Annies Lächeln erhellte ihr ganzes Gesicht. „Oh, Schwesterherz, ich freu mich so für dich!“, rief sie. „Jetzt kann ich glücklich sterben, wo ich weiß, dass du den perfekten Mann gefunden hast.“ Sie drückte sanft die Hand, die sie hielt und auch diese kleine Anstrengung schien ihre ganze Kraft zu kosten.
„Du kannst mich noch nicht alleine lassen“, flehte Bianca und eine einsame Träne rann ihr übers Gesicht. „Ich kann dich noch nicht gehen lassen.“ Sie griff beide Hände und hielt sie fest in ihren Eigenen.
„Noch nicht“, stimmte Annie zu. „Aber bald. Es wird eine Erleichterung sein, Schwesterchen. Ein Ende der Schmerzen.“
Bianca streckte sich neben ihrer Schwester auf dem Bett aus. Mit Annies Gesundheit ging es schnell bergab. Der Krebs zerstörte ihren Körper; es war eine brutale Art zu sterben.
Viel zu früh schon waren die wenigen Stunden ihrer Pause vorbei und sie musste zurück an die Arbeit. Annie schlief schon fast, lächelte jedoch, als sich Bianca hinunterbeugte und sie sanft auf die Wange küsste, ehe sie leise das Zimmer verließ.
* * *
Clay sah ihr seit einer Viertelstunde bei der Arbeit zu. Er hatte ihr geschickt einen Heuballen aus dem Stapel im Futterlager geholt, der größer war als sie und beobachtete jetzt von der Tür seines Büros aus, wie sie durch den Stall ging und die Heunetze auffüllte. Die einfache, mondäne Arbeit konnte ihre Gedanken nicht fesseln, sodass sie wieder an ihre Schwester dachte. Das Leben war so unfair! Annie war die wundervollste Person, die sie kannte – schön von innen und außen – und sie starb. Sie verdiente es nicht zu sterben.
„Was machst du da mit deinem Gesicht?“
Sie zuckte zusammen. Sie hatte seine näherkommenden Schritte nicht gehört. Dann stöhnte sie. Er hatte es früher bemerkt, als sie gehofft hatte. Ihre Tics mussten schlimmer sein, als sie dachte, dass er sie an ihrem ersten Arbeitstag schon bemerkte.
„Und?“, drängte Clay und klang wütend.
Sie seufzte und senkte den Blick. „Warum?“, fragte sie.
Clay sah sie finster an. „Als dein Vorarbeiter hier im Stall habe ich das Recht, Bescheid zu wissen. Nimmst du Drogen?“
„Nein!“, rief sie aus. „Es hat nichts damit zu tun.“ Mit einem Seitenblick auf ihn stellte sie fest, dass er nicht lockerlassen würde. Sie seufzte. Nicht schon wieder. Ihr ganzes Leben lang hatte sie gegen das Klischee gearbeitet, das die Medien über das Tourette-Syndrom verbreiteten. Sie hatte gekämpft, um zu beweisen, dass sie so gut wie alle anderen war, auch wenn ihr Gesicht willkürliche, seltsame Verrenkungen machte.
„Also? Ich warte“, knurrte er.
„Ich habe Tourette.“
„Also hast du gelogen.“
„Nein.“ Sie schüttelte heftig ihren Kopf.
„Auf dem Bewerbungsformular wird gefragt, ob du medizinische Beschwerden hast. Du hast ‚nein‘ angekreuzt – ich habs gelesen.“
„Nein, ich wurde gefragt, ob ich medizinische Beschwerden habe, die mich daran hindern würden, meinen Job zu machen“, korrigierte sie ihn. „Hab ich nicht. Ich kann trotzdem meine Arbeit machen.“ Sie sprach mit fester Stimme, leidenschaftlich und hoffentlich klang sie auch überzeugend.
„Also das ganze Herumpöbeln, die Tics, die den ganzen Körper betreffen und einen quasi außer Gefecht setzen und das Wiederholen von Worten ... Das ist alles falsch?“, fragte er zweifelnd und wusste offensichtlich nicht, ob er ihr glauben sollte oder nicht.
Sie schüttelte ihren Kopf. „Nein, das stimmt schon ... bei manchen Leuten. Die Sache ist die, dass Tourette jeden anders trifft. Die Medien nutzen gerne die extremen Fälle, weil sie sensationsgeil sind, doch die Realität ist, dass nichts davon auf mich zutrifft. Ich habe nur, was du schon gesehen hast: die Gesichtsticks. Ich hatte ein paar vokale Tics als Kind, aber die hatte ich schon seit Jahren nicht mehr. Was du gesehen hast, ist alles.“
„Warum hast du dann nichts zu Paps im Bewerbungsgespräch gesagt?“, fragte er und klang immer noch genervt.
