Sie hatte fast laut aufgelacht. „Stone! Stephen Lief? Komm schon.“
„Nein, ich meine es ernst“, hatte er gesagt.
Er lag auf der Seite. Sein nackter Körper war dünn, aber steinhart, wie gemeißelt und übersäht mit Narben. Ein dicker Verband hatte seine noch frische Schusswunde bedeckt. Aber seine zahlreichen Wunden störten sie nicht – im Gegenteil. Sie machten ihn nur begehrenswerter, gefährlicher. Seine dunkelblauen Augen beobachteten sie und ein spitzbübisches Lächeln umspielte seine Lippen. Nicht zum ersten Mal dachte sie bei seinem Anblick an den Marlboro-Mann.
„Du bist wunderschön, Stone. Wie eine antike griechische Statue, die, äh, einen Verband trägt. Aber vielleicht überlässt du das Denken lieber mir. Du kannst dich einfach zurücklehnen, dich weiter räkeln und hübsch dabei aussehen.“
„Ich habe mit ihm gesprochen, als ich auf seiner Farm in Florida war“, hatte Stone geantwortet. „Ich habe ihn gefragt, was er von Jefferson Monroe und dem Wahlbetrug wusste. Er ist ziemlich schnell mit der Sprache rausgerückt. Und er kann gut mit Pferden umgehen. Sanfter Typ. Das muss man ihm doch zugutehalten.“
„Ich werde dran denken“, hatte Susan gesagt, „wenn ich das nächste Mal einen Stallburschen brauche.“
Stone hatte seinen Kopf geschüttelt, ohne sein Lächeln zu verlieren. „Das Land ist gespalten, Susan. Was in letzter Zeit hier passiert ist, hat alles nur noch schlimmer gemacht. Dir geht es vielleicht noch gut, aber der Kongress hat die schlechtesten Umfragewerte der amerikanischen Geschichte. Wenn man den Umfragen Glauben schenken kann, sind die Werte für unsere Politiker, die Taliban und die Church of Satan nahezu gleich. Selbst Anwälte, die Steuerbehörde und die italienische Mafia sind beliebter.“
„Und das erzählst du mir, weil …“
„Weil das amerikanische Volk im Moment möchte, dass rechts und links, Liberale und Konservative, sich ein wenig annähern und Dinge erledigen, die dem Land helfen. Straßen und Brücken müssen repariert werden, unser Bahnsystem gehört schon längst in ein Museum, öffentliche Schulen fallen quasi auseinander und wir haben seit fast dreißig Jahren keinen größeren Flughafen mehr gebaut. Unser Gesundheitssystem ist weltweit auf Platz Zweiunddreißig, Susan. Das ist verdammt niedrig. Kannst du einunddreißig Industrienationen aufzählen, die uns voraus sind? Denn ich kann dir eins sagen, ich bin in schon überall auf der Welt unterwegs gewesen, und ich könnte höchstens einundzwanzig oder zweiundzwanzig zusammenbekommen. Der Rest sind alles Entwicklungsländer und selbst die sind in der Hinsicht besser dran als wir.“
Sie hatte geseufzt. „Wenn uns nur ein paar Konservative zustimmen würden, würde ich vielleicht mein Infrastrukturpaket durchbekommen …“
Er hatte ihr auf die Stirn geklopft. „Jetzt benutzt du langsam dein Köpfchen. Lief war achtzehn Jahre lang im Senat. Er weiß, wie man diese Spielchen spielt.“
„Ich dachte, du interessierst dich nicht für Politik“, hatte sie sich gewundert.
„Tue ich auch nicht.“
Sie hatte ihren Kopf geschüttelt. „Das macht mir ja so Sorgen.“
Er war näher an sie herangerückt. „Keine Angst. Ich zeige dir, was mich eher interessiert.“
„Ach ja?“
„Ein wenig Sport zum Beispiel“, hatte er gesagt. „Mit jemandem wie dir.“
Zurück im Hier und Jetzt schüttelte sie die Erinnerungen ab. Sie lächelte immer noch. Auf dem Fernsehbildschirm sprach Stephen Lief inzwischen die Worte seines Amtseids. Er stand in ihrem alten Arbeitszimmer im Marineobservatorium. Sie erinnerte sich gut an das Haus und dieses Zimmer. Das wunderschöne Gebäude aus den 1850ern mit seinen Türmchen und Giebeln stand auf dem Gelände des Marineobservatoriums in Washington, D.C. Seit Jahrzehnten war es die offizielle Residenz des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten.
