„Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das wirklich etwas bedeutet. Es ist heutzutage einfach eine kulturelle Sache.“
Zoe rümpfte die Nase. „Eine kulturelle Sache?“
„Ja, klar. Ist dir das bisher nie aufgefallen? Viele Leute lassen sich jetzt mit Anfang zwanzig tätowieren. Sie bedecken ihren ganzen Körper. Sogar Gesichter und Hände. Viele Promis zum Beispiel. Justin Bieber, Ariana Grande und so. Rapper, Sänger und sogar Sportler. Das ist im Moment halt cool.“
„Tattoos im Gesicht oder auf den Händen klingt nach einer wirklich schlechten Idee“, sagte Zoe und zog dabei eine Grimasse. „Stell dir mal vor, du kannst diesen Fehler, den du in jungen Jahren gemacht hast, nie wirklich verstecken, nämlich den Fehler, sich für immer etwas Dummes auf den Körper tätowieren zu lassen.“
„Irgendwo muss es doch noch eine Verbindung zwischen ihnen geben“, fuhr Shelley fort. „Ich wette, es war in ihrem Privatleben. Vielleicht kannten sie beide dieselben Leute. Aus einer Bar oder einem Club, eine Gruppe von Freunden, ein Cousin, der einen Cousin kannte. Vielleicht waren sie zusammen auf derselben Veranstaltung, ohne es überhaupt zu wissen. Wir müssen einfach weitergraben, bis wir es finden.“
Zoe nickte. „Nun, dann weiß ich, wo wir anfangen sollten.“ Sie nahm Callie Everards Akte und notierte sich die darin aufgeführte Adresse. „Der Freund, den sie besuchen wollte: Javier Santos.
KAPITEL SIEBEN
Zoe lief in dem kleinen Atelierraum umher und betrachtete die Illustrationen und Zeichnungen, die überall verstreut lagen. Ob Javier talentiert war oder nicht, konnte sie nicht beurteilen, dafür hatte sie nicht genug Ahnung von Kunst. Man sah allerdings sofort, dass er sehr produktiv war.
„Sind dies alles Entwürfe für Tattoos?“, fragte sie und versuchte, sie sich einzuprägen.
„Ja, klar.“ Javier nickte. „Die meisten von ihnen wurden schon benutzt. Ich kann Ihnen aber auch etwas Einzigartiges zaubern, wenn sie möchten.“
Zoe warf ihm einen Blick zu, um zu sehen, ob er einen Witz machte. Er meinte es anscheinend ernst, was das Ganze noch schlimmer machte.
„Ich glaube eher nicht“, sagte sie und hoffte, dass er das Thema nicht wieder anschneiden würde. Sie wollte die Befragung nicht jetzt schon ruinieren (noch bevor sie überhaupt angefangen hatte), indem sie ihm erzählte, was sie von Menschen hielt, die sich tätowieren ließen.
Besonders Tattoos wie diese hier: zufällige, wahllose Kunstwerke. Zoe konnte es gerade noch verstehen, wenn sich jemand die Karikatur eines Frauengesichts als Kunstwerk an die Wand hängen oder in ein Buch kleben würde. Aber es für den Rest des Lebens auf den Körper tätowieren zu lassen? Das Gesicht dieser Person zu tragen – dieser fiktiven Person, die weder einem selbst noch sonst jemandem etwas bedeutet, die nur aus den zufälligen Tagträumen eines Künstlers geboren wurde?
Es kam ihr wirklich seltsam, vor, und sie wusste nicht, ob sie jemandem vertrauen konnte, der bereit war, aus etwas so Bedeutungslosem ein dauerhaftes Statement zu machen.
„Wie Sie wollen.“ Javier zuckte mit den Achseln, offensichtlich störte ihn ihr Desinteresse nicht wirklich. „Ich weiß nicht, was ich mit dem Entwurf machen soll, den ich für Callie gemacht habe. Ich habe erst überlegt, ob ich ihn mir selbst stechen lassen soll, aber das könnte etwas seltsam sein.“
„Warum?“, fragte Zoe. Wenn jemand, der in einen Mordfall verwickelt war, dachte, dass etwas „seltsam“ erschien, war es ihrer Erfahrung nach, eine Überprüfung wert.
„Na ja, in erster Linie war es ein Erinnerungsstück. Warten Sie, ich zeige es Ihnen.“ Javier begann, auf einem Schreibtisch zwischen Entwürfen und Transparentpapieren zu wühlen, und zog schließlich ein fertig aussehendes Design hervor. Es war mit schweren schwarzen Strichen getuscht, die die Form eines fliegenden Vogels umrissen.
