Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца - Цвейг Стефан 8 стр.


Aber zu meinem eigenen Erstaunen fand ich immer wieder diese Kraft. Immer wachsen einer ersten Erkenntnis im Menschlichen andere geheimnisvoll zu, und wem nur einmal die Fähigkeit zuteil ward, eine einzige Form irdischen Leidens wahrhaft mitzufühlen, der versteht durch diese magische Belehrung alle Formen, auch die fremdartigsten und scheinbar widersinnigen. So ließ ich mich nicht beirren durch Ediths gelegentliche Revolten; im Gegenteil, je ungerechter und schmerzlicher ihre Ausbrüche waren, umsomehr erschütterten sie mich; allmählich verstand ich auch, warum mein Kommen dem Vater und Ilona, warum mein Mitdabeisein dem ganzen Hause so willkommen war. Ein lang dauerndes Leiden ermüdet im allgemeinen nicht nur den Kranken, sondern auch das Mitleid der andern; starke Gefühle lassen sich nicht ins Ungemessene verlängern. Nun litten sicherlich der Vater und die Freundin bis in den Grund ihrer Seele mit dieser armen Ungeduldigen, aber sie litten schon in einer erschöpften und resignierten Art. Sie nahmen die Kranke als Kranke, die Tatsache der Lähmung als Tatsache, sie warteten jedesmal gesenkten Blicks, bis diese kurzen Nervengewitter sich ausgetobt. Aber sie erschraken nicht mehr so, wie ich jedesmal von neuem erschrak. Ich dagegen, der einzige, dem ihr Leiden eine immer erneute Erschütterung bedeutete, wurde bald der einzige, vor dem sie sich ihrer Maßlosigkeit schämte. Ich brauchte nur, wenn sie unbeherrscht auffuhr, ein kleines mahnendes Wort wie »Aber liebes Fräulein Edith« zu sagen, und schon duckte sich gehorsam der ganze Blick. Sie errötete, und man sah, am liebsten wäre sie, wenn ihre Füße sie nicht gefesselt hätten, vor sich selber geflüchtet. Und nie konnte ich von ihr Abschied nehmen, ohne daß sie mit einer gewissen flehenden Art, die mir durch und durch ging, gesagt hätte: »Aber Sie kommen doch morgen wieder? Nicht wahr, Sie sind mir nicht böse wegen all der Dummheiten, die ich heute gesagt habe?« In solchen Minuten fühlte ich eine Art rätselhaften Staunens, daß ich, der ich doch nichts zu geben hatte als mein ehrliches Mitleid, soviel Macht besaß über andere Menschen.

