Sie liefen an allen Leuten vorbei durch die schmalen Gassen, durch einen weiteren Torbogen und erreichten schließlich den kleinen Palast der Unterstadt. Gwen verlor immer wieder das Bewusstsein, als sie den prächtigen roten Palast betraten, über einen Treppenabsatz einen langen Flur entlang und durch ein weiteres Tor hindurch gingen. Schließlich öffnete sich eine kleine Tür und sie betraten eine Kammer.
Sie war schwach beleuchtet. Es schien ein großes Schafzimmer zu sein, denn ein Himmelbett stand in der Mitte und in einem alten marmornen Kamin in der Ecke brannte ein Feuer. Mehrere Diener standen herum und Gwendolyn spürte, wie Argon sie zum Bett trug und sie sanft darauf legte. Sofort versammelte sich viele Menschen um das Bett herum und sahen besorgt auf sie herab. Argon zog sich zurück und verschwand in der Menge. Sie sah sich nach ihm um, blinzelte mehrmals, konnte ihn jedoch nicht mehr finden. Er war fort. Sie konnte das Fehlen seiner schützenden Energie spüren, die sie wie ein Schild eingehüllt hatte. Ohne ihn fühlte sie sich weniger beschützt und ihr wurde kalt.
Gwen leckte über ihre trockenen Lippen, und einen Moment später spürte sie, wie jemand ihr sanft ein Kissen unter den Kopf schob und ihr einen Kelch mit Wasser an die Lippen hielt. Sie trank und trank, und bemerkte erst jetzt, wie durstig sie war. Sie sah auf und erkannte die Frau, die ihn ihr reichte.
Illepra, die königliche Heilerin. Sie sah auf sie herab und Sorge lag in ihren sanften braunen Augen, als sie ihr mit einem warmen Tuch die Stirn abwischte und ihr die Haare aus dem Gesicht strich. Sie legte ihre Hand auf Gwens Stirn, und sie konnte fühlen, wie eine heilende Energie sie durchströmte. Ihre Augenlider wurden schwer und schlossen sich gegen ihren Willen.
*
Gwendolyn wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie die Augen wieder aufschlug. Sie fühlte sich noch immer erschöpft und desorientiert. In ihren Träumen hatte sie eine Stimme gehört, und jetzt hörte sie sie wieder.
„Gwendolyn“, sagte die Stimme. Sie hörte sie in ihrem Geist widerhallen und fragte sich wie oft er ihren Namen gerufen hatte.
Sie sah auf und erkannte Kendrick, der auf sie herabblickte. Neben ihm stand ihr Bruder Godfrey gemeinsam mit Srog, Brom, Kolk und mehreren anderen. Auf der anderen Seite stand Steffen neben ihr. Sie mochten den Ausdruck auf ihren Gesichtern nicht. Sie sahen sie mitleidig an, als wäre sie von den Toten zurückgekehrt.
„Gwen, meine liebe Schwester“, sagte Kendrick und lächelte sie an. Sie konnte die Besorgnis in seiner Stimme hören. „Erzähl uns, was geschehen ist.“
Gwen schüttelte den Kopf. Sie war zu müde, um alles zu erzählen.
„Andronicus“, sagte sie mit heiserer Stimme, die mehr wie ein Flüstern klang. Sie räusperte sich. „Ich habe versucht… mich ihm zu ergeben… im Tausch für die Stadt… habe ihm vertraut. So dumm…“
Sie schüttelte wieder ihren Kopf und Tränen liefen ihr über die Wangen.
„Nein, das war sehr nobel“, korrigierte sie Kendrick und drückte ihre Hand. „Du bist von uns allen hier die Mutigste.“
„Du hast getan, was jeder große Anführer getan hätte“, sagte Godfrey und trat näher.
Sie schüttelte den Kopf.
„Er hat uns hereingelegt…”, sagte sie, „und mich angegriffen. Er hat McCloud auf mich gehetzt.“
Gwen konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, als sie die Worte ausgesprochen hatte. Sie wusste, dass sich das für einen Herrscher nicht ziemte, aber sie konnte nichts dagegen tun.
Kendrick drückte ihre Hand und strich ihr die Haare aus dem Gesicht.
„Sie wollten mich umbringen…“, stammelte sie, „aber Steffen… hat mich gerettet…“
Die Männer sahen Steffen, der loyal neben ihr stand, respektvoll an. Er senkte den Kopf.
„Was ich getan habe, war zu wenig und kam zu spät“, sagte er bescheiden. „Ich war nur einer gegen viele.“
„Dennoch hast du unsere Schwester gerettet und dafür stehen wir ewig in deiner Schuld“, sagte Kendrick.