„Was ist das?“, fragte Zoe und ignorierte dabei den Blick, den Javier ihr zuwarf, weil sie seine Kunst nicht sofort verstanden hatte.
„Es ist ein Rabe. Basierend auf dem Mythos von Muninn“, begann er.
„Aus dem Altnordischen“, unterbrach ihn Zoe. Hier konnte sie zumindest beweisen, dass sie etwas wusste. „Ein Vogel, der den Gott Odin besuchte. Deshalb nannten Sie es ein Erinnerungsstück.“
„Ja, und wegen der Blumen.“ Javier deutete auf die Blumensträuße hinter dem schwarzen Vogel, die in sanften Lila- und Violetttönen gefärbt waren. „Es sind Zinnien, die die Erinnerung an einen verlorenen Freund darstellen.“
„Um wen geht es?“, fragte Shelley leise und betrachtete den Entwurf, während sie über Zoes Schulter blickte.
„Einen alten Freund.“ Javier verzog den Mund und zuckte mit den Achseln. „Einen alten festen Freund, um ehrlich zu sein. Damals, als Callie, ähm …“
„Als sie auf Drogen war?“, fragte Zoe. Sie fühlte, dass Shelley neben ihr zusammenzuckte, reagierte aber nicht weiter. Welchen Sinn hatte es, um den heißen Brei zu reden? Sie wussten alle, worüber sie sprachen. Es war für keinen von ihnen ein Geheimnis.
„Ja, genau“, sagte Javier und rieb sich mit einer Hand den Nacken. „Ich wollte sagen, als sie sich in einem schlechten Umfeld bewegte, aber ja.“
„Was war denn mit den beiden?“, fragte Shelley. Ihr Tonfall war viel sympathischer als der von Zoe. Irgendwie hatte sie die Gabe, dieselben direkten Fragen zu stellen, aber sie ließ sie so viel … netter klingen.
„Er sorgte immer für Ärger. Einer aus der Gruppe, die sie überhaupt erst auf Drogen gebracht hat. Soweit ich weiß, waren sie, wenn sie nicht bekifft waren, betrunken. Und wenn sie nicht bekifft oder betrunken waren, haben sie auf der Toilette Koks geschnupft und gevögelt.“ Javier schüttelte den Kopf und holte tief Luft. „Entschuldigung. Ich mag es nicht, so an sie zu denken. So ist sie nicht wirklich. War sie nicht. Nicht die letzten Jahre, die ich sie kannte.“
„Nach der Uni wurde sie clean, oder?“, fragte Shelley.
„Ja, das stimmt. Ich half ihr dabei. Zuerst konnte sie sich die Entziehungsklinik nicht leisten, also organisierten wir eine Art Kunstflohmarkt. Wir sammelten etwas Geld für sie, ich und einige andere aus unserer Klasse. Seitdem sind wir in Kontakt geblieben.“
„Dieser Ex-Freund“, begann Zoe und versuchte, ihn auf Kurs zu halten.
„Er wurde getötet, glaube ich. Ich weiß es nicht. Callie sprach damals nicht gern über ihn. In den letzten Jahren begann sie, sich damit zu arrangieren, weiterzumachen. Ich glaube, sie hatte endlich akzeptiert, dass er schlecht für sie war, giftig. Aber das, was sie zusammen hatten, war ihr auch wichtig gewesen. Darum die Blumen. Nicht verlorene Liebe, sondern nur ein verlorener Freund.“
Getötet? Das hat Zoes Aufmerksamkeit geweckt. „Kennen Sie die Umstände seines Todes?“
„Es war zumindest keine Überdosis. Die Polizei ermittelte, aber ich weiß nicht, ob sie jemals jemanden festgenommen haben. Das war's. Das ist alles, was ich weiß.“
Zoe grübelte. Es wäre ein sehr verlockender roter Faden, wenn zuerst dieser mysteriöse Freund ermordet wurde und dann Callie. Sie müssten nur eine Verbindung zu Dowling finden, und schon hätten sie etwas. Vielleicht etwas, das mit Drogen zu tun hat.
Shelley sagte zwar, es sei alles nur kulturell, aber die Tätowierungen … Zoe war nie ein Fan gewesen. Sie repräsentierten eine Untergruppe der Gesellschaft, die sie öfter hinter Gittern sah als in respektablen Positionen. Mit einem Tattoo konnte man keinen guten Job bekommen. Sicherlich konnte man nicht in der Strafverfolgung tätig sein, nicht mit einem Tränen-Tattoo im Gesicht oder dem Namen des Kindes am Hals.
