Sie bereute es, kein besser zusammenpassendes Outfit zu tragen und sich heute morgen nicht gekämmt zu haben, aber das ließ sich nicht ändern.
„Agent Prime.“ Maitlands Stimme kam einem tiefen Brummen gleich. Mit seinen eins neunzig war er fast dreizehn Zentimeter größer als sie, was er nun nutzte, um ihr von oben herab einen tadelnden Blick zuzuwerfen, wie ein Lehrer, der ein ungezogenes Kind ermahnen wollte.
„Sir“, sagte Zoe und mühte sich dabei, mit sicherer Stimme zu sprechen. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, sich mit irgendwelchen Arbeitsangelegenheiten auseinanderzusetzen. Nicht, solange sie immer noch überall Zahlen sah, wie jetzt etwa die Winkel und Maße, die man an Maitlands aufrechter, militärischer Körperhaltung ablesen konnte. So fiel ihr auch auf, dass weder seine einhundertfünfzehn Zentimeter breite Brust noch sein achtunddreißig Zentimeter großer Bizeps kleiner geworden waren, seit sie das letzte Mal im Büro gewesen war.
Seit er sie suspendiert hatte, weil sie die Leiche ihrer ermordeten Partnerin gefunden und später so lange auf den Täter eingeschlagen hatte, bis ihre Kollegen sie gewaltsam von ihm weggezerrt hatten.
„Ich bin aus dem Hauptquartier hergekommen, um persönlich mit Ihnen zu sprechen“, sagte er. Er hatte einen bedeutungsschwangeren Tonfall aufgesetzt. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich reinkomme?“
Zoe starrte ihn für einen Augenblick irritiert an. Was hatte dieser merkwürdige Tonfall zu bedeuten? War er wütend auf sie? Oder belustigt? Enttäuscht? Was denn bloß? Bei ihr kamen nur die einundsechzig Dezibel an, die zwanzig Wörter, der Rhythmus und die Kadenz der einzelnen Silben. Aber sie machte ihm dennoch den Weg frei und deutete in Richtung ihres Sofas, woraufhin Maitland vorsichtigen Schrittes an ihr vorbei und in die Wohnung trat.
Doch er ließ nicht etwa Vorsicht walten, weil er darauf achtete, nicht auf etwas Wichtiges zu treten. Sondern weil er sich nicht die Schuhe schmutzig machen wollte.
Maitland nahm behutsam auf dem Sofa Platz, während Zoe die Tür schloss und ihm dann folgte. Sie zögerte; da sie normalerweise nie Besuch hatte, hatte sie es bisher nicht für notwendig gehalten, noch eine weitere Sitzgelegenheit zu kaufen. Hier stand also bloß das Sofa, weshalb sie sich neben ihn setzen musste – was unangenehm und unangemessen war. Und außerdem verwirrend, denn sie wusste gar nicht, in welchem Winkel sie sich dabei zu ihm drehen sollte. Nach einem Moment des Zauderns nahm sie aber Platz, sie hatte sich für einen fünfundvierzig Grad Winkel entschieden: so saß sie ihm nicht direkt gegenüber, starrte aber auch nicht einfach geradeaus ins Leere. Es war die Zwischenlösung.
„Agent Prime“, sagte Maitland erneut und schien dabei seine Worte mit Bedacht zu wählen. „Was ist gestern passiert?“
„Gestern?“, wiederholte Zoe stumpfsinnig. Sie versuchte, sich zu erinnern. Gestern? Was hatten sie denn gestern überhaupt gemacht? Sie hatte apathisch aus dem Fenster gesehen, Dr. Applewhite erneut abgewiesen, einen Spaziergang gemacht. Ach. Der Spaziergang. Hatte Harry Rose sich beschwert?
Maitland rutschte nervös hin und her und drehte sich ein Stück weiter zu ihr. Zoe bemerkte, dass sein Igelschnitt zwar genauso kurz geschnitten war wie immer, im Vergleich zu ihrer letzten Begegnung allerdings grauer geworden war.
„Ihre Suspendierung ist gestern abgelaufen. Ich hatte erwartet, dass Sie zum Dienst erscheinen.“
„Das war gestern?“. fragte Zoe und ging gedanklich den Kalender durch. Ja, dachte sie, es war die richtige Anzahl an Tagen vergangen. Und außerdem war gestern ein Mittwoch gewesen. Also stimmte das Datum wohl. Das war ihr völlig entgangen.
