann wurde alles still. Die Spannung war greifbar. Selbst Kevin schien erstaunt zu sein; er sah sich im Zimmer um, als stimme etwas nicht. Erst als sein Blick schließlich bei Mackenzie hängenblieb und sie ihn breit angrinste, wirkte er zufrieden.
„Nun, wenn wir schon alle hier sind, kann ich auch den Nachtisch rausholen“, verkündete Ellington. „Es ist nicht viel, nur eine Eistorte, die mich gestern im Supermarkt angelacht hat.“
„Das klingt fantastisch“, sagte Frances, als sie sich auf den Stuhl neben Kevin setzte. Kevin schenkte ihr nun seine ungeteilte Aufmerksamkeit und seine neue Großmutter war vergessen.
„Frances passt hin und wieder auf ihn auf“, erklärte Mackenzie ihrer Mutter. Sie hoffte, mit ihrem einfachen Statement in kein Fettnäpfchen getreten zu sein, denn in ihren Ohren klang es fast wie eine Anschuldigung. Sie passt hin und wieder auf ihn auf, weil sie sich von Anfang an dazu entschieden hat, ein Teil seines Lebens zu sein. So klang es zumindest in Mackenzies Ohren.
Ellington brachte die Torte und begann, sie anzuschneiden. Als er Kevin ein kleines Stück gab, reagierte dieser sofort damit, kichernd mit seiner Hand auf den Kuchen einzuschlagen. Das wiederum sorgte für Gelächter bei beiden Großmüttern und eine weitere Kuchenattacke Kevins.
„Halt mal“, meinte Patricia. „Ist er nicht ein bisschen zu klein für Kuchen?“
„Nein“, erwiderte Mackenzie. „Kevin liebt Eis.“
„Ich kann mich nicht erinnern, dir so jung Eis gegeben zu haben.“
Mackenzie traute sich nicht, es auszusprechen, aber ihr kam sofort ein Gedanke in den Sinn: Ich bin überrascht, dass du dich überhaupt an meine Kindheit erinnern kannst.
„Oh ja“, sagte Frances. „Erdbeereis isst er am liebsten. Aber nicht Schokolade. Sie sollten sein Gesicht sehen, wenn er etwas Schokoladiges versucht.“
Mackenzie beobachtete das Gesicht ihrer Mutter und erkannte die Frau wieder, die sie einmal gewesen war. Sie wirkte enttäuscht und auch peinlich berührt. Sofort wurde ihre Haltung abwehrend und Mackenzie wusste, dass die Situation heikel werden würde, wenn sie sich weiter in diese Richtung bewegten.
„Mach dir keine Sorgen, Mom“, meinte Mackenzie. „Er isst auch ganz viele gesunde Sachen.“
„Ich habe euch nicht in Frage gestellt. Ich war lediglich … neugierig. Es ist schon eine Weile her, seitdem ich ein Kind aufgezogen habe …“
„Ist es nicht seltsam?“, sagte Frances. „Man glaubt, damit fertig zu sein, vom Zauber der Kinder umgarnt zu werden, wenn sie das Haus verlassen und dann – bam – wirst du Oma.“
„Ich nehme an, das stimmt“, sagte Patricia und sah Kevin an. Sie streckte eine Hand aus, die er sofort packte und ihren Zeigefinger mit Vanilleeis bedeckte.
„Und wie du siehst, ist er ziemlich gut darin, zu teilen“, meinte Frances.
Patricia kicherte und wurde mit einem großen Lächeln Kevins belohnt. Mackenzie konnte die Tränen in den Augen ihrer Mutter sehen, die gleichzeitig fröhlich lachte. Und als ihr Lachen eine höhere Oktave annahm, kicherte Kevin mit ihr mit, als hätten sie gerade einen Insiderwitz geteilt.
„Ich nehme an, dass er seinen Humor von eurer Seite der Familie hat“, sagte Frances. „Gott weiß, dass meine Kinder nie viel gelacht haben.“
„Hey“, sagte Ellington. „Viele Leute denken, dass ich witzig bin! Nicht war, Mac?“
„Ich weiß nicht“, antwortete sie. „Kenne ich die?“
Er verdrehte die Augen, als ihre Mütter auf seine Kosten loslachten. Kevin machte mit und patschte weiter mit der Hand gegen die Eistorte, während er sich ein Stück in den Mund schob.