„Weil er mir dann den Job nicht gegeben hätte!“, rief sie. „Schau mal, ich hab das schon erlebt. Die Diskriminierungsgesetze des Landes helfen nicht. Kein Arbeitgeber würde jemanden mit Tourette-Syndrom einstellen, wenn sie noch andere Kandidaten haben. Sie verstehen nicht genug davon, wissen nur das, was sie in den Medien hören und da wird eben nur von den seltenen, extremen Fällen berichtet. Also werde ich nur aufgrund eines Klischees verurteilt.“
Clay kratzte sich am Kinn und schien nachdenklich. „Und was ist, wenn du das machst, während du reitest? Wenn du dein Gesicht so verziehst – das ist eine ganz schön heftige Bewegung. Wenn das passiert, während du gerade über die Bahn galoppierst, könntest du ohne Weiteres das Gleichgewicht verlieren, herunterfallen und dich verletzen – oder sogar sterben. Weißt du, wie viel Papierkram heutzutage bei so einem Arbeitsunfall anfällt?“ Er zwinkerte ihr zu und lächelte leicht über seinen schlechten Witz, doch sie lächelte nicht zurück. Sie konnte nicht – er hatte recht und sie wusste es auch. Einige der Gesichtsticks waren heftige Bewegungen und oft wurden sie von einer Kopfdrehung begleitet, die ihre gesamte Wahrnehmung veränderte und sie aus dem Gleichgewicht brachte.
„Es passiert nicht, wenn ich reite. Oder wenn ich auch nur mit Pferden arbeite. Für mich ist es die beste Therapie. Im Sattel fühle ich mich normal.“
Hinterm Rücken drückte sie fest die Daumen und hoffte, dass er ihr noch eine Chance geben würde. Er wäre nicht der Erste, der sie wegen ihres Tourettes feuerte und ganz sicher wäre er nicht der Letzte. „Wenn du mir eine Chance gibst, verspreche ich, dass du es nicht bereust“, bettelte sie. Sie wollte nicht so verzweifelt klingen, wie sie wirklich war. Kein anderer Stall hatte sie anstellen wollen; die meisten Trainer wollten immer noch männliche Jockeys ausbilden, obwohl heutzutage jeder die gleichen Rechte haben sollte. Und sie brauchte einen Job. Am besten einen mit Arbeitszeiten, die ihr bei Annies Pflege halfen.
Clay sah sie noch einen Moment lang ernst an, bevor sich sein Ausdruck entspannte und sich ein winziges Lächeln auf sein Gesicht stahl. „Du hast Glück – es ist nicht meine Aufgabe, Personal anzustellen oder zu feuern, also bist du erst mal sicher. Ich rede mit Paps und erklärs ihm.“ Dann zwinkerte er ihr zu. „Aber wenn du zu mir gehörtest, würde ich dich übers Knie legen und dir für deine Täuschung den Hintern versohlen!“
„Oh, vielen Dank, Sir!“ Sie war so erleichtert, dass sie sich kaum davon abhalten konnte, vor Freude ihre Arme um ihn zu schlingen.
Erst später, viel später, als sie schon im Bett lag, erinnerte sie sich an den anderen Teil seiner Aussage. Den ‚ich leg dich über mein Knie und versohl dir den Hintern‘-Teil und ein Blitz der Erregung schoss durch sie hindurch, während sie sich erinnerte, wie seine tiefe Stimme diese Worte gesprochen hatte. Davon hatte sie Annie noch nichts erzählt, aber sie wusste, dass Annie es verstehen würde. Sie war einer der wenigen Menschen, die von ihrer Besessenheit mit Spanking wusste. Annie wusste alles über die Webseiten, die sie spät nachts besuchte, um ihre Wünsche zu befriedigen. Und vielleicht würde Annie auch wissen, ob sie zu viel in Clays Worte hinein interpretierte.
Immer noch in Gedanken daran schlief sie ein und fragte sich, wie es sich anfühlen würde, von ihm den Hintern versohlt zu bekommen. Er sah immerhin gut aus und hatte große, starke Hände, die groß genug waren, um ihren Hintern vollkommen abzudecken. Sie stellte sich vor, wie sie auf dem Bauch auf seinem Schoß lag und seine große Handfläche ihren Hintern rot verfärbte, während sie seiner tiefen Stimme zuhörte, die sie wegen irgendeines erfundenen Vergehens schalt. Sie schlief mit einem Lächeln auf dem Gesicht ein und freute sich auf den Morgen, wenn sie den attraktiven Vorarbeiter wieder sehen würde.
