Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца - Цвейг Стефан 11 стр.


Ganz unbeherrscht hat sie die letzten Worte herausgestoßen, brennend die Augen, fahl das Gesicht. Dann löst sich mit einemmal der Krampf. Wie erschöpft fällt der Kopf an die Lehne, und erst allmählich füllt wieder Blut die von der Erregung noch zitternden Lippen.

»So«, atmet sie ganz leise und wie beschämt. »Das mußte einmal gesagt sein! Und jetzt erledigt! Reden wir nicht weiter davon. Geben Sie mir geben Sie mir eine Zigarette.«

Nun geschieht mir etwas Sonderbares. Ich bin doch sonst leidlich beherrscht und habe feste, sichere Hände. Aber dieser unvermutete Ausbruch hat mich derart erschüttert, daß ich alle Glieder wie gelähmt fühle; nie hat mich irgend etwas in meinem Leben so bestürzt gemacht. Mühsam hole ich eine Zigarette aus der Dose, reiche sie hinüber und zünde ein Streichholz an. Aber beim Hinüberreichen zittern mir die Finger dermaßen, daß ich das brennende Zündhölzchen nicht gerade zu halten vermag und die Flamme im Leeren zuckt und verlischt. Ich muß ein zweites Streichholz anzünden; auch dieses schwankt unsicher in meiner zitternden Hand, ehe es ihre Zigarette entflammt. Sie aber muß unverkennbar an der augenfälligen Ungeschicklichkeit meine Erschütterung wahrgenommen haben, denn es ist eine ganz andere, eine staunend beunruhigte Stimme, mit der sie mich leise fragt:

»Aber was haben Sie denn? Sie zittern ja Was was erregt Sie denn so? Was geht Sie denn das alles an?«

Die kleine Flamme des Streichhölzchens ist erloschen. Ich habe mich stumm gesetzt, und sie murmelt ganz betroffen: »Wie können Sie sich denn so aufregen über mein dummes Geschwätz? Papa hat recht: Sie sind wirklich ein ein sehr merkwürdiger Mensch.«

In diesem Augenblick flirrt hinter uns ein leises Surren. Es ist der Lift, der zu unserer Terrasse herauffährt. Johann öffnet den Verschlag, und heraus tritt Kekesfalva mit jener schuldbewußten, scheuen Art, die ihm unsinnigerweise immer die Schultern niederdrückt, sobald er sich der Kranken nähert.

* * *

Ich stehe schleunigst auf, um den Eintretenden zu begrüßen. Er nickt befangen und beugt sich gleich über Edith, um ihr die Stirn zu küssen. Dann entsteht ein merkwürdiges Schweigen. Alle spüren ja alles von allen in diesem Haus; zweifellos muß der alte Mann gefühlt haben, daß eben eine gefährliche Spannung zwischen uns beiden schwingt; so steht er mit gesenkten Augen beunruhigt herum. Am liebsten, ich merke es, flüchtete er gleich wieder zurück. Edith versucht zu helfen.

»Denk dir, Papa, der Herr Leutnant hat heute zum erstenmal die Terrasse gesehen.«

Und »Ja, wunderschön ist es hier«, sage ich, sofort peinlich bewußt werdend, daß ich etwas beschämend Banales ausspreche, und stocke schon wieder. Um die Befangenheit zu lösen, beugt sich Kekesfalva über den Fauteuil.

»Ich fürchte, es wird hier bald zu kühl für dich. Wollen wir nicht lieber hinunter?«

»Ja«, antwortet Edith. Wir sind alle froh, dadurch ein paar ablenkende nichtige Beschäftigungen zu finden; die Bücher zusammenzupacken, ihr den Shawl umzulegen, mit der Glocke zu schellen, deren eine hier wie auf jedem Tisch dieses Hauses bereitliegt. Nach zwei Minuten surrt der Fahrtstuhl hoch und Josef rollt den Fauteuil mit der Gelähmten behutsam hin bis zum Schacht.

»Wir kommen gleich hinunter«, winkt ihr Kekesfalva zärtlich nach, »vielleicht machst du dich zum Abendessen zurecht. Ich kann unterdes mit dem Herrn Leutnant noch ein bißchen im Garten Spazierengehen.«

Der Diener schließt die Tür des Lifts; wie in eine Gruft sinkt der Rollstuhl mit der Gelähmten in die Tiefe. Unwillkürlich haben der alte Mann und ich uns abgewendet. Wir schweigen beide, aber mit einem Mal spüre ich, daß er sich mir ganz zaghaft nähert.