Sie hatte den Ausblick aus dem großen Fenster früher ausgiebig genossen, das jetzt auf dem Bildschirm zu sehen war. Aus ihm hatte man eine perfekte Aussicht über die wunderschönen grünen Hügel des Campus des Marineobservatoriums. Nachmittags fiel die Sonne durch das Fenster und sorgte für ein farbenfrohes Spiel aus Licht und Schatten. Fünf Jahre lang hatte sie als Vizepräsidentin in diesem Haus verbracht. Sie hatte es dort geliebt und würde sofort dahin zurückziehen, wenn man es ihr anbieten würde.
Damals war sie nachmittags und abends oft auf dem Gelände des Observatoriums zusammen mit ihren Geheimdienstagenten joggen gegangen. Diese Zeit war voller Optimismus, mitreißender Reden und Treffen mit tausenden von hoffnungsvollen Bürgern gewesen. Heute schienen ihr diese Jahre wie eine Ewigkeit entfernt.
Susan seufzte. Ihre Gedanken wanderten ziellos umher. Sie erinnerte sich an das Attentat am Mount Weather, diese Gräueltat, die sie aus ihrem glücklichen Leben als Vizepräsidentin gerissen und sie in das Chaos der letzten Jahre gestürzt hatte.
Sie schüttelte ihren Kopf. Nein, danke. Sie wollte jetzt nicht an diesen Tag denken.
Auf dem Fernsehbildschirm waren inzwischen zwei Männer und eine Frau zu sehen, die auf einer erhöhten Plattform standen. Fotografen schwirrten um sie herum wie Stechmücken und machten ein Foto nach dem anderen.
Einer der Männer auf der Plattform war klein und glatzköpfig. Er trug eine lange Robe. Das war Clarence Warren, Oberster Richter der Vereinigten Staaten. Die Frau war Judy Lief. Sie trug einen hellblauen Anzug. Sie grinste über beide Ohren und hielt eine offene Bibel in der Hand. Ihr Ehemann, Stephen, legte seine linke Hand auf die Bibel. Seine rechte Hand war hoch erhoben. Lief wirkte oft mürrisch, aber selbst er lächelte jetzt ein wenig.
„Ich, Stephen Douglas Lief“, sagte er, „schwöre feierlich, dass ich die Verfassung der Vereinigten Staaten nach besten Kräften gegen sämtliche Feinde, ob im In- oder Ausland, schützen und verteidigen werde.“
„Ich schwöre ihr ewige Treue …“, sprach Richter Warren vor.
„Ich schwöre ihr ewige Treue und Gehorsam“, sagte Lief, „und schwöre, dass ich diese Verpflichtung aus freien Stücken annehme und dass ich die Pflichten des Amtes, in das ich hiermit eintrete, nach bestem Gewissen und Glauben ausüben werde.“
„So wahr mir Gott helfe“, sagte Richter Warren.
„So wahr mir Gott helfe“, wiederholte Lief.
Ein Bild tauchte vor Susans innerem Auge auf – ein Geist der noch allzu nahen Vergangenheit. Marybeth Horning, die Person, die als letzte diesen Eid abgelegt hatte. Im Senat war sie Susans Mentorin gewesen, und selbst danach als Vizepräsidentin hatte sie zu ihr aufgesehen. Klein, dünn und mit ihrer großen Brille hatte sie gewirkt wie eine Kirchenmaus, doch sie hatte brüllen können wie eine Löwin.
Und dann war sie erschossen worden, umgebracht wegen … was? Wegen ihrer liberalen Einstellung, könnte man sagen, aber das war nicht die ganze Wahrheit. Die Menschen, die sie hatten umbringen lassen, hatten sich nicht für politische Differenzen interessiert – alles, um das sie sich geschert hatten, war Macht.
Susan hoffte, dass das Land diese schreckliche Zeit jetzt hinter sich gelassen hatte. Sie sah Stephen auf dem Fernsehbildschirm dabei zu, wie er seine Familie und andere Gratulanten in die Arme schloss.
Vertraute sie diesem Mann? Sie wusste es nicht.
Würde er versuchen, sie umbringen zu lassen?
Nein. Vermutete sie. Er war zu rechtschaffen für so etwas. Während ihrer Zeit im Senat hatte sie nie gedacht, dass er versteckte Spielchen spielte. Das war zumindest etwas, dachte sie – einen Vizepräsidenten an ihrer Seite zu haben, der sie nicht umbringen wollte.