Aber es ist der Sinn der Jugend, daß jede neue Erkenntnis ihr zu Exaltation wird und sie, einmal angeschwungen von einem Gefühl, davon nicht genug zu bekommen vermag. Eine sonderbare Verwandlung begann in mir, sobald ich entdeckte, daß dies mein Mitfühlen eine Kraft war, die nicht nur mich selbst geradezu lustvoll erregte, sondern auch über mich hinaus wohltätig wirkte: seit ich zum erstenmal dieser neuen Fähigkeit des Mitleidens Einlaß in mich gegeben, schien es mir, als sei ein Toxin in mein Blut eingedrungen und hätte es wärmer, röter, geschwinder, pulsender, vehementer gemacht. Mit einem Schlage verstand ich die Stumpfheit nicht mehr, in der ich bislang so schlendrig dahingelebt wie in einer grauen gleichgültigen Dämmerung. Hundert Dinge beginnen mich zu erregen, zu beschäftigen, an denen ich früher achtlos vorübergegangen. Überall gewahre ich, als wäre mit jenem ersten Blick in ein fremdes Leiden ein schärferes, wissenderes Auge in mir erwacht, Einzelheiten, die mich beschäftigen, begeistern, erschüttern. Und da doch unsere ganze Welt voll ist, Straße um Straße und Zimmer um Zimmer, mit fühlbarem Schicksal und durchflutet von brennender Not bis zum untersten Grund, so ist mein Tag jetzt ununterbrochen von Aufmerksamkeit und Spannung erfüllt. Ich ertappe mich zum Beispiel beim Remontenreiten, daß ich auf einmal nicht mehr wie früher einem stützigen Pferd mit voller Wucht einen Hieb über die Kruppe schlagen kann, denn ich spüre schuldbewußt den von mir verursachten Schmerz, und die Strieme brennt mir auf der eigenen Haut. Oder unwillkürlich krampfen sich mir die Finger zusammen, wenn unser cholerischer Rittmeister einem armen ruthenischen Ulanen, der den Sattel schlecht aufgezäumt hat, die geballte Faust ins Gesicht knallt, und der Bursche steht stramm, die Hand an der Hosennaht. Ringsum starren oder lachen blöd die andern Soldaten, ich aber, ich allein sehe, wie unter den beschämt gesenkten Augenlidern des dumpfen Burschen die Wimpern sich feuchten. Mit einmal kann ich in unserer Offiziersmesse die Witze über ungeschickte oder unbeholfene Kameraden nicht mehr ertragen; seit ich an diesem wehrlosen, machtlosen Mädchen die Qual der Unkraft begriffen habe, erregt mich haßvoll jede Brutalität und anteilfordernd jede Wehrlosigkeit. Unzählige Kleinigkeiten, die mir bisher entgangen sind, bemerke ich, seit mir der Zufall diesen einen heißen Tropfen Mitleid ins Auge geträufelt, einfältige, simple Dinge, aber von jedem einzelnen geht für mich Spannung und Erschütterung aus. Es fällt mir zum Beispiel auf, daß die Tabaktrafikantin, bei der ich immer meine Zigaretten kaufe, die hingereichten Geldstücke auffällig nah an die rundgeschliffene Brille hält, und sofort beunruhigt mich der Verdacht, daß sie den Star bekommen könne. Morgen will ich sie vorsichtig ausfragen und vielleicht auch den Regimentsarzt Goldbaum bitten, daß er sie einmal untersucht. Oder es fällt mir auf, daß die Freiwilligen den kleinen rothaarigen K. in der letzten Zeit so sichtlich schneiden, und ich erinnere mich, daß in der Zeitung gestanden hat (was kann er dafür, der arme Junge?), sein Onkel sei wegen betrügerischer Malversationen eingesperrt worden; mit Absicht setze ich mich bei der Menage zu ihm hin und fange ein langes Gespräch an, an seinem dankbaren Blick sofort spürend, daß er versteht, ich tus nur, um den andern zu zeigen, wie ungerecht und ordinär sie ihn behandeln. Oder ich bettle einen von meinem Zug heraus, dem der Oberst sonst unbarmherzig vier Stunden Spangen aufgebrummt hätte; immer neu und an täglich anderen Proben genieße ich diese plötzlich in mich gefahrene Lust. Und ich sage mir: von jetzt ab helfen, soviel du kannst, jedem und jedem! Nie mehr träge, nie mehr gleichgültig sein! Sich steigern, indem man sich hingibt, sich bereichern, indem man jedem Schicksal sich verbrüdert, jedes Leiden durch Mitleiden versteht und besteht. Und mein über sich selbst erstauntes Herz zittert vor Dankbarkeit für die Kranke, die ich unwissend gekränkt, und die durch ihr Leiden mich diese schöpferische Magie des Mitleids gelehrt.

* * *

Nun, aus derart romantischen Gefühlen wurde ich bald erweckt, und zwar auf die allergründlichste Art. Das kam so: Wir hatten an jenem Nachmittag Domino gespielt, dann lange geplaudert und so angeregt die Zeit verbracht, daß wir alle nicht bemerkten, wie spät es geworden war. Endlich, um halb zwölf, blicke ich erschrocken auf die Uhr und empfehle mich hastig. Aber schon während mich der Vater hinaus in die Halle begleitet, hören wir von draußen ein Summen und Brummen wie von hunderttausend Hummeln. Ein veritabler Wolkenbruch trommelt auf das Vordach. »Das Auto bringt Sie hinein«, beruhigt mich Kekesfalva. Ich protestiere, das sei keineswegs nötig; der Gedanke ist mir wirklich peinlich, der Chauffeur solle einzig um meinetwillen jetzt um halb zwölf sich noch einmal anziehen und den schon abgestellten Wagen aus der Garage herausholen (alles dies Nachfühlen und Rücksichtnehmen auf fremde Existenzen ist völlig neu bei mir, ich habe es erst in diesen Wochen gelernt). Aber schließlich liegt doch gute Verlockung darin, in einem weichen, gut gefederten Coupé bei solchem Hundewetter bequem heimzusausen, statt eine halbe Stunde lang triefnaß mit dünnen Lackstiefeletten durch die aufgeschlammte Chaussee zu stapfen: so gebe ich nach. Der alte Mann läßt sichs nicht nehmen, trotz des Regens mich selbst ans Auto zu begleiten und mir die Decke umzuschlagen. Der Chauffeur kurbelt an; in einem Schwung sause ich durch das trommelnde Unwetter nach Hause.

