„Nein, zehn Pfund sind zu wenig!“ rief Lacey, die sich durchaus bewusst war, dass sie ihn gerade hinauf statt hinunter handelte. Doch das Haus zu dem lächerlich niedrigen Preis, den er verlangte, zu mieten käme ihr fast so vor wie Diebstahl. Und Lacey würde den Teufel tun und diesen furchtbar netten, unbeholfenen Mann, der sie vor ihrem Malheur mit dem fehlenden Zimmer bewahrt hatte, über den Tisch ziehen.
„Das Haus ist historisch und hat zwei Schlafzimmer. Es eignet sich ideal für Familien. Und nach einem gründlichen Hausputz können Sie es bestimmt für ein paar hundert Pfund pro Nacht vermieten.“
Ivan war so verlegen, dass er nicht wusste, wo er hinsehen sollte. Über Geld zu sprechen bereitete ihm sichtlich Unbehagen, was ihn in Laceys Augen nicht gerade dazu befähigte, ausgerechnet als Geschäftsmann tätig zu sein. Sie hoffte nur, dass seine Mieter ihn nicht andauernd über den Tisch zogen.
„Dann sagen wir eben fünfzehn Pfund pro Nacht,“ schlug Ivan vor. „Und ich schicke Ihnen jemand zum Saubermachen vorbei.“
„Zwanzig Pfund“, antwortete Lacey. „Und das Saubermachen übernehme ich selbst.“ Sie grinste und streckte ihm ihre Hand entgegen. „Jetzt brauche ich nur noch den Schlüssel. Ich lasse kein „Nein“ gelten.“.
Inzwischen erstreckte sich das verlegene Rot auf Ivans Wangen schon bis zu seinen Ohren und über seinen Hals. Zur Bestätigung ihres Deals nickte er nur und legte den bronzenen Schlüssel in Laceys ausgestreckte Hand.
„Meine Telefonnummer steht auf meiner Visitenkarte. Rufen Sie mich an falls irgendetwas am Haus nicht funktioniert – oder besser: wenn etwas nicht funktioniert.“
„Danke“, sagte Lacey, die ihm tatsächlich sehr dankbar war, mit einem leisen Kichern.
Ivan machte sich auf den Weg.
Endlich allein ging Lacey wieder nach oben, um ihre Erkundungstour fortzusetzen. Das Elternschlafzimmer lag nach vorne hinaus und verfügte über Meerblick und einen Balkon. Auch dieses Zimmer mit seinem großen, aus dunklem Eichenholz gefertigten Bett, das auf vier soliden Pfosten stand und dem dazu passenden riesigen Kleiderschrank, der aussah als wäre er der Eingang in das fiktive Land Narnia, hätte jedem Museum Ehre gemacht. Das zweite Schlafzimmer lag auf der Rückseite des Hauses und damit auf den Garten hinaus. Badezimmer und Toilette waren getrennt, wobei die Toilette nicht viel größer als ein Schrank war. Das Badezimmer bestand mehr oder weniger nur aus einer auf bronzenen Füßen stehenden, weißen Badewanne mit hoher Rückenlehne und einer Abdeckung über ihrem unteren Teil. Es gab keine extra Dusche, sondern nur eine Duschvorrichtung in der Wanne.
Wieder zurück im Elternschlafzimmer ließ Lacey sich aufs Bett fallen. In diesem Moment kam sie endlich einmal dazu, über den zurückliegenden, ziemlich ereignisreichen Tag nachzudenken und merkte erst jetzt, wie erledigt sie war. Heute Morgen war sie noch eine seit vierzehn Jahren verheiratete Frau gewesen. Inzwischen war sie alleinstehend. Heute Morgen war sie noch eine vielbeschäftigte New Yorker Geschäftsfrau gewesen. Und nun saß sie hier, in einem auf einer Klippe stehenden Landhaus in England. Wie aufregend das alles war! Und wie spannend! Noch nie zuvor in ihrem ganzen Leben hatte sie etwas getan, das so viel Mut erforderte – und es fühlte sich einfach grandios an!
Die Rohre gaben wieder einmal einen lauten Knall von sich, was Lacey erst einmal zu einem erschreckten Quietschen veranlasste. Doch nur einen Augenblick später lachte sie bereits laut über ihre Schreckhaftigkeit.
