Er erreichte bald das Revier und nannte dem Beamten am Empfang seinen Namen. Officer Timms von der gestrigen Nacht kam heraus und gab ihm den Schlüssel für das Haus von Charles und Gail Bloom, in dem Priscilla gestorben war.
„Ich kann mitkommen, wenn Sie möchten“, bot ihm der junge Beamte an. „Ich habe Nachtschicht, und bislang ist es sehr ruhig.“
„Danke“, erwiderte Garland. „Aber manchmal gehe ich ganz gerne alleine durch den Tatort, ohne Ablenkungen. Das hilft mir bisweilen dabei, Dinge zu entdecken, die mir vorher verborgen geblieben sind. Aber ich werde den Schlüssel in ein paar Stunden zurückbringen.“
Nachdem er das Polizeirevier verlassen hatte, stromerte Garland gemächlich den steilen Gehweg zum Strip hinauf. Um diese Zeit – es war beinahe 21 Uhr – war es relativ ruhig. Es gab ein paar Jogger, und einige Leute gingen mit ihren Hunden ein letztes Mal an diesem Abend Gassi. Tatsächlich musste er einmal sogar dem Urinstrahl eines besonders nachlässigen Vierbeiners ausweichen.
Er schlenderte das letzte Stück zum Haus der Blooms und genoss die Geräuschkulisse aus Wellen und sich gegenseitig anschreienden Möwen. Er wusste, dass sein Gehirn, sobald er das Haus betrat, wie wild rattern würde, und all die kleinen Freuden, die er momentan so gierig aufsaugte, sofort in den Hintergrund geraten würden. Er wollte das Unvermeidliche einfach nur noch ein wenig hinauszögern.
Als er das Haus erreichte, duckte er sich unter dem Absperrband hindurch und achtete darauf, im Schatten zu bleiben, damit ihn der kürzlich zum Witwer gewordene Garth Barton nicht sehen konnte, sollte er zufällig aus dem Fenster schauen.
Nur, weil man ihn als Verdächtigen hatte ausschließen können, hieß das nicht, dass er kein Arschloch war. Garland überließ es gerne der örtlichen Polizei, sich mit ihm herumzuschlagen.
Er schloss die Eingangstür auf und betrat das Haus. Drinnen war es ganz dunkel, dennoch konnte er die Kreide-Umrisse sehen, die markierten, wo Priscilla Bartons Leiche gefunden worden war. Während er die Stelle betrachtete, erinnerte er sich daran, was Detective Hernandez ihm über das Gespräch erzählt hatte, das er tagsüber mit den Hausbesitzern geführt hatte.
Es erstaunte ihn, dass die Tatsache, dass eine Frau in ihrem Foyer getötet worden war, für sie noch lange kein Grund zu sein schien, ihren Urlaub abzubrechen. Leider befand er sich nun, da er das Paar und den Ehemann als Tatverdächtige ausschließen konnte, in einer Sackgasse. Darum war er hier: um eine neue Perspektive zu gewinnen.
Rasch ging er durch den ersten Stock, dann hinauf in den Zweiten, was der Grund war, warum er überhaupt hierher gekommen war. Den ganzen Tag über war ihm etwas komisch vorgekommen, aber es war ihm erst auf dem Weg nach Hause bewusst geworden. Als ihm klar geworden war, um was es sich handelte, war er schon fast daheim gewesen. Anstatt weiterzufahren, hatte er den Wagen in Richtung Süden gewendet und war zurück zum Anwesen der Blooms gefahren. Unterwegs hatte er das MBPD angerufen, um ihnen zu sagen, dass er noch einmal den Tatort untersuchen wollte, und man hatte ihn informiert, dass er sich im Revier den Schlüssel würde abholen können.
Oben auf der Treppe machte er seine kleine Taschenlampe an und ging durch den Flur zum Hauptschlafzimmer. Einen Augenblick lang betrachtete er den großen Raum mit dem Himmelbett, dann ging er hinüber zu dem, was er für Gail Blooms Kommode hielt. Auch wenn er sich ein wenig wie ein Perversling vorkam, streifte er seine Handschuhe über und zog die oberste Schublade auf, in der er ihre Unterwäsche vermutete. Manchmal musste man in seinem Beruf zu ungewöhnlichen Mitteln greifen.