Wunderbar bequem und behaglich fährt sichs in dem lautlos gleitenden Wagen. Aber doch, wie wir jetzt zauberhaft schnell ist das gegangen  auf die Kaserne zusteuern, klopfe ich gegen die Scheibe und ersuche den Chauffeur, er möge schon auf dem Rathausplatz anhalten. Denn lieber nicht in Kekesfalvas elegantem Coupé bei der Kaserne vorfahren! Ich weiß, es macht sich nicht gut, wenn ein kleiner Leutnant wie ein Erzherzog im fabelhaften Auto vorknattert und sich von einem livrierten Chauffeur heraushelfen läßt. Derlei Protzereien sehen bei uns die goldenen Kragen nicht gern, außerdem rät mir längst ein Instinkt, meine beiden Welten möglichst wenig zu vermengen, den Luxus des Draußen, wo ich ein freier Mann bin, unabhängig, verwöhnt, und die andere, die Dienstwelt, in der ich mich ducken muß, ein armer Schlucker, den es mächtig entlastet, wenn der Monat nur dreißig Tage hat statt einunddreißig. Unbewußt will mein eines Ich nicht gerne von dem anderen wissen; manchmal vermag ich schon nicht mehr zu unterscheiden, wer eigentlich der wirkliche Toni Hofmiller ist, der im Dienst oder der bei Kekesfalvas, der draußen oder der drinnen.

Der Chauffeur hält wunschgemäß am Rathausplatz, zwei Straßen von der Kaserne. Ich steige aus, schlage den Kragen hoch und will rasch den weiten Platz überqueren. Aber gerade in diesen Augenblick strubelt das Unwetter mit verdoppelter Wucht los, mit nassem Hieb schlägt der Wind mir gradaus ins Gesicht. Besser darum unter einem Haustor ein paar Minuten warten, ehe man die zwei Gassen zur Kaserne hinüberläuft. Oder am Ende ist das Kaffeehaus noch offen und ich kann dort im Sicheren sitzen, bis der liebe Himmel seine dicksten Gießkannen verschüttet hat. Zum Kaffeehaus hinüber sind es nur sechs Häuser, und siehe da, hinter den schwimmenden Scheiben glänzt schummrig das Gaslicht. Am Ende hocken die Kameraden noch am Stammtisch; famose Gelegenheit das, allerhand gutzumachen, denn es gehört sich längst, daß ich mich wieder einmal zeige. Gestern, vorgestern, die ganz Woche und die letzte bin ich vom Stammtisch weggeblieben. Eigentlich hätten sie guten Grund, gegen mich verärgert zu sein; wenn man schon untreu wird, soll man wenigstens die Formen wahren.

Ich klinke auf. In der vorderen Hälfte des Lokals sind die Lampen aus Sparsamkeitsgründen bereits abgelöscht, ausgespannt liegen die Zeitungen herum und der Markeur Eugen zählt die Losung zusammen. Jedoch im Spielzimmer rückwärts sehe ich noch Licht und einen Schimmer von blanken Uniformknöpfen; wahrhaftig, da sitzen sie noch, die ewigen Tarockkumpane, Jozsi, der Oberleutnant, Ferencz, der Leutnant, und der Regimentsarzt Goldbaum. Anscheinend haben sie ihre Partie längst ausgespielt und lehnen nur noch duslig herum in jener mir wohlbekannten Kaffeehausfaulheit, die sich vor dem Aufstehen fürchtet; so wirds ein rechtes Gottesgeschenk für sie, daß mein Erscheinen ihr langweiliges Dösen unterbricht.

»Hallo, der Toni«, alarmiert Ferencz die andern, und »Welch ein Glanz in unserer niedern Hütte«, deklamiert der Regimentsarzt, der, wie wir zu spotten pflegen, an chronischer Zitatendiarrhöe leidet. Sechs schläfrige Augen blinzeln und lachen mir entgegen. »Servus! Servus!«

Ihre Freude freut mich. Sind doch wirklich brave Burschen, denke ich mir. Habens mir gar nicht übelgenommen, daß ich die ganze Zeit über ohne Entschuldigung und Erklärung ausgepascht bin.

»Einen Schwarzen«, bestelle ich bei dem schläfrig heranschlurfenden Kellner und rücke mir den Sessel zurecht mit dem unausweichlichen »No, was gibts denn Neues?«, das bei uns jedes Zusammensein eröffnet.

Ferencz schiebt sein breites Gesicht noch mehr in die Breite, die blinzelnden Augen verschwinden beinahe in den rötlichen Apfelbacken; langsam, teigig geht ihm der Mund auf.

