„Von hier aus kommt man in den Speisesaal“, sagte Suzy unbefangen. Sie führte Lacey schnell in den nächsten Raum. „Der wird hier auch bleiben, weil es dort drüben einen Zugang zur Küche gibt.“ Sie zeigte auf eine Schwingtür zu ihrer Rechten. „Und von hier hat man die beste Aussicht auf das Meer und den Garten.“
Lacey konnte nicht umhin zu bemerken, dass Suzy bereits so redete, als hätte sie dem Job bereits zugesagt. Sie biss sich beklommen auf die Lippe und ging zu den Glasschiebetüren hinüber, die die gesamte hintere Wand einnahmen. Der Garten war zwar mehrere Hektar groß, bestand aber nur aus einer riesigen Rasenfläche und einigen sporadisch aufgestellten Bänken mit Blick auf das Meer in der Ferne.
„Das würde Gina gefallen“, sagte Lacey über ihre Schulter und suchte nach etwas Positivem.
„Gina?“, fragte Suzy.
„Die Dame, die mit mir in meinem Geschäft arbeitet. Krauses Haar. Rote Brille. Gummistiefel. Sie ist eine begnadete Gärtnerin. Das hier wäre wie eine leere Leinwand für sie.“ Sie blickte zurück zu Suzy. „Sie hat versucht, mir das Gärtnern beizubringen, aber ich glaube, ich bin immer noch viel zu sehr New York City für die Pflanzenwelt.“
Suzy lachte. „Nun, wenn es Zeit ist, den Garten zu machen, rufe ich Gina an.“
Sie fuhren mit ihrer Tour durch die Küche, den Flur, am Aufzug vorbei und hinauf in eines der Schlafzimmer fort.
„Ganz schön groß“, sagte Suzy zu ihr, als sie Lacey hineinführte.
„Das kann man wohl sagen“, antwortete Lacey und rechnete aus, wie viele Möbel erforderlich wären, um sie angemessen einzurichten.
Sie bräuchten mehr als nur die übliche Möblierung eines B&Bs, die in dein meisten Fällen aus einem Bett, einem Schrank und den Nachttischen bestand. Sie waren groß genug für eine separate Couch und einen Sitzbereich mit Couchtisch, und für einen Ankleidebereich mit einem Schminktisch. Lacey konnte es sich gut vorstellen, aber es bedurfte einer Menge Koordination, um alles rechtzeitig für die Flugshow am Samstag fertig zu bekommen.
„Und wie viele Zimmer, sagten Sie, gibt es?“, fragte sie und schaute nervös zur Tür hinaus und den dunklen Korridor entlang, der auf beiden Seiten von Türen gesäumt war. Sie wollte Suzy gegenüber nicht so deutlich zeigen, wie viel Arbeit nötig sein würde, um diesen Ort auf Vordermann zu bringen. Schnell schüttelte sie ihren besorgten Gesichtsausdruck wieder ab.
„Es sind insgesamt 400 Quadratmeter Unterkunft“, erklärte Suzy. „Sechs Schlafzimmer und eine Hochzeitssuite. Aber wir müssen nicht alles auf einmal machen. Nur den Salon, das Esszimmer und ein paar der Schlafzimmer. Zwei oder drei würden für den Anfang reichen, denke ich.“
Sie klang so entspannt bei dem Ganzen, obwohl sie nicht einmal genau wusste, wie viele Schlafzimmer sie eingerichtet haben wollte!
„Und Sie müssen das alles rechtzeitig für die Flugschau am Samstag fertig haben?“, fragte Lacey erneut, als würde eine weitere Bestätigung die ganze Sache irgendwie besser machen.
„Eigentlich am Freitag“, korrigierte Suzy. „Da findet die Eröffnungsparty statt.“
Lacey erinnerte sich daran, dass Suzy Griesgram Greg, den Veranstaltungsplaner, und die Eröffnungsparty erwähnt hatte. Ihre Frage nach dem Termin für die Feier war ihr in dem Moment entfallen, als Suzy sie überraschend umarmt hatte.
„Freitag…“ wiederholte Lacey wie hypnotisiert, als sie Suzy zurück aus dem Raum und in den Aufzug folgte.
Die Türen schlossen sich sanft hinter ihnen, und Suzy wandte sich mit erwartungsvollem Blick an Lacey. „Und? Was denken Sie?“
Der Aufzug fuhr nun abwärts, wovon Lacey ein wenig flau im Magen wurde.
