„Das klingt reizend“, sagte Lex. „Vielleicht komme ich vorbei, wenn ich in der Nähe bin.“
„Besuchen Sie hier einen Freund?“, fragte der Ladenbesitzer. Er schlenderte zurück zu seinem Tresen hinter eine uralte Registrierkasse. Der Laden war so klein, dass Lex ihn trotzdem sehen und sich mit ihm unterhalten konnte.
„Ich bin eigentlich wegen eines Vorstellungsgesprächs hier“, sagte sie und schaute auf ihre Uhr. „Oh nein, ich muss in ein paar Minuten da sein. Ich sollte mich besser beeilen!“
„Viel Glück, meine Liebe“, rief ihr der Ladenbesitzer nach, als sie zur Tür ging, und sie warf ein dankbares Lächeln über die Schulter, während die Glocke über dem Eingang ihren Abschied verkündete.
KAPITEL SECHS
Lex eilte die Straße entlang, die Strandpromenade hinunter und um die Ecke zum Parkplatz. Dort fand sie sich schnell zurecht, schaute sich die Karte auf ihrem Smartphone an und lief dann durch immer enger werdenden Kopfsteinpflasterstraßen, wobei sie sich sehr bemühte, einen Mittelweg zu finden, um einerseits nicht zu spät zu kommen und andererseits nicht errötet und verschwitzt anzukommen.
Als sie bei der Adresse ankam, sah sie sich verwirrt um. Sie sah erneut auf ihrer Karte nach und da war sie – die Markierung für den Laden, angeblich genau an ihrem Standort. Aber wo war er? Sie konnte die Fassade, die sie von den Online-Fotos her kannte, nirgendwo entdecken, und die meisten Gebäude hier sahen mehr nach Wohn- als nach Geschäftsgebäuden aus.
„Haben Sie sich verirrt?“, ertönte eine trockene Stimme hinter ihr. Lex drehte sich in Panik um und richtete dann ihren Blick nach unten. Eine kleine alte Dame stand da und beobachtete sie mit zur Seite geneigtem Kopf und hochgezogenen weißen Augenbrauen.
„Ähm, ja, ich glaube schon“, sagte Lex. „Ich suche ein Geschäft, den Kuriosen Buchladen.“
„Sind Sie sicher?“, fragte die Frau und warf ihr einen leicht schielenden Blick zu. „Sie sehen nicht wie die typische Kundin aus. Haben Sie den richtigen Namen?“
Lex blinzelte. „J-ja, ich bin sicher.“ Wie sah eine Kundin von Ein kurioser Buchladen aus? War es etwas Schlechtes oder etwas Gutes, dass sie nicht „typisch“ war?
„Gehen Sie da durch“, sagte die Frau, hob einen dünnen Arm und zeigte auf die nächste Straße. „Sie sind nah genug dran.“
„Danke!“, rief Lex über ihre Schulter, als sie loseilte und fand, dass ihr die Leute hier immer besser gefielen.
Da stand es vor ihr, als sie um die Ecke bog – genau so, wie es auf den Fotos ausgesehen hatte, mit Holzbrettern im Kontrast zu unebenen Ziegelsteinen, krummen Fensterrahmen und einer großen Holztür. Die Buchstaben des Schildes über der Tür waren aus altem Kupfer, das im Laufe der Zeit eine grüne Patina angenommen hatte.
Lex holte tief Luft und versuchte, ihre Nerven zu beruhigen. Sie hoffte, sie war von ihrem wilden Streifzug durch die Straßen nicht verschwitzt oder zerzaust. Sie überlegte, ihr Spiegelbild im Glas eines der Fenster zu betrachten, aber dann erkannte sie, dass sie von demjenigen, der sich vielleicht darin befand, gesehen werden konnte, und ging stattdessen direkt auf die Tür zu.
Der Türrahmen war an manchen Stellen abgesplittert und trug Kratzer und Dellen – ein weiteres Zeichen für die Persönlichkeit und Geschichte des Gebäudes, Spuren, die vor langer Zeit von einer Hand hinterlassen wurden, die es wahrscheinlich nicht mehr gab. Lex griff nach der Türklinke und schaute dabei auf ihre Uhr, um mit Schrecken zu sehen, dass es bereits ein paar Minuten nach der verabredeten Zeit war. Sie öffnete die Tür weit und trat ein.
Über ihrem Kopf ertönte ein sanfter Glockenschlag – eine süßere und sanftere Schwester des Glockenspiels über der Tür in Lost and Found by the Sea – als sie über die Schwelle trat. Auf dem Boden lag eine verblichene Matte, auf der sie instinktiv ihre Schuhe abwischte, da sie keinen Schmutz von draußen hereinbringen wollte. Ihr Herz raste, und sie blickte sich hastig nach irgendeinem Zeichen des Mannes um, der sie interviewen sollte.