Mit der Taschenlampe leuchtete er in die Schublade, als er mit spitzen Fingern durch die Spitzenunterwäsche der Hausherrin wühlte. Nachdem er alles gründlich durchsucht hatte, holte er sein Handy hervor, um noch einmal die Mordwaffe, die man bei Priscilla Barton angewandt hatte, zu betrachten – den Strumpf. Die Marke namens „Only the Best“, wie er nach einer Online-Recherche herausgefunden hatte, war sehr teuer.
Aber in Gail Blooms Schublade hatte er weder ein Paar Strümpfe dieser Marke gefunden noch sonst irgendwelche Strumpfhosen. Auch keinen einzelnen Strumpf, weder in der Schublade noch auf der Kommode. Er kniete sich auf den Boden, um nachzusehen, ob er vielleicht unter die Kommode gerutscht war, fand jedoch nichts.
Er holte seinen Notizblock heraus und brachte seine Erkenntnisse rasch zu Papier – dass Bloom diese Strümpfe nicht besaß. Das war eine seltsame und möglicherweise sehr hilfreiche Information. Wenn der Strumpf nicht ihr gehörte, dann hatte ihn sich der Mörder nicht einfach zufällig beim Vorbeirennen geschnappt und behelfsmäßig als Waffe verwendet. Er oder sie musste ihn mit sich geführt haben.
Aber warum? Wer rennt denn mit einem einzelnen, teuren Frauenstrumpf herum?
Seine Überlegungen wurden durch das Knarzen der Holzdielen hinter ihm unterbrochen. Er schob seinen Notizblock wieder in seine Jackentasche und stand langsam auf, obwohl seine Gedanken wie wild rasten.
Er hörte gedämpftes, schweres Atmen, mehrere Meter von ihm entfernt, und konnte die Körperwärme von jemandem spüren, der nun ebenfalls im Zimmer stand. Er hielt die kleine Taschenlampe fest umschlossen und war sich bewusst, dass sie das einzige war, das er als Waffe würde verwenden können.
Er versuchte, sich an sein FBI-Training in jungen Jahren zu erinnern, aber das war nun schon 40 Jahre her. Seine letzte körperliche Auseinandersetzung hatte darin bestanden, dass ihn ein Skateboarder im vergangenen Jahr versehentlich umgestoßen hatte, als er auf dem Bürgersteig an ihm vorbeigerast war.
Schließlich überließ Garland dem Adrenalin und seinen Instinkten die Kontrolle. Aber er würde nicht tatenlos auf den Angriff warten. Also drehte er sich so schnell es ihm seine alten Knochen erlaubten herum und leuchtete mit seiner Taschenlampe in die Richtung, aus der das schwere Atmen kam.
Sofort konnte er seinen Angreifer sehen, der schwarze Kleidung und eine schwarze Skimaske trug. In den Händen hielt er einen Ledergürtel. Auch wenn man sein Gesicht nicht sehen konnte, ließ sein Körper auf einen Mann schließen. Garland machte einen Schritt auf den Mann zu, der mit den Händen seine Augen vor dem Licht abschirmte, und sprang nach vorne. Sie prallten gegeneinander, aber das deutlich größere Gewicht des anderen Mannes sorgte dafür, dass Garland wieder rückwärts gegen die Kommode fiel. Seine Brille flog davon. Er war mit dem Rücken gegen die Kante der hölzernen Kommode gestoßen und ächzte vor Schmerz.
Er versuchte, diesen zu ignorieren und sich auf den Typen zu konzentrieren, der auf ihn zueilte. Als dieser sich auf ihn stürzen wollte, hob Garland seine Taschenlampe und schlug zu, genau links unterhalb seines Brustkorbs. Der Mann sog scharf die Luft ein und fiel vornüber, so dass Garland ihn zu Boden schubsen konnte.
Er trat um den Mann herum und rannte in Richtung der Schlafzimmertür. Selbst dieses kurze Stück war ohne seine Brille ziemlich verschwommen. Etwa drei Schritte vom Flur entfernt spürte er, wie eine Hand seinen rechten Knöchel umfasste und daran zog, sodass er das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte. Dabei hörte er ein Knacken und spürte einen beißenden Schmerz in seiner rechten Hüfte. Unvermittelt schrie er auf.
Garland versuchte, das höllische Brennen in seiner Hüfte zu ignorieren. Er wollte sich umdrehen, um nicht in solch einer wehrlosen Position zu sein, aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Also tat er das einzige, das ihm stattdessen einfiel. Er versuchte, aus dem Zimmer zu robben. Von dem unerträglichen Schmerz tränten ihm die Augen, aber er schob sich dennoch vorwärts. Dann spürte er das Gewicht des anderen Mannes auf seiner Körpermitte.