Kapitel Zwei
In den Ställen war wieder viel los, als sie kurz vor sechs Uhr ankam und sich auf einen Tag voller Arbeit freute. Clay war schon da; seine alte, weiche, zerrissene Jeans hing tief auf seinen Hüften und umfing sexy seine langen, schlanken Beine. Er trug ein schwarzes T-Shirt, das seine breiten Schultern betonte. Die Muskeln seiner Arme arbeiteten, als er einen blauen Plastikeimer voller Wasser in jeder Hand trug. Zusammen mit dem Rest des Teams stand sie vor dem Schwarzen Brett bei der Sattelkammer und schaute nach, welches Pferd sie heute Morgen als erstes reiten würde – sie hatte Big Red bekommen, einen riesigen, kastanienbraunen Wallach, der mit seinen siebzehn Händen vor ihr aufragte; er war mit Leichtigkeit das größte und stärkste Pferd im Stall. Offensichtlich wollten Clay und sein Vater sie testen, nachdem sie ihr Big Red als ihren ersten Ritt in der Ausbildung zum Jockey unter Tom Lewis gaben. Das konnte sie ihnen nicht verdenken – sie wusste schon lange, dass sie sich beweisen musste und dass sie klein war, selbst für eine Frau. Also machte es nur Sinn, dass sie ihr das stärkste Pferd am Anfang gaben. Doch sie brauchte nicht nur physische Stärke, um als Jockey Erfolg zu haben; Mut und mentale Stärke waren ebenfalls notwendig, zusammen mit einer Verbindung mit dem Pferd. Und davon hatte sie jede Menge. Deshalb machte ihr die Herausforderung, das größte, stärkste Pferd zu reiten, überhaupt keine Angst.
Sie nahm, was sie brauchte, um die Box auszumisten, führte den Wallach heraus und band ihn am Putzplatz an. Der sanfte Riese rieb seine Nase freundlich an ihrer Schulter, während sie leise mit ihm sprach und seinen Nacken streichelte, bevor sie den Schubkarren an die Boxentür stellte.
„Ich bin Darren.“ Der junge Mann, der die Box neben ihrer säuberte, hielt ihr seine schmutzige Hand hin und obwohl sie voller Dreck und Staub war, schüttelte sie sie und lächelte schüchtern. Ein bisschen Dreck hatte ihr noch nie etwas ausgemacht. Er war nicht groß; selbst für einen Jockey war er klein. Seine Hand war kaum größer als ihre, doch sein Griff war stark, mit dem er seine schwieligen Finger um ihre schloss.
„Bianca.“ Sie sah ihn an. Er wirkte freundlich, doch leider sah er nicht besonders gut aus, besonders, wenn man ihn mit Clay verglich.
„Wie lang arbeitest du schon hier?“, fragte sie ihn.
„Mittlerweile mehr als fünf Jahre. Tom hat mich als Auszubildenden angenommen.“
„Und du bist jetzt ein lizenzierter Jockey?“
„Jup.“ Das Nicken war klein, aber voller Stolz. „Ich reite heute ein Rennen auf einem meiner Lieblingspferde. Noch ein Gewinner, hoffe ich! Luke bereitet da drüben gerade das Fohlen vor.“ Er zeigte in die Richtung und Bianca sah die Stallgasse hinunter, wo ein Mann, der Clay sehr ähnlich war, eine wunderschöne braune Stute striegelte.
„Luke?“
„Clays Bruder. Von den drei Lewis-Jungs ist Luke der Älteste. Dann Clay und Cody. Du wirst sie noch kennenlernen; sie arbeiten alle hier, obwohl Cody auch viel auf der Farm arbeitet.“
„Clay wirkt nett.“ Das war nur eine Feststellung, doch Darrens Gesicht verdunkelte sich.
„Ja.“ Dann lächelte er. „Was hast du heute Abend vor? Willst du mit mir was trinken gehen? Hier ums Eck bekommt man ein geniales Rippchen-Sandwich.“
„Nein!“ Ihre Absage klang wesentlich entsetzter, als sie geplant hatte; Darrens niedergeschlagener Ausdruck sagte ihr, dass er die Zurückweisung nicht gut aufnahm. „Es tut mir leid. Ich hab nur ...“ Sie hielt inne. Sie konnte ihm nicht von Annie erzählen und dass sie jede freie Minute mit ihrer sterbenden Schwester verbringen wollte. Noch nicht. „Ich hab schon was vor, das ist alles.“
„Egal.“ Sein mürrischer Ausdruck sagte ihr auch, dass er ihr das nicht glaubte. Pech gehabt. Er wandte sich wieder der Arbeit zu, doch sie stand immer noch da auf den Rechen gelehnt und fühlte sich unbehaglich und schuldig. Der Job lief nicht gut. Ihr Tourette hatten sie schon früh erkannt und jetzt hatte sie auch noch jemanden beleidigt. Sie war nicht hier, um sich Feinde zu machen, doch offenbar war das trotzdem der Fall.