Steffen schüttelte den Kopf.
„Meine Schuld gegenüber Eurer Schwester ist viel grösser“, gab er zurück.
Gwen kamen die Tränen.
„Argon hat uns beide gerettet“, erwiderte sie.
Kendricks Blick verfinsterte sich.
„Wir werden Rache für dich nehmen“, sagte er.
„Ich sorge mich nicht um mich“, sagte sie. „Es ist die Stadt… unser Volk… Silesia… Andronicus… Er wird angreifen…“
Godfrey tätschelte ihre Hand.
„Mach dir darüber jetzt keine Gedanken“, sagte er. „Ruh dich aus. Wir werden uns um diese Dinge kümmern. Du bist jetzt in Sicherheit.“
Gwen spürte, wie ihre Augenlider wieder schwer wurden. Sie wusste nicht, ob sie wach war oder träumte.
„Sie muss schlafen“, sagte Illepra und trat schützend zwischen sie und die Männer.
Gwendolyn nahm alles nur noch schattenhaft wahr und verlor wieder das Bewusstsein. In ihrem Geist blitzen Bilder von Thor und von ihrem Vater auf. Es fiel ihr schwer zu unterscheiden, was Realität und was ein Traum war, und sie bekam nur Bruchstücke der Unterhaltung mit, die um sie herum geführt wurde.
„Wie ernst sind ihre Verletzungen?“, hörte sie eine Stimme sagen. Vielleicht war es Kendrick.
Sie spürte, wie Illepra ihr mit der Hand über die Stirn strich. Und die letzten Worte, die sie hörte, bevor sie endgültig davondriftete, waren Illepras: „Ihre körperlichen Verletzungen sind nicht schwer, aber die Wunden an ihrer Seele sind tief.“
*
Als Gwen wieder aufwachte, hörte sie das Knistern eines Feuers. Sie wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war. Sie blinzelte mehrmals und sah sich in dem spärlich beleuchteten Raum um. Die Männer waren gegangen. Die einzigen Leute im Raum waren Steffen, der auf einem Stuhl neben ihrem Bett saß, Illepra, die über sie gebeugt dastand und eine Salbe auf ihr Handgelenk auftrug, und eine weitere Person. Er war ein freundlich aussehender alter Mann, der sie besorgt ansah. Er kam ihr bekannt vor, doch sie war sich nicht sicher. Sie fühlte sich so müde, viel zu müde, als hätte sie eine Ewigkeit nicht geschlafen.
„Mylady?“, sagte der alte Mann und beugte sich über sie. Er hielt etwas Großes in beiden Händen und auf den zweiten Blick erkannte sie, dass es ein ledergebundenes Buch war.
„Ich bin es, Aberthol“, sagte er. „Dein alter Lehrer. Kannst du mich verstehen?“
Gwen schluckte, nickte langsam und versuchte die Augen ein Stück weit offen zu halten.
„Ich habe stundenlang darauf gewartet, dich zu sehen“, sagte er. „Ich habe gesehen, wie du dich im Schlaf herumgewälzt hast.“
Gwen nickte langsam. Sie erinnerte sich und war dankbar, dass er hier war.
Aberthol öffnete sein großes Buch und sie konnte das Gewicht auf ihrem Schoß spüren. Sie hörte das Rascheln der dicken Seiten, als er sie umblätterte.
„Das ist eines der wenigen Bücher, die ich retten konnte“, sagte er, „bevor sie das Haus der Gelehrten niedergebrannt haben. Es sind die vierten Annalen der MacGils. Du hast es gelesen. In ihnen verbergen sich Geschichten von Eroberungen, Siegen und Niederlagen – doch auch andere Geschichten. Geschichten von großen Anführern, die verwundet wurden. Wunden des Körpers und Wunden des Geistes. Jede vorstellbare Art von Verletzungen, Mylady. Und deswegen bin ich gekommen. Selbst die besten Männer und Frauen haben die unvorstellbarsten Behandlungen, Verletzungen und Folter erleben müssen. Du bist nicht alleine. Du bist eine Speiche im Rad der Zeit. Da gab es zahllose andere, die viel Schlimmeres erleiden mussten als du – und viele, die überlebt haben und große Anführer geworden sind.
„Schäme dich nicht“, sagte er und griff ihre Hand. „Das ist es, was ich dir sagen will. Schäme dich niemals. Du solltest keine Scham hegen, sondern nur Ehre und Stolz auf das, was du getan hast. Du bist die größte Herrscherin, die der Ring je gesehen hat. Und das was geschehen ist, macht dich in keinem Fall schlechter.“
Gwen war tief gerührt von seinen Worten und eine Träne rollte ihr über die Wange. Seine Worte waren genau das, was sie jetzt brauchte, und sie war so dankbar dafür. Ihr Verstand sagte ihr, dass er recht hatte.