Der körperliche Schmerz war fast unerträglich, und Wellen der Pein strahlten von seiner Hüfte durch seinen gesamten Körper. Das war aber nichts im Vergleich zu der Todesangst, die ihn erfasste. Auf ihm lag ein Mann mit einem Gürtel, und er hatte keine Möglichkeit sich zu befreien.
Kurzzeitig wurde ihm bewusst, dass er nun das gleiche Entsetzen durchlebte wie so viele der Opfer, die er untersucht hatte. Dann beschloss er, dass er ihr Schicksal nicht teilen würde, und hörte auf sich zu wehren. Stattdessen drückte er seine Stirn gegen den Teppich und legte seine geballten Fäuste unter seinen Hals, um ihn vor dem, was kommen würde, zu schützen.
Einen Augenblick später wurde der Gürtel über seinen Kopf gestreift, und der Mann versuchte, ihn zwischen Garlands Stirn und dem Teppich hindurch bis zu seinem Hals zu ziehen. Durch dieses Zerren wurden Hautfetzen von seiner Stirn gerissen. Garland ignorierte das, öffnete seine Fäuste und umklammerte den Gürtel, so dass seine Hände zwischen dem Gürtel und seinem Hals lagen.
Den Mann auf ihm schien das nicht zu interessieren. Er zog so fest zu, dass Garlands eigene Fingerknöchel in seinen Adamsapfel drückten, so dass er nach Luft schnappte. Der Geruch seiner Latexhandschuhe stieg ihm in die Nase. Er schluckte schwer und versuchte, den Gürtel wegzudrücken, während er panisch darüber nachdachte, was er tun könnte.
Verzweifelt sah er sich um. Alles war undeutlich und verschwommen. Da musste es doch etwas geben, das er erreichen, oder ein Manöver, das er ausprobieren könnte. Es musste doch einen Weg geben, seinen Angreifer auszutricksen. 45 Jahre, in denen er Killer überführt hatte, konnten doch nicht auf diese Weise enden.
Aber da gab es nichts – nichts zu umfassen, und keine Möglichkeit zu schreien. Er saß fest. Er würde auf diesem Teppich in diesem Haus sterben, nur wenige Meter von Leuten entfernt, die darauf warteten, dass ihre Hunde ihr Geschäft verrichteten, damit sie wieder nach Hause gehen konnten. Es gab für ihn keinen Ausweg.
Aber als sein Atem schwerfällig und seine Gedanken unzusammenhängend wurden, wurde ihm klar, dass das nicht ganz stimmte. Er würde das hier zwar wahrscheinlich nicht überleben, aber zumindest würde er einen Hinweis darauf hinterlassen können, wer es getan hatte. Detective Hernandez würde seinen Tod mit Sicherheit untersuchen. Und wenn dem so wäre, würde er sich mit Jessie Hunt beratschlagen. Wenn Garland einen Anhaltspunkt würde hinterlassen können, wer das hier getan hatte, dann würde Jessie ihn finden können. Wenn jemand dazu in der Lage war, dann sie.
Also beschloss er, das einzige zu tun, das ihm einfiel. Er drückte seinen Körper so fest er konnte nach unten in den Teppich, so weit weg wie möglich von dem Mann über ihm. Dann, als er spürte, dass der Mann am festesten zog, hörte er auf sich zu wehren, so dass er mit einem Ruck nach oben gerissen wurde, wobei er seinen Kopf heftig nach hinten schnellen ließ.
Er hatte gehofft, dass er das Gesicht des Mannes treffen und eine Beule hinterlassen würde. Stattdessen spürte er, wie die Rückseite seines Schädels gegen etwas Hartes, aber weniger Hervorstehendes knallte. Er hörte ein Knacken. Der Mann jaulte auf und lockerte seinen Griff etwas. Garland vermutete, dass es sein Schlüsselbein war.
Für den Bruchteil einer Sekunde war er versucht sich freizuwinden, aber er wusste, dass das nichts bringen würde. Der andere Mann war immer noch im Vorteil. Stattdessen nutzte er den kurzen Moment, um nochmal schwer zu schlucken und seinen Kopf erneut nach hinten zu werfen. Das Aufschreien des Mannes bedeutete ihm, dass er das Ziel erneut getroffen hatte.
Aber das schien den Mann nur noch mehr anzuspornen. Garland spürte, wie sich der Gürtel noch fester um ihn schlang, und er konnte seine Fäuste nicht mehr darum schließen. An seinem Handrücken fühlte er das Pumpen des Blutes in seiner Halsschlagader. Ein weiteres gewaltsames Ziehen zerquetschte seine Luftröhre, und er hörte sich selbst leise röcheln.