Die Tätowierung, die Javier für Callie entworfen hatte, war groß. Achtzehn Zentimeter von oben nach unten. Es war nichts, was man verstecken konnte. Es wurde entworfen, um gesehen zu werden. Menschen mit sichtbaren Tätowierungen, wie ihre und die von Dowling, waren normalerweise keine guten Menschen.
Die Dinge begannen einen Sinn zu ergeben. Callie und ihr Freund waren im Drogenmilieu unterwegs. Sie hingen mit der falschen Art von Menschen herum. Obwohl sie clean war, als sie starb, hatte sie die Art von Vergangenheit, die Mord anzog. Nur weil Dowling zuletzt ein sauberes Leben führte, hieß das nicht, dass er nicht schon früher in etwas verwickelt gewesen sein konnte.
„Danke, Javier“, sagte Zoe schnell. „Das hilft uns bestimmt weiter.“
„Warte mal“, unterbrach Shelley. „Ich habe da noch ein paar Fragen.“
Zoe wollte, dass sie weiterging, und bewegte sich bereits zurück zur Tür, wo sie warten konnte. Ihrer Meinung nach waren sie fertig, und sie wollte sich so schnell wie möglich auf den Weg machen. Sie wollte nicht noch mehr Zeit damit verschwenden, sich diese sinnlosen Tattoo-Zeichnungen anzusehen und mit Javier zu sprechen, der ihnen bereits das Interessanteste, was sie wissen mussten, gegeben hatte.
„Fällt ihnen jemand ein, der Callie hätte schaden wollen?“
Javier schüttelte den Kopf. „Das habe ich der Polizei schon gesagt. Sie war ein süßes Mädchen. Mittlerweile, meine ich. Sie hat sich wirklich verändert. Niemand wollte, dass ihr etwas zustößt.“
Hatte sie sich wirklich verändert, fragte sich Zoe. Konnte ein Leopard seine Flecken ändern? Callie konnte ihre ganz sicher nicht verändern – nicht die, sie sich für immer in ihren Körper hatte stechen lassen. Für immer, das heißt, bis ihr Mörder sie weggebrannt hatte.
Vielleicht hing all das zusammen. Vielleicht hatte sie Gang-Tattoos, die weggebrannt werden mussten. Vielleicht sah jemand in ihr das letzte Glied in einem mörderischen Spiel, das schon seit langer Zeit lief. Die letzte Rache für einen Drogenhändler, der aus dem Gefängnis entlassen wurde, oder für eine Biker-Gang, die jemanden loswerden musste, der ihre Regeln gebrochen hatte.
„Was ist mit heute Morgen, gestern Abend, gestern? Ist Ihnen jemand Ungewöhnliches aufgefallen?“, fragte Shelley.
„Nein, ganz und gar nicht“, sagte Javier. Er brach auf einer kleinen Bank am Tisch zusammen und vergrub sein Gesicht in den Händen. „Ich wünschte, ich wüsste mehr. Ich wünschte, ich könnte ihnen mehr erzählen, was dabei helfen würde, denjenigen zu finden, der ihr das angetan hat. Sie hat das nicht verdient.“
Aber vielleicht dachte jemand, sie hätte es verdient. Das mussten Zoe und Shelley herausfinden. Aber das würden sie nicht hier tun können.
„Wir lassen Sie jetzt mit Ihren Gedanken allein“, sagte Zoe, ein Satz, den sie schon einmal gehört hatte und von dem sie dachte, dass er zumindest ein bisschen sympathisch klang. „Wenn ihnen etwas Nützliches einfällt, melden sie sich bitte bei uns.“
Sie ignorierte den vorwurfsvollen Blick, den Shelley ihr zuwarf, weil sie nicht freundlicher war, und verließ Javiers Tattoo Höhle, froh darüber, klare Luft zu atmen und nicht mehr durch seine geschmacklosen Entwürfe abgelenkt zu werden.
KAPITEL ACHT
Er beobachtete sie von der anderen Straßenseite.
Sie kannte ihn nicht, und er kannte sie nicht. Nicht persönlich. Aber er wusste genug.
Er beobachtete sie, und er wusste Dinge über sie, die andere nicht wussten. Er wusste, wo sie wohnte, allein im Erdgeschoss eines Wohnhauses in der Innenstadt. Er wusste, dass sie Teilzeit in einem Laden drei Blocks entfernt arbeitete, um während ihres Studiums ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Er wusste, dass es eine Weile gedauert hatte, bis sie sich selbst gefunden hatte und wusste, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte.