Es ist fast wie bei einer dieser Fernsehsendungen, in denen unerklärliche Dinge geschehen, dachte Mackenzie, als sie den Austausch beobachtete. Ihre Mütter kamen tatsächlich miteinander aus. Und das ganz ungezwungen. Natürlich war noch nicht viel Zeit vergangen, aber irgendwie fühlte es sich natürlich an. Es fühlte sich – Gott möge ihr beistehen – richtig an.
Sie war sich bewusst, dass sie erstaunt aussah, aber sie konnte nicht anders. Wer weiß, wie lange sie noch weiter gestarrt hätte, wenn das Telefon nicht geklingelt und sie aus ihrer Trance befreit hätte. Sie nahm die Chance, den Tisch zu verlassen, freudig an, eilte zu ihrem Handy auf dem Küchentresen und wunderte sich nicht einmal, wer wohl am anderen Ende wartete.
Das änderte sich, als sie den Namen ihres Chefs, McGrath, auf dem Bildschirm der Anrufererkennung sah. Es war bereits nach siebzehn Uhr und ein Anruf zu dieser Uhrzeit bedeutete gewöhnlich, dass ein paar geschäftige Tage auf sie warteten. Sie nahm ab und schielte durch den Flur in den Essbereich, in der Hoffnung, Ellingtons Blick aufzufangen. Doch der sprach gerade mit seiner Mutter und befreite Kevins Hände und sein Gesicht von Eis.
„Agent White“, antwortete sie.
„Hey White.“ McGraths Stimme war so nüchtern wie immer. Es war schwer, seine Stimmung anhand dieser zwei Worte festzumachen. „Ich glaube, einen Fall zu haben, der wie gemacht für Sie beide ist. Allerdings ist es etwas eilig. Sie müssten sich noch heute Abend vorbereiten und dann morgen früh im Flieger Richtung Utah sitzen.“
„Das ist in Ordnung, aber warum kümmern sich die Kollegen vor Ort nicht darum?“
„Es handelt sich um besondere Umstände. Ich werde alles erklären, wenn Sie hier im Büro sind. Wie schnell können Sie hier sein?“
Sie war ein bisschen enttäuscht von sich selbst, Erleichterung darüber zu empfinden, den Abend vorzeitig verlassen zu können – schließlich handelte es sich um eine gültige Ausrede, dem seltsamen Zusammentreffen den Rücken zuzukehren.
„Tatsächlich sogar ziemlich schnell“, sagte sie. „Wir haben gerade automatische Babysitter vor Ort.“
„Sehr gut. Dann in einer halben Stunde?“
„Perfekt“, sagte sie. Sie beendete den Anruf und während sie noch immer ins Esszimmer starrte und versuchte, die Situation zu begreifen, rief sie: „Hey E? Kannst du mal kurz kommen?“
Vielleicht war es ihre Stimme oder die einfache Annahme, dass sie stets lediglich aus Geschäftsgründen angerufen wurden, denn Ellington kam sofort und grinste erwartungsvoll.
„Arbeit?“, fragte er.
„Ja.“
„Prima“, meinte Ellington. „Denn ehrlich gesagt finde ich es ziemlich unheimlich, was hier gerade abgeht.“
„Wem sagst du das!“
Um seinen Punkt zu unterstreichen, kicherten plötzlich beide Mütter im Esszimmer um die Wette und wurden vom hellen Lachen ihres Sohnes begleitet.
KAPITEL VIER
Obwohl es sich seltsam anfühlte, Kevin mit beiden Großmüttern alleine zu lassen, konnte Mackenzie nicht leugnen, dass es ihr warm ums Herz wurde, als sie daran dachte, dass ihre Mutter endlich etwas Zeit mit ihrem Enkelkind verbringen konnte. Ihre einzige Sorge war, dass die sture und eher egoistische Seite ihrer Mutter zum Vorschein kommen könnte. Würde sie ihre Abwehrhaltung einnehmen, wenn klar wurde, dass Kevin und Frances bereits miteinander vertraut waren? Sie war überrascht, dass keiner die Situation mit Sorge zu betrachten schien, als sie sich gemeinsam mit Ellington durch die leeren Flure des FBI Hauptquartiers begab und auf McGraths Büro zusteuerte.