„Ich habe Ihnen diesbezüglich mehrere E-Mails geschickt“, sagte Maitland. Er wandte den Kopf ab, sah sich in der Wohnung um. Zoe erkannte an seinem Blickwinkel, wohin er sah. Computer: ausgeschaltet; Handy: Akku leer; Festnetz: aus der Leitung gezogen. „Ich habe Sie auch diverse Male angerufen und, weil ich nicht durchgekommen bin, mehrfach Sprachnachrichten hinterlassen.“
Zoe nickte ruhig. Dreimal, im Takt: eins, zwei, drei. „Es tut mir leid“, sagte sie, auch wenn das nicht unbedingt die Wahrheit war. „Ich war in letzter Zeit nicht besonders gut darin, auf dem Laufenden zu bleiben.“
Maitland seufzte. „Ich weiß doch, dass die letzten Monate sehr schwer für Sie waren, Zoe“, sagte er. „Ich habe Sie für sechs Wochen suspendiert, weil ich wusste, dass Sie auf jeden Fall beurlaubt werden würden. Das ist vorgeschrieben, wenn Ermittler ihren Partner verlieren. Erst recht, wenn es auf diese Art und Weise passiert. Waren Sie bei der psychologischen Beratung?“
Nun schüttelte Zoe langsam den Kopf. Wieder im Takt: eins, zwei, drei. Es hatte keinen Sinn, ihm etwas vorzulügen. Er konnte das problemlos überprüfen. Hatte er wahrscheinlich schon getan. Sie hatte es nicht für sinnvoll gehalten, dort hinzugehen. Schließlich hatte sie ihre eigene Therapeutin. Wobei sie da in den letzten Wochen auch nicht hingegangen ist.
„Warum nicht?“, fragte Maitland.
Zoe dachte darüber nach, was sie antworten sollte. Sie dachte zu lang darüber nach. Die Sekunden verstrichen – drei, vier, fünf – und Maitland verlor die Geduld.
„Also gut, hören Sie mir mal zu“, sagte er, woraufhin Zoe Blickkontakt mit ihm aufnahm. Sie versuchte, sich auf seine Worte zu konzentrieren, statt auf den Umfang seiner Iris oder darauf, wie diese sich veränderte, wenn er den Kopf bewegte und deshalb das Licht in einem anderen Winkel auf sie einfiel. „Ich bin heute hier, weil ich wissen muss, was Ihre weiteren Pläne sind. Sie haben sich dazu entschieden, nicht zur Arbeit zurückzukommen. Soll ich das als ihre Kündigung betrachten?“
Zoe öffnete sofort den Mund, um ihn zu signalisieren, dass sie auf die Frage antworten wollte. Denn es war keine schwere Frage. „Ja“, sagte sie, ohne zu zögern. Wie sollte sie auch jemals zurück zur Arbeit gehen? Wie sollte sie es schaffen, ohne ihre Partnerin wieder ins Büro zu gehen? Bevor Shelley ihre Partnerin geworden war, hatten all ihre Kollegen sie gehasst. Sie ignoriert. Jetzt, wo Shelley verstorben war, wäre es sicher noch schlimmer als vorher.
Maitland nickte ruhig. Genau wie sie es zuvor getan hatte. Dreimal, im Takt: eins, zwei, drei. „Okay“, sagte er. „Wenn Sie sich da ganz sicher sind. Das brauche ich allerdings schriftlich.“
Zoe sah zu ihrem Computer herüber und nickte ihm schweigend zu. Sie konnte morgen ein Schreiben aufsetzen und es ihm zuschicken, dann wäre die Sache gleich erledigt.
Maitland begann, sich zu erheben, er wollte offenbar nicht mehr länger bleiben. Dank seiner wuchtigen Struktur musste er dabei behutsam vorgehen. „Aber bevor Sie die Kündigung schreiben, habe ich noch was für Sie“, sagte er und streckte ihr eine Aktenmappe entgegen. Zoe war so konzentriert auf die Maße seiner Iris gewesen, dass ihr gar nicht aufgefallen war, dass die Mappe die ganze Zeit auf seinem Schoß gelegen hatte. Sie hatte die übliche Größe, war braun, aber es ragte etwas weißes etwa zwei Millimeter über den Rand heraus. „Ich denke, das sollten Sie sich mal ansehen. Könnte Sie vielleicht interessieren – und ich könnte Sie für die Ermittlungen gut gebrauchen.“
Zoe starrte die Akte misstrauisch an, bis Maitland schließlich seufzte und sie auf Zoes Couchtisch ablegte.
„Ich finde den Ausgang“, sagte er und ging zur Tür. Kurz bevor er dort angekommen war, hielt er inne und sah zu ihr zurück. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Ungewöhnliches an sich, Zoe glaubte, dass sie womöglich Traurigkeit daran ablesen konnte. „Sie sind eine gute Ermittlerin, Prime. Es wäre eine Schande, wenn sich herausstellen sollte, dass dieser widerliche Typ die Karrieren von gleich zwei meiner besten Ermittlerinnen beendet hat. Ich habe bei anderen Ermittlern mit angesehen, wie sie etwas Ähnliches durchgemacht haben. Und was ihnen am meisten geholfen hat, war immer, sich wieder in die Arbeit zu stürzen.“
Und dann war er weg. Er hatte Zoe allein mit der Aktenmappe zurückgelassen. Sie starrte die Mappe an und analysierte ihre Maße. Alles andere um sich herum versuchte sie, zu ignorieren.
