Ihre Finger schlossen sich fester um das Amulett, das in ihrer Hand pulsierte, und sie betete mit jeder Faser ihres Seins zu Gott.
Bitte Gott, lass das Amulett seine Wirkung entfalten. Bitte rette mich, nur dieses eine Mal. Erlaube mir, Thor wiederzusehen.
Gwendolyn öffnete die Augen und erwartete, dass sie sehen würde, wie Andronicus Schwert auf sie herabsauste. Doch was sie sah ließ sie sprachlos werden. Andronicus stand da wie erstarrt, sah über sie hinweg, als ob sich jemand hinter ihr nähern würde. Er schien überrascht, ja sogar verwirrt, und das war nicht gerade ein Ausdruck, den sie von ihm erwartet hätte.
„Du wirst deine Waffe nun langsam senken“, sagte eine Stimme hinter Gwendolyn.
Gwendolyn war wie elektrifiziert vom Klang der Stimme. Sie kannte sie. Sie fuhr herum und sah hinter sich eine Person, die sie so gut kannte wie ihren eigenen Vater.
Argon.
Er stand in eine weiße Robe mit einer Kapuze gehüllt da. Seine Augen glühten mit einer Intensität, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, und starrten Andronicus an. Sie und Steffen lagen zwischen diesen beiden Titanen. Beide waren Wesen von unvorstellbarer Macht, einer auf Seiten der Finsternis, einer auf Seiten des Lichts, und standen sich nun gegenüber. Sie konnte den Krieg, der auf spiritueller Ebene über ihr tobte, spüren.
„Werde ich das?“, spottete Andronicus und grinste ihn an.
Doch bei seinem Grinsen konnte Gwen sehen, wie seine Lippen bebten und sich zum ersten Mal so etwas wie Furcht in Andronicus‘ Augen abzeichnete. Sie hatte nie gedacht, dass sie das einmal sehen würde. Andronicus musste wissen, wer Argon war. Und was immer er auch über Argon wusste, war genug, dass sich der mächtigste Mann der Welt fürchtete.
„Du wirst dem Mädchen keinen weiteren Schaden mehr zufügen“, sagte Argon ruhig. „Du wirst ihre Kapitulation akzeptieren.“ Er trat mit leuchtenden Augen näher. „Du wirst ihr erlauben, sich zu ihren Leuten zurückzuziehen. Und du wirst ihren Leuten erlauben, zu kapitulieren, wenn sie das wünschen. Ich sage dies nur ein einziges Mal. Es wäre klug von dir, es anzunehmen.“
Andronicus starrte Argon an und blinzelte ein paarmal, als ob er unentschlossen wäre.
Dann schließlich warf er seinen Kopf in den Nacken und lachte schallend. Es war das lauteste und finsterste Lachen, das Gwen je gehört hatte. Es füllte das gesamte Lager und schien bis in den Himmel zu schallen.
„Deine Zaubertricks wirken bei mir nicht alter Mann!“, lachte Andronicus. „Ich habe vom Großen Argon gehört. Vor langer Zeit einmal bist du mächtig gewesen. Mächtiger als die Menschen, die Drachen, sogar als der Himmel selbst, sagt man. Doch deine Zeit ist um. Jetzt ist eine neue Zeit angebrochen. Die Zeit des Großen Andronicus. Du bist nicht mehr als ein Relikt. Ein Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten, als die MacGils herrschten und die Magie stark war. Als der Ring unbezwingbar war. Doch dein Schicksal ist an den Ring gebunden. Und jetzt ist der Ring schwach. So wie du.
Du bist ein Narr, dich mir entgegenzustellen, alter Mann. Dafür wirst du leiden. Dafür wirst du jetzt die Macht des Großen Andronicus kennenlernen.“
Andronicus grinste und hob erneut sein Schwert hoch über Gwendolyn und sah dabei Argon direkt in die Augen.
„Ich werde das Mädchen langsam vor deinen Augen töten“, sagte Andronicus. „Dann den Buckligen. Als nächstes werde ich mir dich vornehmen und dich verstümmeln. Doch ich werde dich am Leben lassen als Beweis für die Größe meiner Macht!“
Gwendolyn kniff die Augen zu, als Andronicus das Schwert langsam auf ihren Kopf herab senkte. Plötzlich geschah etwas: Sie hörte ein Geräusch die Stille durchdringen, ein Geräusch wie tausend Feuer, gefolgt von Andronicus‘ Schrei.