Sie hatte erwartet, einen Buchladen zu betreten, aber was sie sah, überraschte sie: ein langer Flur, der sich vor ihr bis zur Rückwand des Gebäudes erstreckte. Das Holz war alt und verzogen und nicht von einem Teppich bedeckt, sodass die Oberfläche des Bodens zu quellen und zu wogen schien wie das Meer.
Der schmale Flur war auf beiden Seiten mit Bilderrahmen verziert und zwischen diesen Rahmen befanden sich breite, offene Türbögen ohne Türen. Welchen Weg sollte sie gehen? Es gab keine Schilder oder Wegbeschreibungen, keine Hinweise darauf, wo der Besitzer sein könnte. Als Lex zweifelnd vortrat, spähte sie durch den ersten Türbogen und sah Regale über Regale, die scheinbar wahllos mit alten Büchern voll gestapelt waren, von denen einige so alt waren, dass die Buchrücken auseinanderzufallen schienen. Die Decke war niedrig und schien sich in der Mitte nach unten zu beugen, als ob sie zu viel Gewicht tragen würde. Ein fadenscheiniger, gemusterter roter Teppich lag auf dem Boden und zeigte die Spuren vieler Füße, die entlang der vier Seiten des kleinen Raumes gelaufen waren.
Wenigstens gab es hier Bücher, was ermutigend war; sie war definitiv am richtigen Ort. Aber es gab keine Verkaufstheke, kein Zeichen von irgend jemand anderem und keinen Hinweis darauf, welche Art von Büchern hier vor ihr lag. Die meisten von ihnen hatten nicht einmal mehr Titel auf dem Buchrücken und diejenigen, die Titel hatten, waren so verblasst, dass sie nicht mehr lesbar waren. Sie trat vor, um eines von ihnen leicht zu berühren, und fragte sich, was für ein Text sich in den Einbänden befand.
Irgendetwas berührte ihr Herz – vielleicht war es die Art, wie die Bücher in den Regalen lagen – die ihr so vertraut und tröstlich erschien. Lex quollen fast die Tränen in die Augen. Es war, als ob ihr Vater direkt hinter ihr stünde und ihr über die Schulter blickte. Das Holz – war es nicht die gleiche Art Regal, die er in seinem Laden benutzt hatte?
Lex riss sich von den seltsam blanken Büchern los und schaute durch die Tür auf der gegenüberliegenden Seite der Halle. Sie gewann langsam den Eindruck, dass dieses Gebäude einst ein Zuhause gewesen war, die Räume nach Nutzung getrennt. Ein Wohnzimmer, vielleicht, und hier, das nächste, ein größerer offener Raum – vielleicht ein Speisezimmer oder ein Empfangszimmer für Besucher. Am wichtigsten war, dass dieser Raum derjenige mit der Theke war, und Lex bewegte sich mit Erleichterung darauf zu.
Dahinter war niemand zu sehen und so schaute sie sich in diesem neuen Raum um. Licht flutete durch die Fenster hinein, die von außen so klein und dunkel erschienen, und warf Sonnenstrahlen in den Raum. Sie fingen die Staubpartikel auf, die in der Luft tanzten und eine leicht verträumte Atmosphäre schufen. Lex zog scharf die Luft ein, als sie die Kasse sah. Sie konnte sich nicht sicher sein, aber sah sie von hinten nicht genau so aus wie die, die ihr Vater vor all den Jahren benutzt hatte?
Sie stellte sich vor, sie stünde dahinter, plauderte fröhlich mit einem Kunden, der sie um Empfehlungen bat, und mit einem Buch hinausging, das mit Sicherheit ein neues Lieblingsbuch werden würde. Ja, sie konnte es vor ihrem geistigen Auge sehen. Sie wollte die Stelle haben. Sie wollte hier arbeiten, mehr als sie in das enge Kellerbüro in Boston zurückkehren wollte. Das hier wäre so viel besser.
Der Boden hier war auch uneben, alte, verzogene Bretter, der größte Teil davon mit einem weiteren Teppich bedeckt. Dieser hatte ein komplexes Design, es war ein Gobelin mit Bildern von Füchsen auf der Jagd nach Kaninchen, Männer auf Pferden auf der Jagd nach den Füchsen und anderen Kreaturen – Einhörner, Bären, Wölfe, die alle durch ein Muster gewoben waren, das an Baumstämme erinnerte.