***
Es war noch nicht einmal Mittag, aber Zoe war bereits vollkommen erschöpft. Ihre Kopfschmerzen waren immer noch nicht weg und sie war todmüde. Nachdem sie die halbe Nacht auf den Beinen gewesen war und außerdem noch getrunken hatte, fehlt ihr nun jede Kraft. Es war nicht der erste Tag, an dem es ihr so ging. Nicht mal der erste in dieser Woche.
Sie erhob sich vom Sofa und mühte sich bis in ihr Schlafzimmer, wo sie sich einfach aufs Bett fallen ließ, ohne sich auszuziehen oder die Bettdecke aufzuschlagen. Dann schloss sie die Augen und schlief, auf dem Bauch liegend und mit dem Kopf auf das Kissen gedrückt, endlich ein. Und hatte endlich Ruhe.
„Zoe, du musst mir jetzt unbedingt zuhören.“
Zoe dreht sich um und stellte fest, dass Shelley vor ihr stand. Sie trug ein hübsches Kleid, ihre Frisur und ihr Make-up sahen noch perfekter aus, als sie es normalerweise taten und sie trug High-Heels, die sie größer machten. Zoe sah an sich herab und bemerkte, dass sie die gleiche Kleidung trug. Sie befanden sich in der Damentoilette eines Restaurants, draußen warteten ihre Lebensgefährten auf sie.
„Was?“, fragte Zoe mit bösem Blick. Irgendetwas stimmte hier nicht, aber sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was es war. Irgendwas lief hier falsch.
„Du musst mir zuhören“, sagte Shelley beharrlich.
Zoe schaute noch finsterer drein und machte einen Schritt auf Shelley zu, aber obwohl sie sich nicht bewegt hatte, war Shelley immer noch genau gleich weit entfernt. „Worauf muss ich hören?“, fragte Zoe.
Shelley deutete zu dem Spiegel hinter Zoe und Zoe drehte sich dahin um: Darin war ihr Spiegelbild zu sehen, aber ohne Make-up und schicke Kleidung, sondern ganz so, wie sie zur Zeit wirklich aussah: verschlafen und blass, im Jogginganzug, ungepflegt und mit dunklen Augenringen.
Davon abgesehen war im Spiegel nichts und niemand anderes zu sehen.
Zoe drehte sich verwirrt wieder zu Shelley um. Doch Shelley starrte sie bloß schweigend an. Mit einem solch energischen Blick, dass Zoe die Worte im Halse stecken blieben. Sie war zu nichts anderem in der Lage, als zurückzustarren. Und dabei zu versuchen, zu erraten, was Shelley ihr mit ihrem Blick sagen wollte, insbesondere als Shelleys Augen weiß und glasig wurden und aufhörten überhaupt etwas anzustarren.
Zoe schreckte auf und saß nun aufrecht und schwer atmend in ihrem Bett. Sie war durchgeschwitzt und ihr war zu warm – und als sie sich die Haare aus dem Gesicht wischte, stellte sie fest, dass sie ganz nass geworden waren. Sie brauchte eine ganze Weile, um den Gedanken an Shelleys ganz und gar weiße Augen zu wieder loszuwerden. Als sie schließlich zur Seite sah, starrte sie direkt in ein weiteres, übergroßes Augenpaar. Zoe schrie auf und rutschte auf dem Bett erschrocken zur Seite, bis ihr schließlich klar wurde, dass das bloß Eulers Augen waren, der sie mit einem besorgten Schnurren beobachtete und dabei eine seiner Pfoten in die Luft reckte.
Zoe kam wieder zu Atem und streckte die Hand nach ihm aus, um ihn hinterm Ohr zu kraulen und ihn damit wissen zu lassen, dass alles in Ordnung war. Ihr Herz raste zwar immer noch, aber er drehte sich daraufhin um und spazierte davon. Er hatte offenbar das Interesse an dem seltsamen Verhalten dieses Menschen verloren. Zoe zählte jeden einzelnen seiner Schritte mit, bis er aus dem Zimmer verschwunden war. Danach versuchte sie stattdessen ihre eigenen Atemzüge zu zählen und sie dabei so gut es ging zu verlangsamen.