Sie öffnete ungläubig die Augen und sah Andronicus‘ Gesicht vor Schmerz verzerrt, wie er sein Schwert fallen ließ und auf die Knie ging. Sie sah, wie Argon Schritt für Schritt auf ihn zuging und eine Hand vorgestreckt hatte, die von der einer violett leuchtenden Kugel aus Licht umgeben war. Die Kugel wurde immer grösser, umschloss Andronicus und Argon, der ausdruckslos weiter auf ihn zuging.
Andronicus kauerte sich am Boden zusammen, als das Licht ihn einhüllte.
Seine Männer keuchten, doch keiner wagte sich ihm zu nähern. Entweder hatten sie alle Angst vor Argon, oder er hatte sie mit einem Zauber belegt, der sie hilflos machte.
„MACH DASS ES AUFHÖRT!“, schrie Andronicus und hielt sich die Ohren zu. „ICH FLEHE DICH AN!“
„Du wirst dem Mädchen keinen weiteren Schaden zufügen“, sagte Argon langsam.
„Ich werde ihr keinen weiteren Schaden zufügen!“, wiederholte Andronicus wie in Trance.
„Du wirst sie nun freilassen und zu ihrem Volk zurückkehren lassen.“
„Ich werde sie freilassen und zu ihrem Volk zurückkehren lassen!“
„Du wirst ihrem Volk die Gelegenheit geben, zu kapitulieren.“
„Ich werde ihrem Volk die Gelegenheit geben, zu kapitulieren!“, kreischte Andronicus. „Bitte! Ich werde alles tun!“
Argon holte tief Luft und hielt schließlich inne. Das Licht verblasste als er langsam seinen Arm senkte.
Gwen sah ihn erschrocken an; sie hatte Argon nie in Aktion gesehen und sie konnte seine Macht kaum fassen. Es war, als würde sie zusehen, wie sich der Himmel selbst öffnete.
„Wenn wir uns wiedersehen, Großer Andronicus“, sagte Argon langsam, und sah auf den wimmernden Andronicus herab, „dann wird es auf deinem Weg ins finsterste Reich der Toten sein.“
KAPITEL ZWEI
Thor wand sich unter den Händen der Empire-Krieger und musste hilflos mitansehen, wie Durs, der Mann, den er einmal für seinen Bruder gehalten hatte, sein Schwert hob, um ihn zu töten. Thor schloss die Augen und wusste, dass seine Zeit gekommen war. Er war wütend auf sich selbst, weil er so naiv und vertrauensselig gewesen war. Sie hatten ihn die ganze Zeit über an der Nase herumgeführt – direkt auf die Schlachtbank. Viel Schlimmer noch, als ihr Anführer sahen die anderen Jungen zu Thor auf, vertrauten auf seine Führung. Er hatte nicht nur sich selbst enttäuscht, er hatte die anderen im Stich gelassen. Seine Naivität, seine vertrauensselige Natur, hatte sie alle in Gefahr gebracht.
Während er sich im Griff der Empire-Krieger wand, versuchte er seine Kräfte zu rufen, sie von irgendwo tief in ihm heraufzubeschwören, gerade genug, um sich zu befreien und zurückzuschlagen. Doch so sehr er sich auch abmühte, sie wollten ihm nicht gehorchen. Seine körperlichen Kräfte waren im Moment nicht ausreichend, um sich aus dem Griff der Krieger zu befreien.
Thor spürte, wie der Wind über sein Gesicht strich, als das Schwert von Durs auf ihn herabsauste und bereitete sich auf den Schwerthieb vor. Er war noch nicht bereit zu sterben. In seinem Geist sah er Gwendolyn, die im Ring auf ihn wartete. Er hatte das Gefühl, dass er auch sie im Stich gelassen hatte.
Plötzlich hörte Thor einen Schlag, öffnete die Augen und stellte überrascht fest, dass er noch am Leben war. Durs Arm war mitten im Schwerthieb von einem riesigen Empire-Krieger festgehalten worden, der Durs um einiges überragte – was nicht einfach war, in Anbetracht von Durs eigener Größe. Er hatte Durs Handgelenk ergriffen, als die Klinge nur noch Zentimeter über Thor schwebte.
Durs wandte sich überrascht dem Mann zu.
„Andronicus will nicht, dass er getötet wird“, zischte der Krieger Durs finster an. „Er will sie alle lebend haben. Als Gefangene.“
„Davon hat uns niemand etwas gesagt!“, protestierte Durs.
„Die Abmachung war, dass wir sie töten könnten!“, fügte Dross hinzu.