„Sie haben hier ein ziemliches Juwel“, sagte Lacey und wählte ihre Worte sorgfältig. „Aber das Ganze ist ein wenig knapp. Das ist Ihnen doch klar, oder?“
„Das hat Griesgram Greg auch gesagt“, antwortete Suzy und ihre Lippen verzogen sich, als ihr Tonfall mürrischer wurde. „Er sagte, es wäre fast unmöglich, bis Freitag ein großes Feuerwerk zu organisieren.“
Lacey verkniff sich ihr klar zu machen, dass es wesentlich weniger schwierig war, einen Haufen Feuerwerkskörper zu beschaffen, als 400 Quadratmeter Pflegeheim in ein viktorianisches Jagdhaus zu verwandeln. Wenn schon ihr Veranstaltungsplaner der Meinung war, dass das Ganze zu knapp war, was sollte sie dann erst sagen?
Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und sie traten gemeinsam in den Hauptkorridor hinaus.
Lacey blickte Suzy an. Sie sah aus, als werde ihr erst jetzt klar, wie viel Arbeit tatsächlich nötig war, um diesen Ort zu verwandeln. Zum ersten Mal sah sie ein wenig überwältigt aus. Sorge spiegelte sich in ihrem Blick.
„Glauben Sie, ich habe mir zu viel vorgenommen?“, fragte sie, als sie zurück ins Foyer gingen.
Laceys Instinkt, sie nicht zu enttäuschen, meldete sich.
„Ich werde Sie nicht anlügen“, sagte sie vorsichtig. „Es wird eine Menge harte Arbeit sein. Aber ich glaube, es ist machbar. Ich habe bereits eine ganze Menge Material, das für Ihren Stil geeignet wäre. Aber es gibt einige wirklich große Dinge, die Sie priorisieren müssen, bevor mit der Einrichtung begonnen werden kann.“
„Zum Beispiel?“, fragte Suzy und schnappte sich ein Stück Papier für Notizen, als wollte sie jedes Wort der Expertin mitschreiben.
„Die Fußböden“, begann Lacey und ging durch den Raum. „Dieses Linoleum muss weg. Die Wände müssen von dieser schrecklichen Raufaser befreit werden. Die Stuckdecke. Allein das Öffnen des Kamins wird ein ganzes Team erfordern …“
„Also im Grunde genommen, alles entkernen und von vorne anfangen?“, unterbrach Suzy und blickte von ihren Notizen auf.
„So ziemlich. Und keine Abkürzungen nehmen. Wenn es um Innenräume geht, dreht sich alles um die kleinen Details. Man muss konsequent sein. Keine Tapete in Holzoptik. Wenn Sie sich für eine Vertäfelung entscheiden, dann bringen Sie eine echte an. Eine Fälschung sieht billig aus. Diese Materialen aufzutreiben hat also absolute Priorität.“
Suzy fing wieder an mitzuschreiben und nickte die ganze Zeit, die Lacey sprach. „Kennen Sie einen guten Handwerker?“
„Suzy, Sie brauchen zehn Handwerker“, sagte Lacey zu ihr. „Mindestens! Und eine ganze Fußballmannschaft an Raumgestaltern. Haben Sie überhaupt das Budget für dafür?“
Suzy sah auf. „Ja. So ziemlich. Ich meine, ich werde niemanden bezahlen können, bis das Hotel anfängt Geld einzubringen, was es schwieriger machen könnte, Leute zu finden, die sich bereit erklären, die Arbeit zu machen…“
Ihre Stimme driftete ab, während sie Lacey einen hoffnungsvollen Dackelblick zuwarf.
Lacey fühlte sich noch unsicherer als zuvor. Es wäre riskant, nicht im Voraus bezahlt zu werden, da sie eine Menge Ware beschaffen müsste, die Zehntausende von Pfund kosten würde. Und es wäre vielleicht unklug, ein so großes Projekt zu übernehmen, wenn die Zeit bis zur Fertigstellung so knapp bemessen war und sie auch noch an ihr eigenes Geschäft denken musste. Aber auf der anderen Seite hatte sie die Tour sehr genossen und konnte sich vorstellen, wie der Ort voller antiker Stücke aussehen würde. Sie hatte es auch genossen, ihr altes Fachwissen über Innenarchitektur zu nutzen und es mit ihrem neuen Talent für Antiquitäten zu kombinieren. Suzy bot ihr eine einzigartige Gelegenheit, und das B&B würde mit absoluter Sicherheit sehr schnell Gewinne abwerfen. Ja, es wäre ein enormes finanzielles Risiko und ein massiver Aufwand an Zeit und Energie, aber wann würde Lacey je wieder eine solche Chance bekommen?
Nicht ganz bereit, Suzy eine endgültige Antwort zu geben, sagte Lacey: „Ich bin gleich wieder da.“
Sie ging zu ihrem Auto, holte das Steinschlossgewehr und trug es zurück in das Anwesen.