Plötzlich ließen die Schmerzen in seiner Hüfte, seinem Rücken, seinen Händen und seiner Kehle nach. Er fragte sich, woran das liegen könnte. Und dann hatte er seinen letzten, kohärenten Gedanken: Er verlor das Bewusstsein, und sein Lebensende nahte.
KAPITEL ACHT
Jessie setzte sich kerzengerade im Bett auf.
Ryans klingelndes Handy hatte sie aus dem erholsamsten Schlaf, den sie seit Wochen gehabt hatte, gerissen. Sofort erkannte sie den Klingelton. Es war Captain Decker. Sie schaute auf die Uhr auf ihrem Nachttisch. Es war 2:46 Uhr morgens. Wenn der Captain ihres Polizeireviers um diese Uhrzeit anrief, dann musste es sich um etwas Ernstes handeln.
„Hallo“, nuschelte Ryan schließlich, nachdem er mehrere Sekunden lang an seinem Handy herumgefummelt hatte.
Jessie konnte Deckers Stimme hören, aber er redete leiser als sonst und sie verstand nicht, was er sagte. Allerdings merkte sie, dass sich Ryan unvermittelt versteifte.
„Okay“, sagte er leise, machte das Licht an und setzte sich im Bett auf.
Decker redete noch eine halbe Minute weiter und Ryan hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen.
„Werde ich“, sagte er schließlich und legte auf.
„Was ist los?“, fragte Jessie.
Ryan stand vom Bett auf, wandte das Gesicht von ihr ab und zog seine Hose an.
„Es gab erneut einen Mord in Manhattan Beach“, erwiderte er leise, „im gleichen Haus wie der vorherige Mord, um genau zu sein. Decker will, dass ich sofort hinfahre.“
Etwas an seiner Stimme irritierte sie, allerdings war sie sich nicht sicher, was genau. Er schien sich sehr zusammenzureißen.
„Was ist los, Ryan?“, fragte sie. „Du verhältst dich komisch.“
Er drehte sich zu ihr um und sie hatte den Eindruck, seine Augen wären feucht. Es schien, als wolle er ihr etwas sagen, aber dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck und sie wusste, dass er es sich anders überlegt hatte.
„Ich bin wohl einfach nur durch den Wind. Hab nicht damit gerechnet, mitten in der Nacht durch so eine Nachricht geweckt zu werden. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.“
Sie hatte immer noch den Eindruck, dass er etwas vor ihr verbarg, wollte aber nicht nachbohren.
„Kann ich etwas für dich tun?“
„Danke, nein. Du solltest versuchen wieder zu schlafen. Das Beste, was du jetzt tun kannst, ist, auf dich selbst zu achten.“
„Okay“, erwiderte sie, dann fragte sie: „Triffst du dich dort mit Garland?“
Ryan nahm einen großen Schluck aus dem Wasserglas, bevor er ihr antwortete.
„Er ist bereits dort“, sagte er und stand auf.
„Ziemlich beeindruckend für einen alten Mann“, bemerkte sie und konnte ihre Verwunderung kaum verbergen. „Dieser Typ steckt voller Überraschungen.“
„Er ist schon eine Nummer“, erwiderte Ryan, beugte sich nach unten und küsste sie auf die Stirn. „Versuch, wieder einzuschlafen. Morgen Früh melde ich mich bei dir.“
„Ich liebe dich“, sagte Jessie und legte sich wieder hin.
„Ich liebe dich auch“, erwiderte er leise, dann machte er die Nachttischlampe aus und verließ das Zimmer.
Trotz Ryans mahnender Worte konnte Jessie nicht wieder einschlafen. Während der nächsten 20 Minuten drehte sie sich hin und her, fand aber keine angenehme Schlafposition. Die ganze Zeit über musste sie an Ryans Verhalten denken, als er mit Decker telefoniert hatte.
Während er Deckers Ausführungen zugehört hatte, hatte Ryan einen Gesichtsausdruck gehabt, den sie noch nie bei ihm gesehen hatte. Das waren nicht nur Schock oder Traurigkeit gewesen, sondern eine Kombination aus beidem, die bedeutsamer und tiefgehender zu sein schien. Und dann fiel es ihr ein. Einen Augenblick lang, bevor er sich wieder hatte zusammenreißen können, hatte er völlig am Boden zerstört ausgesehen.