„Sie wurde geändert“, sagte der Krieger.
„Das könnt ihr nicht tun!“, schrie Drake.
„Können wir nicht?“, antwortete er finster. „Wir können tun, was uns gefällt. Oh ja, und ihr seid nun auch unsere Gefangenen.“ Der Krieger grinste breit. „Je mehr Angehörige der Legion wir haben, umso höher wird die Bezahlung ausfallen.“
Durs sah den Krieger mit wutverzerrtem Gesichtsausdruck an und im nächsten Augenblick brach heilloses Chaos aus, als sich die Empire-Krieger auf die drei Brüder stürzten, sie niederrangen und ihnen die Hände fesselten.
Thor nutzte das Chaos und sah sich nach Krohn um, der neben ihm im Schatten stand und sich loyal an seiner Seite hielt.
„Krohn, hilf mir!“, rief Thor. „JETZT!“
Krohn sprang mit einem Knurren vor, stürzte sich auf einen den Krieger, der Thor festhielt und grub seine Zähne in dessen Hals. Thor konnte seine Hand befreien und Krohn machte sich über den nächsten Mann her, und dann den nächsten, bis sich Thor befreit hatte und sein Schwert ergreifen konnte. Thor fuhr herum und schlug mit einem einzigen Hieb drei Männern die Köpfe ab.
Thor rannte zu Reece, der ihm am nächsten war, und stach seinem Wächter direkt ins Herz, befreite ihn, sodass auch er sein Schwert ziehen und sich mit ihm in den Kampf stürzen konnte. Sie liefen zu ihren Legionsbrüdern, überwältigten ihre Wächter und befreiten Elden, O’Connor, Conval und Conven. Die anderen Krieger waren damit abgelenkt, Drake, Durs und Dross abzuwehren, und als sie bemerkten, was vor sich ging, war es zu spät. Thor, Reece, O’Connor, Elden, Conval und Conven waren alle frei und bewaffnet. Sie waren nach wie vor in der Unterzahl und wussten, dass der Kampf kein einfacher sein würde. Doch zumindest wussten, sie, dass sie eine Chance haben würden. Unerschrocken und leidenschaftlich stürzten sie sich auf ihre Feinde. Die noch verbliebenen hundert Krieger des Empire griffen an und Thor hörte weit über sich einen Schrei, blickte auf und sah Estopheles. Sein Falke stürzte sich herab und kratzte dem feindlichen Anführer die Augen aus, sodass er zu Boden fiel und sich vor Schmerzen wand. Estopheles griff nacheinander weitere Krieger an und schaltete auch sie, einen nach dem anderen, aus.
Während des Angriffs lud Thor einen Stein in seine Schleuder, spannte sie und traf einen Mann an der Schläfe, gerade bevor er ihn erreichen konnte. O’Connor gelang es, zwei Pfeile abzuschießen, und beide trafen ihr Ziel mit tödlicher Präzision. Elden spießte zwei Gegner gleichzeitig mit seinem Speer auf und sie stürzten zu Boden. Doch das war nur der Anfang – es blieben hundert Krieger übrig.
Unter lautem Schlachtgeschrei trafen sie aufeinander. Wie man es ihm beigebracht hatte, konzentrierte sich Thor auf einen Krieger und wählte sich dafür den aus, der am größten und gemeinsten aussah. Er hob sein Schwert und stürzte sich auf ihn. Dem Mann gelang es, Thors Schwerthieb mit dem Schild abzuwehren und parierte sofort mit seinem Hammer in Richtung von Thors Kopf.
Thor wich aus und als der Hammer neben ihm zur Erde sauste, zog er seinen Dolch und rammte ihn dem Mann in den Bauch, sodass er tot zusammenbrach.
Thor hob seinen Schild gerade rechtzeitig, um den Angriff von zwei feindlichen Kriegern mit ihren Schwertern abzuwehren. Er parierte und tötete dabei einen von ihnen. Er wollte gerade dem anderen einen Hieb versetzen, als er aus dem Augenwinkel sah, wie ein anderer ihn von hinten mit dem Schwert angriff. Er fuhr herum und wehrte den Hieb mit seinem Schild ab.
Thor wurde nun von allen Seiten angegriffen – sie waren zahlenmäßig immer noch weit unterlegen – und die Hiebe regneten nur so auf ihn herunter. Er hatte weder die Zeit noch die Energie, um anzugreifen – er konnte nicht mehr tun, als sich zu verteidigen. Und es stürzten sich immer mehr Männer auf ihn.