Doch es fiel ihr schwer, es zu fühlen. Sie hatte das Gefühl, dass ein Teil von ihr für immer beschädigt war. Sie wusste, dass dem nicht so war, doch sie konnte das Gefühl nicht abschütteln.
Aberthol lächelte, während er ein kleineres Buch hervorzog.
„Erinnerst du dich an das hier?“, fragte er und schlug den ledernen Einband auf. „Das war deine ganze Kindheit lang dein Lieblingsbuch. Die Legenden unserer Väter. Da gibt es eine ganz besondere Geschichte und ich dachte mir, ich könnte sie dir vorlesen, um dir etwas die Zeit zu vertreiben.“
Gwen war gerührt von seiner Geste, aber sie konnte nicht mehr. Traurig schüttelte sie den Kopf.
„Ich danke dir“, sagte sie mit erstickter Stimme, während eine weitere Träne über ihre Wange lief. „Aber ich kann nicht…“
Er sah enttäuscht aus. Doch dann nickte er. Er verstand sie.
„Ein anderes Mal“, sagte sie niedergeschlagen. „Ich wäre jetzt lieber alleine. Könntet ihr mich bitte allein lassen? Alle?“, sagte sie und wandte sich Steffen und Illepra zu.
Sie standen auf und neigten den Kopf. Dann drehten sie sich um und eilten aus dem Raum.
Gwen fühlte sich schuldig, doch sie konnte nicht anders; sie wollte sich in eine Ecke verkriechen und sterben. Sie hörte ihre Schritte, hörte wie sich die Tür hinter ihnen schloss und blickte auf um sicherzugehen, dass der Raum leer war.
Zu ihrer Überraschung war er es nicht: Eine einzelne Figur stand aufrecht im Schatten des Eingangs. Langsam und würdevoll ging sie auf Gwen zu, blieb einen Meter vor ihrem Bett stehen und sah ausdruckslos auf sie herab.
Ihre Mutter.
Gwen war überrascht, sie hier zu sehen, die ehemalige Königin, so würdevoll und stolz wie eh und je, die kühl und ausdruckslos wie immer auf ihre Tochter herabsah. In ihren Augen war kein Mitgefühl, so wie sie es in denen ihrer anderen Besucher gesehen hatte.
„Warum bist du hier?“, fragte Gwen.
„Ich bin gekommen, um dich zu sehen.“
„Aber ich will dich nicht sehen“, sagte Gwen. „Ich will niemanden sehen.“
„Es ist mir egal, was du willst oder nicht“, sagte sie kühl und selbstbewusst. „Ich bin deine Mutter und ich habe das Recht, dich zu sehen, wenn ich es will.“
Gwen fühlte den Alten Zorn auf ihre Mutter wieder aufflackern. Sie war die letzte Person, die sie jetzt sehen wollte. Doch sie kannte ihre Mutter und sie wusste, dass sie nicht gehen würde, bis sie gesagt hatte, was sie sagen wollte.
„Dann sprich“, sagte Gwendolyn. „Sprich und geh, wenn du fertig bist.“
Ihre Mutter seufzte.
„Du kannst es nicht wissen“, sagte ihre Mutter, „doch als ich jung war, etwa in deinem Alter, bin ich auf dieselbe Weise angegriffen worden wie du.“
Gwen sah sie überrascht an. Das hatte sie wirklich nicht gewusst.
„Dein Vater hat es gewusst“, fuhr sie fort. „Und ihm war es egal. Er hat mich trotzdem geheiratet. Doch zu der Zeit, als es passiert ist, hatte ich das Gefühl, dass meine Welt zusammengebrochen war. Doch das war sie nicht.“
Gwen schloss ihre Augen und spürte, wie eine weitere Träne über ihre Wange rollte. Sie versuchte, das Thema zu verdrängen. Sie wollte die Geschichte ihrer Mutter nicht hören. Es war zu spät, um von ihrer Mutter Mitgefühl annehmen zu können. Hatte sie etwa erwartet, dass sie einfach so hier hereinmarschieren könnte, nach so vielen Jahren, in denen sie sie kühl und abweisend behandelt hatte, und dass eine teilnahmsvolle Geschichte alles wieder gutmachen würde?
„Bist du fertig?“, fragte Gwendolyn.