Erholsamer Schlaf war das jedenfalls nicht gewesen. Zoe schwang die Beine aus dem Bett und als sie den kalten Boden unter den Füßen spürte, beruhigte sie dieses Gefühl ein wenig; es erinnerte sie daran, dass sie jetzt wieder in der realen Welt war und nicht mehr in einem Traum feststeckte. Oder besser gesagt in einem Albtraum. Was hatte Shelley ihr bloß sagen wollen? Zoe hatte keine Ahnung. Das war doch das Problem mit dem Unterbewusstsein – es war durchaus möglich, dass es überhaupt nichts zu sagen hatte.
Sie trabte Euler hinterher, bis in die Küche, in der Absicht, zunächst noch ein Glas Wasser zu trinken und danach duschen zu gehen. Während sie sich beim Trinken auf der Küchentheke abstütze, sah sie zum Couchtisch hinüber und bemerkte die Akte, die darauf lag. Sie beschloss, sie zu ignorieren. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür, Traum hin oder her. Sie sah bewusst in eine andere Richtung und wünschte sich, Maitland hätte die Mappe gar nicht erst dagelassen.
Zoe sah an ihrem Körper herab: ein Pulli und eine Jogginghose, die nicht zusammenpassten, beide noch aus ihrer Zeit an der Uni, ausgeleiert und verwaschen. Sie hatte sich schon seit Tagen nicht mehr die Haare gewaschen. Damit konnte sie dann jetzt immerhin ein wenig Zeit totschlagen.
Doch im Badezimmer geriet sie ins Stocken, denn der Anblick ihres eigenen Gesichtes im Spiegel versetzte ihr einen Schock. Sie hatte es jetzt eine ganze Weile vermieden, in den Spiegel zu sehen, aber aus irgendeinem Grund – wahrscheinlich lag es an ihrem Traum – schaute sie sich ihr Spiegelbild diesmal an. Nun sah sie sich so, wie auch Maitland sie gesehen haben musste. Mit tiefen Augenringen unter den Augen, mit fettigem und ungekämmten Haaren, mit bleicher Haut. Sie sah fürchterlich aus.
Sie hatte es auch verdient, fürchterlich auszusehen. Schließlich hatte sie doch zugelassen, dass ihre Partnerin ermordet worden war, oder nicht? Zoe schloss die Augen für einen Moment, um den damit verbundenen Schmerz zu verdrängen. Sie wollte, dass der Schmerz aufhörte.
Dann kamen ihr Maitlands Worte wieder in den Sinn. Seine Vermutung, dass es ihr durch die Arbeit womöglich leichter fallen würde, all diese Ereignisse hinter sich zu lassen. Dass die Arbeit ihren Schmerz vielleicht ein wenig lindern würde.
Es schadete ja nicht, wenigstens einmal hineinzusehen. Dann würde Maitland nicht erneut vorbeikommen – und vielleicht würde auch ihre tote Partnerin sie dann nicht mehr im Traum heimsuchen. Zumindest konnte sie sich dann sagen, dass sie es wenigstens versucht hatte.
Bevor sie es sich wieder anders überlegen konnte, ging Zoe zum Tisch hinüber und schnappte sich die Akte. Darin waren vier Blatt Papier, jeweils zwei für jedes der zwei Opfer. Allein dadurch, diese Unterlagen in der Hand zu halten, wurde ihr übel. Aber innerlich hatte sie immer noch das Bild von Shelley aus ihrem Traum vor sich, deshalb begann Zoe, sich die Akte durchzulesen.
Sie überflog die darin enthaltenen Informationen schnellen Auges, dabei stachen einige Wörter und Sätze besonders hervor. Die Leichen waren im nördlichen Hinterland des Bundesstaates New York gefunden worden. Da durfte es zu dieser Jahreszeit ziemlich kalt sein. Es sah ganz danach aus, als wäre der Tathergang bei beiden Frauen unterschiedlich gewesen. Und auch die Frauen selbst unterschieden sich in ihren Eigenschaften. Zoe erkannte keine Parallelen in Sachen Alter, Körpergewicht- und -größe, Wohnort oder in der gewählten Mordmethode.
Aber zwischen den beiden Fällen gab es dennoch eine Verbindung, einen Grund dafür, warum man sie beide in die gleiche Akte sortiert und Zoe gemeinsam überreicht hatte. Bei beiden Opfern fand sich auf dem Bauch ein postmortal eingraviertes Symbol, allem Anschein nach war dafür eine Messerspitze verwendet worden: eine gerade Linie, die zwei rechtwinklige Beine miteinander Verband, die von ihr hinunterliefen wie Stützen. Zoe erkannte sofort, dass es dem für die Zahl Pi üblicherweise verwendeten Symbol ähnelte, auch wenn die übliche Kurve an einem der Füße etwas steifer wirkte.