Sie legte sich zurück, so dass sie zu dem über dem Bett angebrachten Baldachin hinaufsah und lauschte dem Rauschen der Wellen, die sich an dem Kliff brachen. Dieses Geräusch versetzte sie in ihren Gedanken wieder in ihre Kindheit zurück, denn sie hatte schon damals davon geträumt, einmal am Meer zu leben. Heute kam es ihr seltsam vor, dass dieser Traum so lange verschüttet gewesen war. Wenn sie nicht nach Wilfordshire zurückgekommen wäre, wäre der Traum dann komplett in Vergessenheit geraten? Inzwischen fragte sie sich, ob da noch andere verschüttete Erinnerungen waren, die nur darauf warteten, während ihres Aufenthalts hier wieder ans Licht zu kommen. Vielleicht würde sie morgen früh, gleich nach dem Aufstehen, eine Erkundungstour durch den Ort unternehmen und sehen, welche Erinnerungen dabei zu Tage kommen würden.
KAPITEL DREI
Lacey wurde von einem seltsamen Geräusch geweckt.
Zwar saß sie sofort aufrecht im Bett, wusste aber nicht gleich, wo sie sich befand, nicht zuletzt, weil der Lichtstrahl, der durch einen Spalt im Vorhang ins Zimmer drang, ziemlich dünn war. So dauerte es ein paar Sekunden, bis ihr bewusstwurde, dass sie sich nicht in ihrem Apartment in New York befand, sondern in einem steinernen Cottage, das auf den Klippen des Ortes Wilfordshire, England, stand.
Da war das Geräusch wieder. Dieses Mal handelte es sich nicht um ein Klappern in den Rohren, aber trotzdem hörte es sich an wie etwas ganz Grundlegendes, ja irgendwie fast Animalisches. Mit einem schlaftrunkenen Blick auf ihr Handy stellte sie fest, dass es hier 5 Uhr morgens war. Seufzend hievte sie ihren geräderten Körper aus dem Bett. Der Jetlag machte sich bei jedem ihrer schwerfälligen Schritte, die sie in Richtung des Balkons machte, um die Vorhänge aufziehen zu können, bemerkbar. Als sie die Vorhänge geöffnet hatte, sah sie nur bis zu dem Punkt, an dem die Klippe zum Meer hin abfiel und dahinter kam schon der Ozean, der sich bis zu einem wolkenlosen, langsam hell werdenden und dabei schon erkennbar makellos blauen Horizont. Obwohl auf dem Rasen vor dem Haus kein tierischer Krachmacher zu sehen war, war das Geräusch noch da. Wenigstens konnte Lacey inzwischen ausmachen, dass es von der hinteren Seite des Hauses kam.
In dem Kleid, das sie noch in der letzten Minute vor ihrem Abflug am Flughafen erstanden hatte, trottete Lacey die unter ihren Schritten quietschende Treppe hinunter, um zu erkunden woher das Geräusch kam. Sie marschierte ohne zu zögern direkt zur Rückseite des Hauses, deren großes Fenster und Fenstertüren ihr einen guten Blick auf den Rasen hinter dem Haus ermöglichten. Und tatsächlich konnte sie von dort aus den Ursprung des Geräusches erkennen.
In ihrem Garten graste eine ganze Schafherde.
Lacey zwinkerte ungläubig. Das waren bestimmt mindestens fünfzehn Schafe! Oder zwanzig, Oder sogar noch mehr!
Sie rieb sich die Augen, doch als sie sie wieder öffnete, waren die flauschigen Gesellen immer noch da und hielten sich genüsslich an ihrem Gras schädlich. Dann hob eines der Tiere seinen Kopf.
So kam es, dass Lacey und das Schaf sich in die Augen sahen, ja sozusagen sogar versuchten, sich gegenseitig niederzustarren, bis das Schaf schließlich aufgab und ein langes, klagendes Blöken von sich gab.
Lacey musste unwillkürlich kichern. Sie konnte sich keine bessere Art vorstellen, ihr neues Leben ND zu beginnen. Plötzlich fühlte sich ihr Aufenthalt hier in Wilfordshire weniger wie ein Urlaub an, als vielmehr wie ein gut durchdachter Akt des Willens, eine Rückkehr zu sich selbst oder gar wie das Bekenntnis zu neuen, ihr bisher gänzlich unbekannten Seiten ihres Wesens.
Was immer es auch sein mochte, kam es Lacey vor als rumorten jede Menge sprudelnde Bläschen, etwa wie die, die man von Champagner her kennt, in ihrem Magen herum (vielleicht war dieses seltsame Gefühl aber auch einfach immer noch auf ihren Jetlag zurückzuführen, obwohl sie sich – jedenfalls laut ihrer inneren Uhr – doch gerade erst eine großzügig bemessene Portion Schaf gegönnt hatte). Doch wie dem auch war, brannte Lacey nur so darauf, den neuen Tag zu beginnen.