»Also, das Allerneueste war«, schmunzelt er behäbig, »daß euer Wohlgeboren die Gnad haben, wieder einmal bei uns in unserm bescheidenen Czoch zu erscheinen.«

Und der Regimentsarzt lehnt sich zurück und beginnt mit Kainzens Tonfall: »Mahadöh, der Gott der Erde  stieg herab zum letztenmal  daß er ihresgleichen werde  mitzufühlen Lust und Qual.«

Alle drei schauen mich amüsiert an, und sofort überkommt mich ein saures Gefühl. Am besten, denke ich mir, jetzt rasch selber loslegen, ehe sie anfangen zu fragen, warum ich alle die Tage ausgeblieben bin und woher ich heut komme. Aber ehe ich einhaken kann, hat schon der Ferencz merkwürdig gezwinkert und den Jozsi angestoßen.

»Da schau her«, deutet er unter den Tisch. »No, was sagst? Lackstiefeletten trägt er bei dem Sauwetter und die noble Montur! Ja, der verstehts, der Toni, der hat sich gut ins Warme gesetzt! Soll ja fabelhaft draußen zugehn bei dem alten Manichäer! Fünf Gänge jeden Abend, hat der Apotheker erzählt, Kaviar und Kapaune, echten Bols und piekfeine Zigarren  anders als unser Saufraß im Roten Löwen! Ja, den Toni, den ham wir alle unterschätzt, der hats faustdick hinter den Ohren.«

Jozsi sekundiert sofort. »Nur mit der Kameradschaft, da stehts halt schwach bei ihm. Ja, mein lieber Toni, statt daß du draußen deinem Alten einmal sagen tätst: Du, Alter, ich hab da ein paar fesche Kameraden, bildsaubere, brave Kerle, die auch nicht mit dem Messer fressen, die luchs ich euch einmal her  statt dem denkt er sich: sollen nur ihr saures Pilsner saufen und sich die Gurgel mit ihrem öden Rindsgulasch auspaprizieren! Ja, piekfeine Kameradschaft, das muß ich schon sagen! Alles für sich und nix für die andern! Na  hast mir wenigstens eine dicke Upman mitgebracht? Dann bist du für heut noch pardoniert.«

Sie lachen und schmatzen alle drei. Aber mir steigt plötzlich das Blut vom Kragen her bis an die Ohren hoch. Denn, Teufel, woran kann der verdammte Jozsi erraten haben, daß mir wirklich Kekesfalva zum Abschied im Vorzimmer  er tut das immer  eine seiner feinen Zigarren zugesteckt hat? Steht sie mir am Ende zwischen den beiden Brustknöpfen beim Rock heraus? Wenn die Burschen nur nichts merken! In meiner Verlegenheit zwinge ich mich zu einem Lachen:

»Natürlich  eine Upman! Billiger gibst dus nicht! Ich glaub, eine Zigarette dritter Sorte wirds dir auch tun«, und halte ihm offen die Tabatiere hin. Doch im selben Augenblick zuckt mir schon die Hand. Denn vorgestern war mein fünfundzwanzigster Geburtstag gewesen, irgendwie hatten die beiden Mädel das herausspekuliert, und bei dem Abendessen, als ich von meinem Teller die Serviette aufhob, spürte ich etwas Schweres darin eingefaltet: eine Zigarettendose als Geburtstagsgeschenk. Aber schon hatte der Ferencz das neue Etui bemerkt  in unserem engen Klüngel wird ja auch die kleinste Kleinigkeit zum Ereignis.

»Hallo, was ist das?« brummt er. »Ein neues Ausrüstungsstück!« Er nimmt mir die Zigarettendose einfach aus der Hand (was kann ich dagegen tun?), betastet, beschaut und wiegt sie schließlich auf der Handfläche. »Du, mir scheint«, wendet er sich hinüber zum Regimentsarzt, »die ist sogar echt. Geh, schau dir die einmal gut an  dein würdiger Erzeuger soll ja mit derlei handeln, da wirst dich doch auch einigermaßen auskennen.«

Der Regimentsarzt Goldbaum, wirklich Sohn eines Goldschmieds in Drohobycz, stülpt den Zwicker auf die etwas dickliche Nase, nimmt die Tabatière, wiegt sie, beschaut sie von allen Seiten und klopft sie geschult mit dem Knöchel ab.

»Echt«, diagnostiziert er endlich. »Echtes Gold, punziert und verdammt schwer. Damit könnt man dem ganzen Regiment die Zähne plombieren. Preislage etwa siebenhundert bis achthundert Kronen.«

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