Das Muster bestand aus geraden Linien um den Rand des Teppichs und umkreiste ein zentrales Motiv aus wirbelnden, abstrakten Linien, die vielleicht die Dornen von Büschen darstellen sollten. Alles daran war bezaubernd, als wäre es vor ihrem Tod aus dem Haus ihrer alten Großmutter herausgenommen und als ein einladender Teppich hier wiedergeboren worden. Lex konnte nicht aufhören, ihn anzustarren, verzaubert von dem Muster huschten ihre Augen über all die Strudel und Dornen.
Auf dem Tresen stand eine antike Glocke. Nach kurzem Zögern schlug Lex sie an, hörte sie mit einem angenehmen Ton erklingen und zuckte bei der Lautstärke leicht zusammen. Dieser Raum war besser organisiert. Die Bücher in den Regalen schienen besser gepflegt zu sein, und zwei Tische im Zentrum des Raumes waren sogar nach Genres sortiert. An einem der Tische hing ein Schild mit der Aufschrift „Präsentation lokaler Autoren“, während der andere „Bücher über Massachusetts“ enthielt. Lex senkte den Kopf, um einige der Titel in den Regalen zu lesen: Großbritanniens Hecken – Erzählungen eines Vagabunden; Siebzehn Geschichten über neue Kolonien; Sechs essenzielle Kochkräuter und ihre Verwendung.
Was genau war das für ein Laden? Worauf war er spezialisiert? Waren dies Sachbücher oder Fiktion, Geschichte oder Reiseführer? Lex drehte ihren Kopf herum und schaute auf das Regal an der anderen Wand: Streiten mit Dummköpfen; Hundert und zehn Gründe, sich eine Katze zuzulegen; Ritualpraktiken des Nahen Ostens. Steckte dahinter überhaupt ein System? Wenn ja, konnte sie es nicht erkennen.
„Ah!“ Ein Mann tauchte hinter der Theke auf, duckte sich, als er eine dahinter versteckte Treppe hinunterkam, und sah sie dann mit einem zögerlichen Lächeln an. „Sie müssen …“
„Alexis Blair“, antwortete sie.
„… mein Bewerbungsgespräch.“ Er nickte. Lex versuchte, sein Alter zu erraten – er war wahrscheinlich älter als ihr Vater gewesen wäre. Sein gepflegtes Haar war grau, und er war glatt rasiert. „Sieh an, sieh an. Ich war gerade oben und habe Sie nicht hereinkommen hören.“
„Ich habe mich auf dem Weg ein wenig verlaufen“, sagte Lex und wünschte sich sofort, sie würde aufhören zu reden. Warum entschuldigte sie ihre Verspätung, wenn er nicht einmal bemerkt hatte, dass sie sich verspätet hatte? „Jemand war so freundlich, mir die richtige Richtung zu zeigen. Sie müssen Montgomery sein.“
„Das ist richtig, das ist richtig. Haben Sie sich umgesehen?“, fragte Montgomery. Er schien sich zu freuen, dass man ihr Hilfe angeboten hatte, oder vielleicht auch darüber, dass sie erraten hatte, wer er war. Lex konnte es nicht sagen.
Er bot einen seltsamen Anblick. Wie der Besitzer von Lost and Found by the Sea trug auch Montgomery eine schicke Weste, diese in einem Braunton, der Lex' eigenem Anzug nicht unähnlich war. Sie passte genau zu der Fliege aus dem gleichen Stoff, und darunter trug Montgomery ein weißes Hemd mit – und als er näher kam, um ihr die Hand zu schütteln, war sich Lex sicher – einem Muster aus winzigen Enten.
„Noch nicht“, gab sie zu. „Nun, ich habe in den Raum auf der anderen Seite des Flurs geschaut.“ Was sie gesehen hatte, erschien ihr gut genug; dieser Ort war wunderbar. Wenn sie hier arbeiten könnte, würde sie all die Erfahrungen sammeln, die sie brauchte – und es würde ihr etwas geben, von dem sie nicht gewusst hatte, dass ihr Herz es so dringend brauchte: eine Verbindung zu ihrem Vater, die in jeder Linie dieses Gebäudes zu existieren schien.
„Folgen Sie mir trotzdem, folgen Sie mir“, sagte Montgomery und bedeutete ihr, hinter den Tresen zu kommen, als er sich wegdrehte. „Wir müssen beginnen.“ Auf der Rückseite seiner Weste befand sich ein ordentlich platzierter Preisaufkleber, der angab, dass er 3,99 Dollar kostete; Lex vermutete, dass sich dieser Aufkleber irgendwann von einem der Bücher gelöst und an seine Kleidung geheftet haben musste. Sie widerstand dem extrem starken Drang, nach vorne zu greifen und ihn abzuziehen, für den Fall, dass er sie erwischte.