Denn auf einmal sehnte sich Lacey nach Abenteuern. War sie gestern noch von dem ihr nur allzu vertrauten Verkehrslärm von New York City geweckt worden, so hatte sie heute das dauernde Blöken einer Schafherde aus dem Schlaf gerissen. Hatte sie gestern als erstes den Duft von frischer Wäsche und Putzmitteln in der Nase gehabt, so roch es hier und heute nach Staub und nach Meer. Sie hatte mal eben ihr altes, gewohntes Leben in Scherben gelegt. Als seit neuestem wieder alleinstehende Frau schien ihr die ganze Welt zu Füßen zu liegen. Und sie wünschte sich nichts mehr als diese zu erkunden! Neues zu entdecken! Dazuzulernen! Plötzlich fühlte sie einen Enthusiasmus in sich, den sie nicht mehr gehabt hatte seit…ja, eigentlich seit ihr Vater die Familie verlassen hatte.
Lacey schüttelte den Kopf. Sie wollte sich jetzt nicht mit traurigen Dingen befassen. Sie wollte alles tun, um sich ihre neu gewonnene Lebensfreude zu erhalten. Wenigstens für heute. Sie wollte dieses Gefühl festhalten und nie mehr loslassen. Heute war sie frei.
Um sich von dem inzwischen nagenden Hungergefühl in ihrem Bauch abzulenken, unternahm sie einen Versuch, sich in ihrer großen, altmodischen Wanne zu duschen. Das bedeutete sie nahm die seltsame, an den Wasserhähnen angebrachte, schlauchähnliche Konstruktion und spritze sich damit ab, wie man es sonst vielleicht mit einem dreckigen Hund tun würde. Zwar wurde das zuerst noch warme Wasser von jetzt auf gleich eiskalt und dazu gaben die Rohre die ganze Zeit über das ihr bereits bekannte Klappern von sich, doch hatte diese Dusche auch gute Seiten. Denn das im Vergleich zu dem harten Wasser, das Lacey aus New York gewöhnt war, unglaublich weiche Wasser hier fühlte sich auf ihrer Haut fast wie eine teure Feuchtigkeitslotion an, was Lacey sehr genoss, auch wenn der plötzliche Temperatursturz des Wassers sie dazu brachte, vor Kälte mit den Zähnen zu klappern.
Nachdem sie sich die Ausdünstungen des Flughafens sowie den Schmutz der Großstadt von ihrer jetzt – sogar im eigentlichen Sinn des Wortes – strahlenden Haut gespült hatte trocknete sie sich ab und zog die Sachen an, die sie am Flughafen gekauft hatte. An der Innenseite des riesigen Schlafzimmerschrankes war ein Spiegel angebracht, in dem sie sich in ihrem neuen Outfit betrachten konnte. Doch dieses gefiel ihr ganz und gar nicht.
Lacey zog eine Schnute. Sie hatte die Kleidungsstücke in der Annahme, Freizeitklamotten wären wohl die beste Wahl für ihren Urlaub in einem Badeort, in einem Laden für Strandbekleidung am Flughafen erstanden. Aber während sie sich eigentlich legere Kleidung für den Strand vorgestellt hatte, sah ihr neues Outfit eher aus wie Klamotten aus einem Secondhand-Laden. Die beigen Slacks saßen ein wenig zu eng, dafür war das weiße Baumwollshirt so weit, dass sie förmlich darin verschwand und die schlampig verarbeiteten Bootsschuhe eigneten sich wahrscheinlich noch schlechter zum Laufen auf Kopfsteinpflaster als die Stöckelschuhe, die sie normalerweise immer auf Arbeit getragen hatte! Aus diesem Grund würde sie sich heute wohl gleich als erstes nach ein paar besser passenden Klamotten umsehen müssen.
In Laceys Bauch grummelte es noch immer.
Du bist dann als nächstes dran, dachte sie und rieb sich den Magen.
Ohne darauf zu achten, dass ihr Haar so nass war, dass ihr das Wasser den Rücken hinunterlief ging Lacey nach unten und in die Küche, wo sie bei einem Blick aus dem Fenster feststellte, dass von der Schafherde, die heute Morgen in ihrem Garten herumgestanden hatte, nur noch ein paar Tiere übriggeblieben waren. Weder ihre Suche in den Küchenschränken noch im Kühlschrank förderte irgendetwas essbares zu Tage. Aber es war auch noch zu früh, um in den Ort hinunter zu gehen und sich ein paar Leckereien aus der Patisserie auf der Hauptstraße zu holen. Bis diese aufmachte würde sie wohl noch etwas Zeit totschlagen müssen.