»Wenn es Ihnen recht ist, Herr Leutnant, möchte ich gerne etwas mit Ihnen besprechen das heißt, Sie um etwas bitten Vielleicht gehen wir hinüber in mein Büro drüben im Verwaltungsgebäude ich meine natürlich nur, falls es Ihnen nicht lästig ist Sonst sonst können wir natürlich auch im Park spazierengehen.«

»Aber es ist mir doch nur eine Ehre, Herr von Kekesfalva«, antworte ich. In diesem Augenblick surrt der Lift zurück, um uns abzuholen. Wir fahren hinab, schreiten quer über den Hof zum Verwaltungsgebäude; mir fällt auf, wie vorsichtig, wie sehr an die Wand gedrückt Kekesfalva am Haus entlangschleicht, wie schmal er sich macht, als fürchte er, ertappt zu werden. Unwillkürlich  ich kann ja nicht anders  gehe ich mit ebenso leisen, vorsichtigen Schritten hinter ihm her.

Am Ende des niederen und nicht sehr sauber gekalkten Verwaltungsgebäudes öffnet er eine Tür; sie führt in sein Kontor, das sich als nicht viel besser eingerichtet erweist als mein eigenes Kasernenzimmer: ein billiger Schreibtisch, morsch und verbraucht, alte verfleckte Strohsessel, an der Wand ein paar alte, offenbar seit Jahren unbenutzte Tabellen über der zerschlissenen Tapete. Auch der muffige Geruch erinnert mich mißlich an unsere eigenen ärarischen Büros. Schon mit dem ersten Blick  wieviel habe ich verstehen gelernt in diesen wenigen Tagen! erkenne ich, daß dieser alte Mann allen Luxus, alle Bequemlichkeit einzig auf sein Kind häuft und für sich selber spart wie ein knickriger Bauer; zum erstenmal habe ich auch, da er mir vorausging, bemerkt, wie abgestoßen sein schwarzer Rock an den Ellbogen glänzt; wahrscheinlich trägt er ihn schon seit zehn oder fünfzehn Jahren.

Kekesfalva schiebt mir den breiten, schwarzledernen Bocksessel des Kontors hin, den einzig bequemen. »Setzen Sie sich, Herr Leutnant, bitte setzen Sie sich«, sagt er mit einem gewissen zärtlich eindringlichen Ton, während er sich selbst, ehe ich zugreifen kann, bloß einen der fragwürdigen Strohsessel heranholt. Nun sitzen wir hart aneinander, er könnte, er sollte jetzt beginnen, und ich warte darauf mit einer begreiflichen Ungeduld, denn was kann er, der reiche Mann, der Millionär, mich armseligen Leutnant zu bitten haben. Aber hartnäckig hält er den Kopf gesenkt, als betrachtete er angelegentlich seine Schuhe. Nur den Atem höre ich aus der vorgeneigten Brust. Er geht gepreßt und schwer.

Endlich hebt Kekesfalva die Stirn, sie ist feucht überperlt, nimmt die angehauchte Brille ab, und ohne diesen blitzenden Schutz wirkt sein Gesicht sofort anders, gleichsam nackter, ärmer und tragischer; wie oft bei Kurzsichtigen erscheinen seine Augen viel stumpfer und müder als unter dem verstärkenden Glas. Auch meine ich an den leicht entzündeten Lidrändern zu erkennen, dieser alte Mann schläft wenig und schlecht. Wieder spüre ich jenes warme Quellen innen  das Mitleid, ich weiß es jetzt schon, bricht vor. Mit einmal sitze ich nicht mehr dem reichen Herrn von Kekesfalva gegenüber, sondern einem alten sorgenvollen Mann.

Aber jetzt setzt er räuspernd an: »Herr Leutnant«  die eingerostete Stimme gehorcht ihm noch immer nicht  »ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten Ich weiß natürlich, ich habe kein Recht, Sie zu bemühen, Sie kennen uns ja kaum  übrigens, Sie können auch ablehnen selbstverständlich können Sie ablehnen Vielleicht ist es eine Anmaßung von mir, eine Zudringlichkeit, aber ich habe vom ersten Augenblick an zu Ihnen Vertrauen gehabt. Sie sind, man spürt das gleich, ein guter, ein hilfreicher Mensch. Ja, ja, ja«  ich mußte eine abwehrende Bewegung gemacht haben  »Sie sind ein guter Mensch. Es ist etwas in Ihnen, das einen sicher macht, und manchmal habe ich das Gefühl, als ob Sie mir geschickt wären von «  er stockte, und ich spürte, er wollte sagen, »von Gott« und hatte nur nicht den Mut dazu  »geschickt wären als jemand, zu dem ich ehrlich sprechen kann Es ist übrigens nicht viel, um das ich Sie bitten möchte aber ich rede so weiter und weiter und frag Sie gar nicht, ob Sie mir zuhören wollen.«