Lex fühlte, wie sich ihre Herzfrequenz bei seinen Worten erhöhte, als sie hinter die Theke ging. Dies war der Teil eines jeden Bewerbungsgesprächs, den sie fürchtete. Es lag nicht daran, dass sie sich nicht gut ausdrücken konnte oder dass sie glaubte, dass sie nicht die richtigen Qualifikationen für die Stelle hatte. Es fiel ihr einfach nur schwer, andere dazu zu bringen, sie zu mögen, zumindest im Verlauf eines einzigen kurzen Gesprächs.
Dennoch versuchte sie, ihre Nerven zu beruhigen und setzte ein heiteres Gesicht auf, bevor sie Montgomery folgte. Er blieb stehen, wartete, bis sie sich zu ihm gesellte, und deutete dann auf eine dünne und verdächtig instabil aussehende Treppe.
„Hier entlang, hier entlang“, sagte er. „Wir gehen die Treppe hinauf. Sie sehen hier …“. Er verstummte.
Lex fand ihre Entschlossenheit, seinen Satz nicht zu beenden, nach kurzer Zeit schwinden, da das Schweigen zu lange anhielt. Es war fast unerträglich unangenehm, weil er sie dabei mit leicht zur Seite geneigtem Kopf ansah, während sie stumm dastand und wartete.
„Wertvolle Bücher?“, sagte sie schließlich und wagte es, eine Vermutung anzustellen.
„Den Personalraum“, beendete Montgomery. Er runzelte misstrauisch die Stirn zu und drehte sich dann um, damit sie ihm die Treppe hinauf folgte.
Lex dachte über die Möglichkeit nach, einfach durch die Vordertür hinauszulaufen, während er sich umdrehte. Er musste glauben, dass sie dort war, um ihn auszurauben, oder ähnliches! Warum hatte sie das gesagt? Sie schluckte die Demütigung hinunter und folgte ihm, wobei sie sich zur Ruhe ermahnte. Sie liebte diesen Ort bereits – die alten Zimmer, den Geruch der Bücher, den Kleinstadt–Charme. Er erinnerte sie so sehr an ihren Vater, und sie fühlte sich bereits mit dem kleinen Teil, den sie davon gesehen hatte, emotional verbunden.
Der Raum, in den Montgomery sie führte, entpuppte sich als ein viel gemütlicherer Raum, als sie erwartet hatte. Es gab einen kleinen Kamin, der im Moment dank des milden Sommerwetters unnötig war, und ein paar klobige, aber nicht unbequem aussehende Sessel mit einem lebhaften Blumendruck, die darum herum aufgestellt waren. Ein Couchtisch daneben war mit Stapeln von losem Papier und Notizbüchern bedeckt – die meisten sahen aus wie Rechnungen – und der Raum wurde von antik aussehenden Leuchten erhellt, die mit einer echten Flamme in Abständen an der Wand entlang flackerten. Schwere, dunkle Balken an der Decke kontrastierten mit weiß verputzten Wänden und die in eine Wand eingelassenen Fenster waren mit etwas bedeckt, das wie Wandteppiche aussah und dem auf dem Boden vor der Theke im Erdgeschoss ähnelte. Das Tageslicht wurde fast vollständig ausgeblendet, sodass der Raum nur durch das flackernde gelbe Licht der Leuchten erhellt wurde, die seltsame Schatten an die Wände warfen.
Montgomery setzte sich in einen der Sessel, er war abgenutzt und mit Kissen bedeckt, die vom jahrzehntelangen Gebrauch dünn geworden waren. Lex tat es ihm gleich und ließ sich in einem anderen Sessel nieder. Der Sessel war überraschend bequem – so bequem, dass sie sofort spürte, wie eine Woge der Schläfrigkeit sie überkam. Vielleicht war es die Anstrengung der Eile, pünktlich hierherzukommen, gepaart mit der Wärme draußen und der gemütlichen Atmosphäre. Auf einem niedrigen Beistelltisch stand eine dampfende Teekanne, und Montgomery goss ohne zu fragen zwei Tassen ein und reichte Lex eine davon.
Auf der anderen Seite des Raumes befand sich eine große, schwere Tür – so groß, dass sie den Raum zu dominieren schien und unwillkürlich Lex’ Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie schien ganz aus schwerem Eisen zu bestehen, und die Oberfläche war mit seltsamen, runenartigen Markierungen verkratzt, alles gerade Linien und scharfe Winkel. Was in aller Welt könnte sich hinter einer solchen Tür befinden?