Er sah zu seinen Waffenbrüdern hinüber und erkannte, dass es ihnen nicht besser erging. Jedem von ihnen war es gelungen, ein oder zwei feindliche Krieger zu töten. Doch derart in der Unterzahl zahlten sie den Preis für ihre Tapferkeit – jeder von ihnen hatte bereits unzählige leichtere Wunden erlitten. Und das trotz der Hilfe von Krohn, der selbst einen feindlichen Krieger nach dem anderen attackierte, und der Hilfe von Indra, die Steine auf die Männer des Empire warf. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie umzingelt wären und sie sterben müssten.
„Befreit uns!“, kam eine Stimme.
Thor wandte sich um und sah Drake, der genau wie seine Brüder nur ein paar Meter weit weg gefesselt lag.
„Befreit uns!“, wiederholte er. „Und wir werden euch helfen, gegen sie zu kämpfen! Wir kämpfen für dieselbe Sache!“
Als Thor seinen Schild hob, um wieder einen harten Hieb abzuwehren, diesmal von einer Kriegsaxt, erkannte er, dass die Hilfe der drei von unschätzbarem Wert sein könnte. Ohne sie hatten sie ganz klar keine Chance, siegreich aus dem Kampf hervorzugehen. Thor war sich alles andere als sicher, ob er ihnen trauen konnte, doch er war an einem Punkt angelangt, an dem er nichts zu verlieren hatte. Immerhin hatten die drei Brüder selbst eine Motivation zu kämpfen.
Thor wehrte den nächsten Schwerthieb ab, ließ sich auf die Knie fallen und rollte zu den Brüdern hinüber. Er sprang auf, zerschnitt ihre Fesseln und schützte sie währenddessen vor den Angriffen der Empire-Krieger. Alle drei schnappten sich ihre Schwerter und warfen sich in den Kampf.
Drake, Dross und Durs stürzten sich schlagend und Schwerter schwingend in die Menge. Jeder von ihnen war groß und ein geübter Kämpfer, und die Verstärkung traf die Männer des Empire unvorbereitet, sodass binnen weniger Augenblicke etliche von ihnen fielen. Thor hatte gemischte Gefühle, sie nach allem, was sie getan hatten, zu befreien – doch in Anbetracht der Umstände schien es eine kluge Wahl zu sein. Besser als der Tod.
Nun, da sie zu neunt gegen die verbleibenden etwa achtzig Krieger kämpften, waren die Kräfteverhältnisse immer noch sehr zu ihren Ungunsten, aber wenigstens etwas besser als zuvor.
Die Waffenbrüder konnten sich auf ihre erlernten Fähigkeiten verlassen, auf die Übungen, die ihnen beim Training mit den Hundert in Fleisch und Blut übergegangen waren, die zahllosen Übungseinheiten, in denen sie umringt gewesen waren und in der Unterzahl gekämpft hatten. Sie taten, was ihnen Kolk und Brom beigebracht hatten. Sie zogen sich selbst in einen engen Kreis zurück und mit einander zugewandten Rücken wehrten sie die Angriffe der feindlichen Krieger als Einheit ab. Ermutigt durch die Ankunft von drei weiteren Kämpfern, verspürten sie alle neuen Mut und kämpften noch energischer als zuvor.
Conval zückte seinen Kriegsflegel, schwang ihn weit und schlug die Feinde immer wieder. So gelang es ihm, drei der Empire-Krieger niederzustrecken, bevor jemand ihm die Kette entriss. Sein Bruder Conven verwendete einen Streitkolben, zielte tief und zertrümmerte den feindlichen Kriegern die Beine mit der schweren gespickten Metallkugel.
Auf die kurze Distanz konnte O’Connor seinen Bogen nicht verwenden, doch er konnte seine beiden Wurfdolche aus seinem Gürtel ziehen, sie in die Menge werfen und damit zwei Krieger töten. Und Thor und Reece blockten und parierten virtuos mit ihren Schwertern. Einen Augenblick lang fühlte sich Thor optimistisch.
Dann sah Thor aus dem Augenwinkel etwas, das ihn störte. Er beobachtete, wie einer der drei Brüder sich aus der Gruppe löste und durch den Kreis spurtete. Thor wandte sich um und sah Durs. Er stürzte sich nicht auf einen Krieger des Empire, sondern auf ihn. Er wollte ihm in den Rücken stechen.
Es geschah zu schnell und Thor, der zwei feindliche Krieger vor sich abwehren musste, konnte sich nicht rechtzeitig umdrehen.