»Aber gewiß.«

»Ich danke Ihnen wenn man alt ist, braucht man einen Menschen nur anzusehen und kennt ihn durch und durch Ich weiß, was ein guter Mensch ist, ich weiß es durch meine Frau, Gott hab sie selig Das war das erste Unglück, wie sie mir weggestorben ist, und doch, heut sag ich mir, vielleicht war es besser, daß sie das Unglück mit dem Kind nicht hat mitansehen müssen sie hätte es nicht ertragen. Wissen Sie, wie das anfing vor fünf Jahren da glaubte ich zuerst nicht dran, daß das lange so bleiben könnte Wie soll man sich vorstellen können, daß da ein Kind ist wie alle andern und läuft und spielt und saust wie ein Kreisel herum und plötzlich soll das vorbei sein, für immer vorbei Und dann, man ist doch aufgewachsen mit einer Ehrfurcht vor den Ärzten in der Zeitung liest man, was für Wunder sie wirken können, Herzen können sie vernähen und Augen umpflanzen, heißt es  Da mußte doch unsereins überzeugt sein, nicht wahr, daß sie das Einfachste können, was es gibt daß sie einem Kind einem Kind, das gesund geboren ist, das immer ganz gesund gewesen war, rasch wieder aufhelfen. Deshalb war ich am Anfang gar nicht sehr erschrocken, denn ich glaubte doch nie daran, nicht einen Augenblick glaubte ich daran, daß Gott so etwas tun könne, daß er ein Kind, ein unschuldiges Kind, für immer schlägt Ja, wenn es mich getroffen hätte  mich haben meine Beine lang genug herumgetragen. Was brauch ich sie noch und dann, ich war kein guter Mensch, viel Schlechtes habe ich getan, ich hab auch  Aber was, was sagte ich eben? Ja ja also, wenn es mich getroffen hätte, das hätt ich begriffen. Doch wie kann Gott so daneben schlagen auf den Unrechten, den Unschuldigen  und wie soll unsereins begreifen, daß an einem lebendigen Menschen, an einem Kind, die Beine plötzlich tot sein sollen, weil so ein Nichts, ein Bazillus, haben die Ärzte gesagt, und meinen, sie hätten etwas damit gesagt Aber das ist doch nur ein Wort, eine Ausrede, und das andere, das ist wirklich, daß ein Kind daliegt, auf einmal sind ihm die Glieder starr, es kann nicht mehr gehen und sich nicht mehr regen und man selber steht wehrlos dabei  Das kann man doch nicht begreifen.«

Er wischte sich heftig mit dem Handrücken den Schweiß von dem angenäßten, verwirrten Haar. »Natürlich habe ich alle Ärzte befragt wo nur einer von den Berühmten war, sind wir zu ihm gefahren alle habe ich sie mir kommen lassen, und sie haben doziert und lateinisch geredet und diskutiert und Konsilien gehalten, der eine hat das versucht und der andere das, und dann haben sie gesagt, sie hoffen und sie glauben, und haben ihr Geld genommen und sind gegangen und alles ist geblieben, wie es war. Das heißt, etwas besser ist es geworden, eigentlich schon bedeutend besser. Früher hat sie immer flach auf dem Rücken liegen müssen und der ganze Leib war gelähmt jetzt sind doch wenigstens die Arme, ist der Oberkörper normal, und sie kann allein an ihren Krücken gehn etwas besser, nein, viel besser, ich darf nicht ungerecht sein, ist es geworden Aber ganz geholfen hat ihr noch keiner Alle haben die Achseln gezuckt und gesagt: Geduld, Geduld, Geduld Nur einer hat ausgehalten mit ihr, einer, der Doktor Condor ich weiß nicht, ob Sie je von ihm gehört haben. Sie sind doch aus Wien.«

Ich mußte verneinen. Ich hatte den Namen nie gehört.