Sie sah auf und schob die Gedanken beiseite, als sie Schritte hörte, die auf sie zukamen, bemerkte jedoch nur am Rande, dass es Clay war. Er klopfte geistesabwesend mit der Reitgerte gegen seine Handfläche, als er die breite Stallgasse entlangging. Er blieb stehen und sah sie an. Dann zeigte er als stille Warnung mit der Gerte auf sie.
„Du bist zum Arbeiten hier, nicht zum Träumen.“ Er sah sie streng an; sein wirres Haar fiel ihm ins Gesicht und eine Augenbraue hatte er streng hochgezogen. Ein Außenstehender hätte hier keine Drohung in seiner Anweisung gehört. Doch ihr lief ein Schauer über den Rücken.
Sie nickte verlegen, nahm ihren Rechen und machte sich an die Arbeit und schaute ihm verstohlen nach. Sogar auf die Entfernung konnte sie erkennen, dass er gut gebaut war. Er schien kein Gramm Fett an sich zu haben; er war schlank und muskulös und wirkte unglaublich fit.
Während er sich weiter von ihr entfernte, fragte sie sich, wie es sich wohl anfühlte, wenn er sie mit der Gerte schlug. Würde er nur die kleine Lederlasche an der Spitze verwenden, um ihr einen kleinen, wundervollen Stich zu versetzen? Oder würde er den Stab wie einen Stock schwingen und Striemen auf ihrem Hintern erzeugen?
Da sie seinem Zorn entgehen wollte, mistete sie die Box in Rekordzeit aus und schaffte es, die Schubkarre auf dem Misthaufen auszuleeren, noch bevor Darren fertig war.
Big Red stampfte mit den Hufen auf und machte einen Schritt zur Seite, als sie ihn putzte, doch alles in allem schien er relativ gelassen. Obwohl er ihr so nahe war, ignorierte Darren sie ganz bewusst und sah nicht einmal in ihre Richtung. Den Sattel auf Big Reds Rücken richtig zu platzieren war nicht ganz einfach, da er so groß war, doch sie schaffte es. Als die anderen Reiter aufgesessen waren und auf dem Weg zur Bahn waren, erschien Tom, Clays Vater und Stallbesitzer, neben ihr, um ihr in den Sattel zu helfen.
Big Red bewegte sich wundervoll. Seine langen Beine streckten sich und sie flogen nur so über die Bahn mit seinen geschmeidigen, flüssigen Schritten. Noch hatten sie die Höchstgeschwindigkeit nicht erreicht und die schiere Kraft dieses Pferdes nahm ihr den Atem. Sie konnte spüren, wie sich jeder Muskel in seinem Körper zusammenzog, als seine kraftvollen Hinterbeine sie vorwärtstrieben. Genau deshalb habe ich so hart für diesen Job gekämpft!, jubelte ihre innere Stimme. Das ist so großartig!
Reiten, und besonders schnell reiten, war ihre Lieblingsbeschäftigung. Es war einfach natürlich für sie wieder im Sattel zu sitzen, und während sie sich im Takt mit den Schritten des Wallachs bewegte, entspannte sie sich und genoss die Freiheit, dass sie nicht ticcte. Der Wind rauschte an ihr vorbei und sie warf ihren Kopf zurück und lachte, glücklich darüber, dass sie wieder reiten und das tun konnte, was sie liebte.
Zum Ende des Trainings versuchte sie, Big Red zu bremsen, doch das große Pferd ignorierte sie und galoppierte weiter. Mist, dachte sie. Ich wette, Clay wusste, dass das passieren würde und versucht damit zu beweisen, dass er recht hat! Doch das machte sie nur noch entschlossener. Sie hatte es noch nie ausstehen können, wenn Leute ihr gesagt hatten, dass sie etwas nicht tun konnte, und das war ihr schon einige Male in der Vergangenheit passiert – entweder wegen ihres Tourettes oder weil sie eine kleine Frau war. Sie zog wieder an den Zügeln. Sie hatte schon früher gesehen, wenn Pferde durchgegangen waren, Zäune beschädigt, sich selbst und ihre Reiter verletzt hatten, und das gab ihr die Kraft, die sie brauchte, um das große, starke Pferd zu kontrollieren.