Sie stellte sich vor, wie sie von Reportern der New York Times oder der Washington Post interviewt wurde: „Was schätzen Sie besonders an Stephen Lief als Ihren neuen Vizepräsidenten?“
„Nun ja, er wird mich nicht umbringen. Ich schätze, das ist ein ziemlich guter Anfang.“
Kat Lopez war auf einmal neben ihr.
„Ähm, Susan? Sie sollten vermutlich das Wort ergreifen und Vizepräsident Lief gratulieren.“
Susan wachte aus ihren Tagträumereien auf. „Natürlich. Gute Idee. Er kann den Zuspruch wahrscheinlich gebrauchen.“
KAPITEL DREI
23:16 Uhr israelischer Zeit (16:16 Uhr Eastern Standard Time)
Die Blaue Linie, die israelisch-libanesische Grenze
„So gehorche nicht den Ungläubigen“, flüsterte der siebzehnjährige Junge.
Er atmete tief ein.
„Eifere mit dem Koran in großem Eifer gegen sie. Bekämpfe sie; so wird Allah sie durch deine Hand bestrafen und demütigen und dir gegen sie helfen.“
Der Junge war so kampferfahren, wie man nur sein konnte. Mit fünfzehn Jahren hatte er seine Heimat und seine Familie verlassen, um der Armee Gottes beizutreten. Er war nach Syrien gereist und hatte zwei Jahre damit verbracht, in den Straßen, Angesicht zu Angesicht gegen die Apostaten von Daesh zu kämpfen, die die Leute aus dem Westen als den Islamischen Staat bezeichneten.
Die Anhänger von Daesh hatten keine Angst vor dem Tod – im Gegenteil, sie hießen ihn sogar willkommen. Viele von ihnen waren Tschetschenen oder Iraker und nur schwer zu töten. Die Anfangszeit war ein besonders schlimmer Alptraum gewesen, aber der Junge hatte überlebt. In diesen zwei Jahren hatte er zahlreiche Schlachten überstanden und noch mehr Menschen getötet. Und er hatte einiges über den Krieg gelernt.
Jetzt stand er in der Dunkelheit auf einem Hügel im Norden Israels. Er hatte einen Raketenwerfer zur Panzerabwehr auf seiner rechten Schulter. Noch vor wenigen Jahren wäre dieses schwere Geschütz unerträglich gewesen und seine Knochen hätten angefangen zu schmerzen. Aber jetzt war er stärker. Das Gewicht machte ihm nicht mehr viel aus.
Er war von spärlichem Baumbewuchs umgeben. In seiner Nähe war ein Trupp Soldaten, die die Straße unterhalb beobachteten.
„Lasst also für Allahs Sache diejenigen kämpfen, die das irdische Leben um den Preis des jenseitigen Lebens verkaufen“, sagte er leise, fast unhörbar. „Und wer für Allahs Sache kämpft, alsdann getötet wird oder siegt, dem werden Wir einen gewaltigen Lohn geben.“
„Abu!“, flüsterte jemand nachdringlich.
„Ja.“ Seine Stimme war gelassen.
„Sei ruhig!“
Abu atmete tief ein und stieß den Atem langsam und kontrolliert aus.
Er war ein Experte im Umgang mit dem Raketenwerfer. Er hatte so viele Male aus ihnen gefeuert, dass seine Genauigkeit inzwischen sehr wertvoll war. Das war eine Sache, die er über den Krieg gelernt hatte. Je länger man am Leben blieb, je mehr Fähigkeiten man sich erarbeitete, desto besser wurde man. Je besser man wurde, desto wertvoller war man und desto wahrscheinlicher war es, dass man einen weiteren Tag überlebte. Er hatte viele gekannt, die es nicht lange geschafft hatten – eine Woche, zehn Tage. Einmal hatte er sogar jemanden kennengelernt, der gleich am ersten Tag getötet worden war. Wenn man aber einmal den ersten Monat hinter sich hatte, dann –
„Abu!“, zischte die Stimme erneut.
Er nickte. „Ja.“
„Bist du bereit? Sie kommen.“
„Okay.“
Er führte die Handgriffe routiniert durch, ganz entspannt, fast, als würde er nur üben. Er hievte den Raketenwerfer hoch und faltete den Ständer aus. Er legte seine linke Hand auf das Rohr und richtete das Visier aus, nur ganz leicht, bis das Ziel in seinem Blickfeld war. Zu schnell zu fest zuzupacken war keine gute Idee. Der Zeigefinger seiner rechten Hand umspielte den Abzug. Er näherte sich mit dem Kopf an das Visier an, blickte aber noch nicht hindurch. Er bevorzugte es, bis zum letzten Moment ein freies Blickfeld zu haben, sodass er die gesamte Situation überblicken konnte. Seine Knie waren leicht gebeugt.