»Natürlich, wie sollen Sie ihn kennen, Sie sind ja ein gesunder Mensch, und er gehört nicht zu denen, die von sich viel Wesens machen er ist auch gar nicht Professor, nicht einmal Dozent ich glaub auch nicht, daß er eine gute Praxis hat das heißt, er sucht keine große Praxis. Er ist eben ein merkwürdiger, ein ganz besonderer Mensch ich weiß nicht, ob ichs Ihnen recht erklären kann. Ihn interessieren nicht die gewöhnlichen Fälle, nicht, was jeder Bader behandeln kann  ihn interessieren nur die schweren Fälle, nur die, an denen die andern Ärzte mit Achselzucken vorübergehen. Ich kann natürlich nicht, ich ungebildeter Mensch, behaupten, daß Doktor Condor ein besserer Arzt ist als die andern nur das weiß ich, daß er ein besserer Mensch ist als die andern. Ich hab ihn zum erstenmal kennengelernt, damals, bei meiner Frau, und gesehen, wie er gekämpft hat um sie Er war der einzige, der bis zum letzten Augenblick nicht nachgeben wollte, und damals hab ichs gespürt  dieser Mensch lebt und stirbt mit jedem Kranken mit. Er hat, ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke er hat eben irgendeine Passion, stärker zu sein als die Krankheit nicht wie die andern bloß den Ehrgeiz, sein Geld zu kriegen und Professor und Hofrat zu werden er denkt eben nicht von sich aus, sondern von dem andern her, von dem Leidenden oh, er ist ein wunderbarer Mensch!«

Der alte Mann war ganz in Erregung geraten, seine Augen, eben noch müde, bekamen einen heftigen Glanz.

»Ein wunderbarer Mensch, sage ich Ihnen, der läßt niemanden im Stich; für ihn ist jeder Fall eine Verpflichtung ich weiß, ich kann das nicht richtig ausdrücken aber es ist bei ihm so, als ob er sich jemand schuldig fühlte, wenn er nicht helfen kann selber schuldig fühlte und darum  Sie werdens mir nicht glauben, aber ich schwör Ihnen, es ist wirklich wahr  das eine Mal, wie ihm nicht gelungen ist, was er sich vorgenommen hat er hatte einer Frau, die erblindete, versprochen, er bringe sie durch und wie sie dann wirklich erblindet ist, hat er diese Blinde geheiratet, denken Sie sich, als junger Mensch eine blinde Frau, sieben Jahre älter als er, nicht schön und ohne Geld, eine hysterische Person, die jetzt auf ihm lastet und ihm gar nicht dankbar ist Nicht wahr, das zeigt doch, was für ein Mensch das ist, und Sie verstehen, wie glücklich ich bin, so jemanden gefunden zu haben einen Menschen, der sich sorgt um mein Kind wie ich selber. Ich hab ihn auch eingesetzt in meinem Testament  wenn einer, wird er ihr helfen, Gott geb es! Gott gebe es!«

Der alte Mann hielt beide Hände zusammengepreßt wie im Gebet. Dann rückte er mit einem Ruck näher heran.

»Und nun hören Sie, Herr Leutnant. Ich wollte Sie doch um etwas bitten. Ich sagte Ihnen schon, was für ein anteilnehmender Mensch dieser Doktor Condor ist Aber sehen Sie, verstehen Sie gerade, daß er so ein guter Mensch ist, das beunruhigt mich auch Ich fürchte immer, verstehen Sie ich fürchte, daß er aus Rücksicht auf mich mir nicht die Wahrheit sagt, nicht die ganze Wahrheit Immer verspricht und vertröstet er, es würde bestimmt besser, ganz gesund würde das Kind werden aber immer, wenn ich ihn genau frage, wann denn, und wie lange wird es noch dauern, dann weicht er aus und sagt bloß: Geduld, Geduld! Aber man muß doch eine Gewißheit haben ich bin ein alter, ein kranker Mann, ich muß doch wissen, ob ichs noch erlebe und ob sie überhaupt gesund wird, ganz gesund nein, glauben Sie mir, Herr Leutnant, ich kann nicht mehr so leben ich muß wissen, ob es sicher ist, daß sie geheilt wird und wann ich muß es wissen, ich ertrag diese Unsicherheit nicht länger.«

Er stand auf, überwältigt von seiner Erregung, und trat mit drei hastig-heftigen Schritten ans Fenster. Ich kannte das nun schon an ihm. Immer wenn ihm die Tränen in die Augen stiegen, rettete er sich in dieses brüske Wegwenden. Auch er wollte kein Mitleid  weil er ihr doch ähnlich war! Ungeschickt tastete zugleich seine rechte Hand in die rückwärtige Rocktasche des tristen schwarzen Jacketts, knüllte ein Tuch heraus; und vergeblich, daß er dann so tat, als hätte er sich nur den Schweiß von der Stirne gewischt: ich sah zu deutlich die geröteten Lider. Einmal, zweimal ging er im Zimmer auf und nieder; es stöhnte und stöhnte, ich wußte nicht, waren es die abgemorschten Balken unter seinem Schritt oder war er es selbst, der morsche, alte Mann. Dann holte er wie ein Schwimmer vor dem Abstoß wieder Atem.

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