Er wusste, dass sie eine Tätowierung auf ihrem inneren rechten Unterarm hatte und dass sie ihre Haare färbte. Er hatte gesehen, wie sie, einen Tag nach dem anderen, ihren Modeschmuck ausführte, und er wusste, dass sie ihr Aussehen jedes Mal, wenn sie hinausging, ein wenig veränderte. Er wusste, dass sie das Haus an den Tagen, an denen sie arbeiten musste, genau um 8.32 Uhr morgens verließ, weil sie genau wusste, wie lange sie brauchte. Er wusste, dass sie sich unterwegs einen Kaffee holen würde, den sie in einer App vorbestellt hatte, um die Warteschlangen zu umgehen, und dass sie ins Hinterzimmer gehen würde, um ihre Uniform anzuziehen, bevor sie im Laden auftauchte, um Kunden zu bedienen.
Er wusste, wann ihre Schicht endete und welchen Weg sie nach Hause nahm.
Er wusste, dass sie sterben musste.
Er konnte es kaum ertragen, sie anzusehen, aber er wusste, dass er zusehen musste. Er musste beobachten. Er tippte abwesend auf den Bildschirm seines Handys, als wäre er in dessen Inhalt vertieft, und beobachtete sie durch eine Sonnenbrille, die seine Augen verdeckte. Er beobachtete ihre Routine bereits seit ein paar Tagen, und er wusste, dass sie hier vorbeikommen würde. Diese Bank war perfekt platziert, um sie vorbeigehen zu sehen.
Die Welt würde ein viel sichererer Ort sein, wenn sie weg war. So viel wusste er.
Er sah zu, wie sie genau nach Plan vorbeiging und aus seinem Blickfeld verschwand. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Er wusste genau, wohin sie gehen würde. Langsam, als hätte er alle Zeit der Welt, stand er von seiner Bank auf und begann, auf dem Bürgersteig in dieselbe Richtung zu schlendern, in die sie gegangen war.
An Samstagen hatte sie eine Doppelschicht. Sie bezahlte ihre Studiengebühren selbst, und sie brauchte das Geld. Da an einem Sonntagmorgen keine Vorlesungen stattfanden, ergab es Sinn, dass sie am Tag zuvor arbeitete. Ihre Kolleginnen und Kollegen waren nur allzu froh, nicht selbst samstags arbeiten zu müssen, zumindest nicht so oft, wie sie es tun müssten, wenn sie nicht beide Schichten übernehmen würde. Es war ein Arrangement, das allen entgegenkam.
Ihm passte es auch sehr gut, denn wenn sie nach der Schicht ging und abschloss, um nach Hause zu gehen, würde es dunkel sein. Er würde sich versteckt halten. Sie würde ihn nicht kommen sehen.
Er folgte ihr aus einiger Entfernung bis zum Laden und warf einen Blick hinein, um zu sehen, wie sie gerade aus dem Personalraum kam. Gut. Er blieb nicht länger. Es hatte keinen Sinn. Sie war dort, wo er sie brauchte, und das bedeutete, dass alles nach Plan verlief.
Er kochte innerlich, wenn er an sie dachte, an die bloße Tatsache, dass sie existierte. Sie hatte kein Recht dazu. Wie konnte sie nur alle anderen so in Gefahr zu bringen? Wie konnte sie es nicht sehen, es nicht wissen?
Sie war dabei, Lehrerin zu werden. Das war der größte Witz von allen. Wie konnte man jemandem wie ihr erlauben, in der Nähe von Kindern zu sein? Ihr ihre Ausbildung anzuvertrauen, sich um sie zu kümmern. Ihr so ein Vertrauen entgegenzubringen.
Die Welt würde ohne sie viel besser dran sein.
Im Moment konnte er nichts anderes tun, als zu warten. Er verbrachte seine Freizeit gerne damit, Menschen nachzuforschen und das Übel zu beseitigen, das alles bedrohte, wenn er nichts dagegen unternahm. Er hatte viel Zeit, um sich damit zu beschäftigen.
Und heute Abend, wenn es für sie an der Zeit war, ihre Schicht zu beenden, würde er da sein. Er würde zuschauen. Er würde warten. Bereit, die Welt von ihren Sünden zu reinigen.
KAPITEL NEUN
Zoe wartete darauf, dass ihr Computer die Suche startete, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme über der Brust.
„Hast du schon etwas?“, fragte Shelley.
„Gib dem System eine Minute“, sagte Zoe. Sie fühlte sich immer noch ein wenig mürrisch von vorhin, und sie fühlte sich in Shelleys Gegenwart zu wohl, um sich die Mühe zu machen, es zu verstecken. „Dies ist kein Film. Die Dinge brauchen tatsächlich Zeit, um hier verarbeitet zu werden.“
„Schon gut, schon gut“, sagte Shelley. „Ich bin nur aufgeregt. Das könnte eine große Spur sein.“