„Das Gewehr!“, Suzy strahlte und grinste beim Anblick des Steinschlossgewehrs. Es schien sie genauso zu begeistern wie gestern, als Lacey es ihr das erste Mal im Geschäft gezeigt hatte. „Sie haben es mitgebracht? Für mich?“
„Ja“, sagte Lacey zu ihr.
Sie legte es auf den Empfangstresen und öffnete die Schlösser.
Suzy griff hinein und holte es heraus, wobei sie liebevoll mit den Fingern über den Lauf fuhr. „Kann ich es in die Hand nehmen?“
„Sicher“, sagte Lacey.
Suzy ergriff die Waffe und nahm eine Schussposition ein. Sie sah so dabei so professionell aus, dass Lacey sie gerade fragen wollte, ob sie jemals selbst gejagt hätte. Doch bevor sie die Gelegenheit dazu hatte, ertönte das Geräusch der automatischen Foyertüren, die sich hinter ihnen öffneten.
Lacey drehte sich um und sah einen Mann in einem dunklen Anzug durch die Türen schreiten. Hinter ihm kam eine Frau in einem vornehmen, dunkelroten Kostüm herein. Sie strahlte Autorität aus. Lacey erkannte die Frau von den Gemeindeversammlungen wieder. Es war Stadträtin Muir, die örtliche Abgeordnete.
Auch Suzy wirbelte herum, das Gewehr noch in der Hand.
Bei seinem Anblick stürmte der Mann im Anzug schützend auf Stadträtin Muir zu.
„Suzy!“, kreischte Lacey. „Leg das Gewehr weg!“
„Oh!“ Suzys Wangen färbten sich feuerrot.
„Es ist nur eine Antiquität!“, erklärte Lacey dem Sicherheitsbeamten, der seine Arme immer noch schützend um Stadträtin Muir schlang.
Schließlich, wenn auch etwas zögerlich, ließ er von ihr ab.
Die Stadträtin strich ihr Kostüm glatt und tastete ihr Haar ab. „Danke, Benson“, sagte sie steif zu ihrem Begleiter, der sich für sie vor eine Kugel geworfen hätte. Sie sah etwas verlegen aus.
„Entschuldige, Joanie“, sagte Suzy. „Dafür, dass ich dir eine Waffe ins Gesicht gehalten habe.“
Joanie?, dachte Lacey. Das klang erstaunlich vertraut. Kannten die beiden sich bereits?
Stadträtin Muir sagte nichts. Ihr Blick richtete sich auf Lacey. „Wer ist das?“
„Das ist meine Freundin Lacey“, sagte Suzy. „Sie wird sich um die Inneneinrichtung des B&B kümmern. Hoffentlich.“
Lacey trat vor und streckte der Stadträtin ihre Hand entgegen. Sie hatte sie noch nie aus nächster Nähe gesehen. Nur vom Podium des Rathauses aus, wenn sie eine Ansprache gehalten hatte, oder auf Flyern, die gelegentlich in ihrem Briefkasten landeten. Sie war über 50 Jahre alt, älter als auf ihrem Pressefoto; das verrieten die Fältchen um ihre Augen herum. Sie sah müde und gestresst aus und nahm Laceys ausgestreckte Hand nicht an, da ihre Hände damit beschäftigt waren, einen dicken Briefumschlag zu umklammern.
„Ist das meine Geschäftslizenz?“, quiekte Suzy aufgeregt, als sie den Umschlag entdeckte.
„Ja“, sagte Stadträtin Muir hastig und hielt ihn ihr hin. „Ich bin nur vorbeigekommen, um sie dir zu übergeben.“
„Joanie hat das alles so schnell für mich geregelt“, sagte Suzy zu Lacey. „Wie nennt man das? Du hast es expediriert?“
„Expediert“, warf ihr Begleiter ein und erntete dafür einen scharfen Blick von Stadträtin Muir.
Lacey runzelte die Stirn. Es war höchst ungewöhnlich, dass ein Mitglied des Gemeinderates solche Geschäftslizenzen persönlich überbrachte. Als Lacey ihre eigene beantragt hatte, hatte sie unzählige Online-Formulare ausgefüllt, in schäbigen Gemeindegebäuden herumgesessen und darauf gewartet, dass die Nummer auf ihrem Ticket angerufen wurde, als stünde sie in der Warteschlange der Metzgerei. Sie fragte sich, warum Suzy eine Sonderbehandlung bekam. Und vor allem, warum die beiden sich bereits duzten.
„Kennt ihr beide euch von irgendwoher?“, fragte Lacey in dem Bestreben herauszufinden, was es damit auf sich hatte.
Suzy gluckste. „Joan ist meine Tante.“
„Ah“, erwiderte Lacey.
Das ergab Sinn. Stadträtin Muir hatte dem Umbau eines Altersheims in ein B&B also nur so schnell zugestimmt, weil sie mit Suzy verwandt war. Carol hatte recht gehabt. Hier gab es eine Menge Vetternwirtschaft.