Ihre Mutter trat vor. „Nein, ich bin nicht fertig“, sagte sie bestimmt. „Du bist jetzt die Königin – es ist an der Zeit, dass du dich wie eine verhältst.“ Die Stimme ihrer Mutter war eiskalter. Gwen hörte darin eine Stärke, die ihr noch nie zuvor aufgefallen war. „Du bemitleidest dich selbst. Doch jeden Tag, überall auf der Welt, müssen Frauen ein viel schlimmeres Schicksal erleiden als du. Was dir passiert ist, ist bedeutungslos, wenn man das Gesamtbild betrachtet. Verstehst du mich? Es ist nichts.“
Ihre Mutter seufzte.
„Wenn du in der Welt der Macht überleben willst, musst du stark sein. Stärker als die Männer. Die Männer werden dich auf die eine oder andere Weise kriegen. Es geht nicht darum, was mit dir geschieht – es geht darum, wie du es wahrnimmst. Wie du darauf reagierst. Das ist das, worüber du die Kontrolle hast. Du kannst dich zurückziehen und sterben. Oder du kannst stark sein. Das unterscheidet die Mädchen von den Frauen.“
Gwen wusste, dass ihre Mutter versuchte, ihr zu helfen. Doch ihrem Versuch fehlte jegliche Form des Mitgefühls. Gwen hasste Vorträge dieser Art.
„Ich hasse dich“, sagte Gwendolyn. „Ich habe dich schon immer gehasst.“
„Das weiß ich“, sagte ihre Mutter. „Und ich hasse dich genauso. Doch das heißt nicht, dass wir einander nicht verstehen können. Ich will deine Liebe nicht – ich will, dass du stark bist. Diese Welt wird nicht von schwachen oder ängstlichen Menschen regiert – sie wird von jenen regiert, die wenn es hart auf hart kommt, den Kopf schütteln, als wäre nichts geschehen. Du kannst zusammenbrechen und sterben, wenn du das willst. Es ist genug Zeit dafür. Doch das ist langweilig. Sei stark und lebe. Lebe in vollen Zügen. Sei ein Beispiel für andere. Denn eines Tages wirst du ohnehin sterben. Daher solltest du, solange du noch atmest, auch wirklich leben.“
„Lass mich in Ruhe!“, schrie Gwendolyn. Sie konnte kein weiteres Wort mehr ertragen.
Ihre Mutter starrte mit kaltem Blick auf sie herab, und endlich, nach unbehaglichem Schweigen, drehte sie sich um und ging aus dem Raum, stolz wie ein Pfau, und schlug die Tür hinter sich zu.
In der Stille begann Gwendolyn zu weinen. Sie weinte und weinte. Sie wünschte sich mehr denn je, dass alles vorüber wäre.
KAPITEL SECHS
Kendrick stand auf der breiten Plattform am Rande des Canyons und ließ den Blick über die Nebelwirbel schweifen. Als er in die Weite des Canyons hinausblickte, brach sein Herz. Es zerriss ihn, seine Schwester so zu sehen, und er fühlte sich, als wäre er selbst angegriffen worden. Er hatte bei ihrer Rückkehr in den Gesichtern der Silesier gesehen, dass sie in ihr mehr sahen als nur ihre Anführerin – sie sahen sie als Mitglied ihrer eigenen Familie. Auch sie waren niedergeschlagen. Als ob Andronicus ihnen allen Leid zugefügt hätte.
Kendrick fühlte sich schuldig. Er hätte wissen müssen, dass seine jüngere Schwester etwas Derartiges tun würde. Er wusste, wie stolz und mutig sie war. Er hätte ahnen müssen, dass sie versuchen würde, sich selbst zu opfern, bevor jemand auch nur die Chance hätte, sie aufzuhalten. Und er hätte einen Weg finden müssen, um sie aufzuhalten. Er kannte ihre Natur, wusste wie vertrauensselig sie war, wusste, dass sie ein gutes Herz hatte – und als Krieger wusste er, wie brutal manche Anführer sein konnten. Er war älter und erfahrener als sie und er hatte das Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben.
Kendrick fühlte sich auch schuldig dafür, welche Last man in dieser aussichtslosen Situation auf die Schultern einer einzigen Person, einer neu gekrönten Königin, einem sechzehnjährigen Mädchen, gelegt hatte. Sie hätte die Last nicht alleine tragen sollen. Solch eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen, wäre selbst ihm oder seinem Vater nicht leicht gefallen. Gwendolyn hatte unter den gegebenen Umständen das Beste getan, was sie konnte, und vielleicht mehr, als jeder andere von ihnen getan hätte. Kendrick hatte selbst keine Idee, wie sie gegen Andronicus vorgehen sollten. Keiner von ihnen wusste es.