Jetzt konnte er die Scheinwerfer des Konvois sehen, die hinter dem Hügel zu seiner Rechten auftauchten. Sie arbeiteten sich langsam die Straße hinauf. Die Lichter schienen gen Himmel und warfen wirre Schatten. Ein paar Sekunden später konnte er das Rumpeln der Motoren hören.
Er atmete erneut tief ein.
„Ruhig …“, sagte eine strenge Stimme. „Ganz ruhig.“
„Allmächtiger Allah“, sagte Abu und sprach jetzt schneller und lauter als zuvor. „Führe meine Hände und meine Augen. Bring Tod über deine Feinde, in deinem Namen und im Namen deines Propheten Mohammed und aller großen Propheten.“
Der erste Jeep kam um die Kurve. Seine runden Scheinwerfer waren jetzt deutlich zu sehen, wie sie durch den nächtlichen Nebel schnitten.
Der junge Abu spürte das Gewicht des schweren Raketenwerfers jetzt stärker. Er blickte mit dem rechten Auge durch das Visier. Die Fahrzeuge wurden schlagartig größer und erschienen so nah, als könnte er sie anfassen. Sein Finger schloss sich um den Abzug. Er hielt den Atem an. Er war nicht länger nur ein Junge mit einem Raketenwerfer – er und die Waffe verschmolzen zu einem Wesen, zu einer Todesmaschine.
Um ihn herum bewegten sich die Männer wie Schlangen und krochen auf die Straße zu.
„Ruhig“, sagte die Stimme erneut. „Das zweite Fahrzeug, hörst du?“
„Ja.“
In seinem Visier war der zweite Jeep jetzt genau in der Mitte. Er konnte die Silhouetten seiner Insassen sehen.
„Einfach“, flüsterte er. „So einfach … ganz ruhig …“
Zwei Sekunden vergingen, in denen Abu den Fahrzeugen mit dem Lauf des Raketenwerfers folgte, langsam von rechts nach links, ohne zu zittern.
„FEUER!“
* * *
Jetzt kam der Teil ihrer Patrouille, den Avraham Gold am meisten hasste.
Hassen war vielleicht der falsche Ausdruck. Er hatte Angst. Jeden Moment wäre es so weit.
Er redete immer zu viel. Die Worte sprudelten einfach so aus ihm hervor, nur weil er endlich hier wegwollte. Er nahm einen langen Zug von seiner Zigarette – eigentlich war es gegen die Vorschriften, auf Patrouille zu rauchen, aber das war das Einzige, was ihn beruhigte.
„Israel verlassen?“, sagte er. „Niemals! Israel ist meine Heimat, jetzt und für immer. Natürlich würde ich gerne mal ins Ausland, aber auswandern? Wie könnte ich? Gott hat uns gerufen, hier zu leben. Dies ist das Heilige Land. Das Land, das uns versprochen wurde.“
Avraham war zwanzig Jahre alt, ein Unteroffizier der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte, der IDF. Seine Großeltern waren Deutsche, die den Holocaust überlebt hatten. Er glaubte an jedes Wort, das er gerade gesagt hatte. Aber seine Ausrede klang trotzdem hohl, wie ein kitschiger Werbefilm im Fernsehen.
Er saß am Steuer eines Jeeps, der Dritte in einer Kolonne. Er blickte das Mädchen an, das neben ihm saß. Daria. Mein Gott, ist sie hübsch!
Selbst mit ihrem kurz geschorenen Haar, selbst in der nicht gerade vorteilhaften Uniform. Es war ihr Lächeln. Ihr Lächeln erhellte den Himmel. Und ihre langen Wimpern – wie die einer Katze.
Sie war fehl am Platze hier, in diesem … Niemandsland. Besonders mit ihren Ansichten. Sie war eine Liberale. Es sollte keine Liberalen bei der IDF geben, dachte Avraham. Sie waren nutzlos. Und Daria war noch schlimmer. Sie war …
„Ich glaube nicht an euren Gott“, sagte sie nur. „Das weißt du.“
Jetzt lächelte Avraham. „Ich weiß, und wenn du nicht mehr bei der Armee bist, wirst du –“
Sie beendete den Satz für ihn. „Nach Brooklyn ziehen, genau. Mein Cousin hat dort eine Umzugsfirma.“
Er lachte fast laut auf, trotz seiner Nervosität. „Bist du nicht ein bisschen zu dürr dafür, Sofas und Klaviere die Treppen hoch und runter zu tragen?“
„Ich bin stärker als du vielleicht –“