„Ehemalige Tante“, korrigierte Stadträtin Muir abwehrend. „Und nicht blutsverwandt. Suzy ist die Nichte meines Ex-Mannes. Und das hat bei der Entscheidung, die Lizenz zu erteilen, keine Rolle gespielt. Es ist einfach höchste Zeit, dass Wilfordshire ein anständiges B&B bekommt. Der Tourismus nimmt von Jahr zu Jahr zu und unsere derzeitigen Einrichtungen können mit der Nachfrage einfach nicht Schritt halten.“
Für Lacey war es offensichtlich, dass Stadträtin Muir von der Tatsache abzulenken versuchte, dass Suzy bevorzugt behandelt worden war. Aber das war wirklich nicht nötig. Es änderte nichts an Laceys Meinung über Suzy, denn schließlich konnte sie nichts für ihre guten Beziehungen. Und aus Laceys Sicht zeugte es von gutem Charakter, dass sie ihre Kontakte nutzte, um etwas zu unternehmen, statt sich nur auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Wenn es jemanden schlecht dastehen ließ, dann war es Stadträtin Muir selbst, und zwar nicht, weil sie ihre einflussreiche Position ausgenutzt hatte, um der Nichte ihres Ex-Mannes einen so großen Gefallen zu erweisen, sondern weil sie sich dabei so dubios und ausweichend verhielt. Kein Wunder, dass die Bürger der Gemeinde dem Erneuerungsprojekt so ablehnend gegenüberstanden!
Die karmesinrot gekleidete Stadträtin suchte immer noch nach Ausreden. „Die Stadt hat eigentlich sogar genug Nachfrage für zwei B&Bs dieser Größe, vor allem, wenn man all den zusätzlichen Umsatz berücksichtigt, den die Wiedereröffnung des alten Schützenvereins uns einbringen wird.“
Lacey war sofort interessiert. Sie dachte an Xaviers Notiz und wie er erwähnt hatte, dass ihr Vater während der Sommermonate öfter zum Jagen nach Wilfordshire gekommen war.
„Der alte Schützenverein?“, fragte sie.
„Ja, oben bei Penrose Manor“, erklärte Stadträtin Muir und gestikulierte mit ihrem Arm nach Westen, wo sich das Anwesen auf der anderen Seite des Tals befand.
„Dort war doch mal ein Wald, oder?“, läutete Suzy ein. „Ich habe gehört, dass Heinrich der Achte das Jagdhaus bauen ließ, damit er kommen und Wildschweine jagen konnte!“
„Das stimmt“, sagte die Stadträtin mit einem sachlichen Nicken. „Aber der Wald wurde irgendwann abgeholzt. Wie auf vielen englischen Gutshöfen begann der Adel nach der Erfindung des Gewehrs, Wildvögel zu schießen. Und daraus entwickelte sich die heutige Jagdwirtschaft. Heutzutage werden Stockenten, Rebhühner und Fasane nur zum Schießen gezüchtet.“
„Was ist mit Kaninchen und Tauben?“, fragte Lacey, wobei sie sich an den Inhalt von Xaviers Brief erinnerte.
„Die können das ganze Jahr über gejagt werden“, bestätigte Stadträtin Muir. „Der Schützenverein von Wilfordshire unterrichtete in der Nebensaison Amateure und sie übten sich an Tauben und Kaninchen. Nicht gerade glamourös, aber irgendwo muss man ja anfangen.“
Lacey ließ sich die Informationen durch den Kopf gehen. Es stimmte exakt mit dem überein, was Xavier in seinem Brief gesagt hatte und sie konnte nicht umhin zu glauben, dass ihr Vater wirklich im Sommer nach Wilfordshire gekommen war, um bei Penrose Manor zu jagen. In Verbindung mit dem Foto, das sie von ihrem Vater und Iris Archer, der früheren Besitzerin, gesehen hatte, schien dies noch wahrscheinlicher.
Hatte sich die Waffe deshalb so vertraut angefühlt? Weil irgendwo in ihrem Unterbewusstsein Erinnerungen verborgen lagen, zu denen sie keinen Zugang hatte?
„Ich wusste nicht, dass es in Penrose Manor ein Jagdhaus gibt“, sagte sie. „Wann hat der Schützenverein den Betrieb eingestellt?“
„Vor etwa zehn Jahren“, antwortete Stadträtin Muir. Ihr Tonfall klang mühsam, als zöge sie es vor, dieses Gespräch nicht zu führen. „Sie mussten den Betrieb wegen…“ Sie hielt inne und suchte offenbar nach den richtigen Worten. „… ungünstiger Vermögensverwaltung schließen.“