Beim Betreten des Raumes war offensichtlich, dass er kurz davor war, Feierabend zu machen. Er steckte einige Akten in seine Tasche und schien sogar ziemlich gut gelaunt zu sein.
„Danke für Ihre Spontanität“, sagte er.
„Kein Problem“, meinte Ellington. „Sie haben uns damit sogar eine Art Gefallen gemacht.“
„Tatsächlich?“
„Familienzusammenführung“, meinte Mackenzie.
„Also geht es mich nichts an. Dann werde ich die Sache mal auf den Punkt bringen. Wir haben eine tote Frau drüben in Utah. Das FBI wurde dazu gerufen, weil die Frau laut örtlicher Polizei keine Identität hat. Keine Aufzeichnungen, keine Sozialversicherungsnummer, keine Geburtsurkunde, keine bekannte Adresse – nichts.“
„Warum Agenten aus DC schicken, statt die Kollegen vor Ort in Salt Lake City einzuspannen?“, fragte Mackenzie.
„Ich kenne nicht alle Details, aber die Zweigstelle dort scheint ein bisschen in der Klemme zu sitzen. Es gab wohl in der Vergangenheit Probleme mit gewissen geschützten Persönlichkeiten. Die Zweigstelle in Salt Lake City muss deshalb wohl unglaublich vorsichtig sein, wenn es um Ermittlungen in dieser Gegend geht.“
„Das klingt ziemlich ungenau“, meinte Ellington.
„Nun, mehr kann ich gerade nicht anbieten. Es gab einen Interessenskonflikt und vor Gericht wurde dann festgestellt, dass das FBI im Unrecht gewesen war. Also hat Salt Lake City heute hier angerufen, um nach ein paar DC Agenten zu fragen, die dort diskret an dem Fall arbeiten können. Aufgrund der Natur des Mordes scheinen Sie beide die perfekte Wahl zu sein – ich bin mir sicher, dass Sie den Fall problemlos lösen können. Fliegen Sie hin und finden Sie heraus, um wen es sich bei der Frau handelt und wer sie umgebracht hat. Und warum. Dann übergeben Sie die Sache der örtlichen Polizeidienststelle und kommen nach Hause.“
„Und was ist die Natur des Mordes?“, fragte Ellington.
„Ich werde Ihnen die ausführlichen Berichte zuschicken lassen. Aber es scheint, als wäre die junge Frau mitten in der Nacht vor etwas davongerannt. Die Arbeitsthese ist, dass sie dabei von einem Fahrzeug angefahren wurde. Im Anschluss hat man ihr die Kehle durchgeschnitten. Auf ihrem Mund befand sich außerdem ein Stück Klebeband, aber der Gerichtsmediziner denkt, dass das nach ihrem Tod angebracht wurde.“
Mackenzie stimmte ihm zu – der Fall schien wirklich genau das Richtige für sie zu sein. Und sie war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte.
„Wann sollen wir dort sein?“, fragte Ellington.
„Ich habe Ihnen beiden einen Flug für morgen früh um viertel nach fünf gebucht. Bitte nehmen Sie diesen Flug wahr und sehen Sie sich den Tatort spätestens gegen Mittag an. Ich weiß, dass die Kinderbetreuung in diesem Fall ein Problem darstellen könnte, aber …“
„Ausnahmsweise glaube ich, dass wir das regeln können“, meinte Ellington.
„Warte. Ich weiß nicht, ob …“
„Geht es um die Familienzusammenführung?“, fragte McGrath. Er hatte seine Tasche mittlerweile verschlossen und betrachtete sehnsüchtig die Tür.
„Ja, Sir.“
„Wie gesagt – das geht mich nichts an. Wenn es mit der Kinderbetreuung ein Problem gibt und nur einer von Ihnen fliegen kann, geben Sie mir Bescheid.“
Mit diesen Worten deutete er zur Tür.
***
„Ich muss was loswerden“, sagte Mackenzie auf dem Rückweg zur Wohnung. „Ich habe mich bei unserem letzten Fall nicht unbedingt damit wohlgefühlt, Kevin bei deiner Mutter zu lassen. Ein paar Stunden hier und da sind kein Problem. Damit komme ich klar. Aber gleich mehrere Tage …“
„Oh, das kann ich nachvollziehen. Aber um ehrlich zu sein, gefällt es mir auch nicht gerade, ihn mehrere Tage lang bei deiner Mutter zu lassen.“