„Zeit totschlagen!“ rief Lacey überglücklich aus.
Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal Zeit totschlagen müssen? Wann hatte sie das letzte Mal die Freiheit gehabt, einfach mal herumzubummeln und nichts zu tun? David hatte immer sehr darauf geachtet, dass sie das Beste aus ihrer wenigen Freizeit herausholten. Da hieß es dann: ab ins Fitnessstudio, zum Brunchen, zu Unternehmungen mit ihren Familien oder auf einen Drink. Jede „freie“ Minute war durchgetaktet gewesen. Plötzlich fiel es Lacey wie Schuppen von den Augen, wie absurd es war, Pläne für seine freie Zeit zu schmieden, denn durch diese Planung war diese Zeit ja dann gar nicht mehr frei! Dadurch, dass sie es David überlassen hatte, nach Gutdünken über ihrer beider Zeit zu verfügen, hatte sie sich freiwillig in eine Zwangsjacke aus sozialen Verpflichtungen begeben. Diese Erkenntnis fühlte sich fast an wie eine buddhistische Erleuchtung.
Der Dalai Lama wäre bestimmt stolz auf mich, dachte Lacey und klatschte dabei vergnügt in die Hände. In diesem Moment begannen die in ihrem Garten verbliebenen Schafe wieder zu blöken. Das brachte Lacey auf die Idee, sie könne ihre neu gewonnene Freiheit dafür nutzen Detektiv zu spielen und herauszufinden, wo die Tiere hingehörten.
Sie öffnete die Fenstertüren und trat in den Hof hinaus. Auf ihrem Weg durch den Garten in Richtung der beiden Wollknäuel, die sich noch immer an ihrem Rasen gütlich taten, wurde ihr Gesicht von einem vom Meer herüber wehenden, wunderbar erfrischenden Sprühnebel benetzt.
Als die Schaffe hörten, dass sie sich ihnen näherte trotten sie schwerfällig und ohne jede Grazie davon und verschwanden durch eine Lücke in der Hecke.
Lacey marschierte ebenfalls zu dieser Lücke im Gestrüpp hinüber und warf einen neugierigen Blick durch diese, bei dem sie jenseits des Gebüschs einen mit bunten Blumen bestandenen Garten entdeckte. Also hatte sie wohl einen Nachbarn. Zu ihren Nachbarn in New York hatte sie keinen Kontakt gehabt, denn diese waren wohl – wie David und sie auch – zum größten Teil berufstätige Paare gewesen, die morgens das Haus verließen und erst spät abends wieder dorthin zurückkamen. Aber die Nachbarn hier schienen es, wie ihr gepflegter Garten vermuten ließ, etwas ruhiger angehen zu lassen. Und sie hielten sogar Schafe! Wo Lacey früher gewohnt hatte, hatte es, soweit sie wusste, kein einziges Tier gegeben, denn schließlich hatten vielbeschäftigte Yuppies, wie David und sie oder ihre früheren Nachbarn keine Zeit, um sich Haustiere zu halten, geschweige denn Lust dazu, sich mit deren überall in der Wohnung herumliegenden Haaren und anderen Hinterlassenschaften zu belasten. Wie schön war es dagegen, dass sie jetzt mitten in der Natur lebte! Ja sie empfand sogar den Geruch von Schafmist als eine willkommene Abwechslung zu dem sterilen Appartementhaus in NYC, in dem sie bis vor kurzem gewohnt hatte.
Als sie sich wieder aufrichtete fiel Laceys Blick auf ein Stück Rasen, das weniger grün war als der Rest des Grases, sondern eher wie ein viel benutzter Trampelpfad wirkte. Dieser Pfad führte am Rande des Gebüsches entlang bis zum Rand der Klippe, wo sie ein fast ganz von Pflanzen zugewachsenes Tor erkennen konnte. Sie ging zu dem Tor und öffnete es.
Vor ihr lag eine grob in die Klippe geschlagene Treppe, die bis zum Strand hinunterführte. Vorsichtig machte Lacey sich daran, die Stufen, die ihr vorkamen als seien sie direkt einem zauberhaften Märchen entsprungen, hinunterzugehen.