Aus Zusammenhängen zu schließen, die ich längst vergessen, hatte er fast ein Kind noch eine gewisse Rosina, wohl die Großmutter der heutigen, so heftig geliebt, daß er den Verstand darüber verlor.
Wenn ich die Jahre zurückzähle, kann es keine andere als die Großmutter der jetzigen Rosina gewesen sein».
Zwakh schwieg und lehnte sich zurück.
Das Schicksal in diesem Haus irrt im Kreise umher und kehrt immer wieder zum selben Punkt zurück, fuhr es mir durch den Sinn, und ein häßliches Bild, das ich einmal mit angesehen eine Katze mit verletzter Gehirnhälfte im Kreise herumtaumelnd trat vor mein Auge.
«Jetzt kommt der Kopf», hörte ich plötzlich den Maler Vrieslander mit heller Stimme sagen.
Und er nahm einen runden Holzklotz aus der Tasche und begann an ihm zu schnitzen.
Eine schwere Müdigkeit legte sich mir über die Augen, und ich rückte meinen Lehnstuhl aus dem Lichtschein in den Hintergrund.
Das Wasser für den Punsch brodelte im Kessel, und Josua Prokop füllte wiederum die Gläser. Leise, ganz leise klangen die Klänge der Tanzmusik durch das geschlossene Fenster; manchmal verstummten sie vollends, dann wiederum wachten sie ein wenig auf, wie sie der Wind unterwegs verlor oder zu uns von der Gasse emportrug.
Ob ich denn nicht anstoßen wolle, fragte mich nach einer Weile der Musiker.
Ich aber gab keine Antwort, so vollkommen war mir der Wille, mich zu bewegen, abhanden gekommen, daß ich gar nicht auf den Gedanken, den Mund zu öffnen, verfiel.
Ich dachte ich schliefe, so steinern war die innere Ruhe, die sich meiner bemächtigt hatte. Und ich mußte hinüber auf Vrieslanders funkelndes Messer blinzeln, das ruhelos aus dem Holz kleine Späne biß, um die Gewißheit zu erlangen, daß ich wach sei.
In weiter Ferne brummte Zwakhs Stimme und erzählte wieder allerlei wunderliche Geschichten über Marionetten und krause Märchen, die er für seine Puppenspiele erdacht.
Auch von Dr. Savioli war die Rede und von der vornehmen Dame, der Gattin eines Adeligen, die in das versteckte Atelier heimlich zu Savioli zu Besuch komme.
Und wiederum sah ich im Geiste Aaron Wassertrums höhnische, triumphierende Miene.
Ob ich Zwakh nicht mitteilen sollte, was sich damals ereignet hatte, überlegte ich, dann hielt ich es nicht der Mühe für wert und für belanglos. Auch wußte ich, daß mein Wille versagen würde, wollte ich jetzt den Versuch machen zu sprechen.
Plötzlich sahen die drei am Tisch aufmerksam zu mir herüber, und Prokop sagte ganz laut: «Er ist eingeschlafen», so laut, daß es fast klang, als ob es eine Frage sein sollte.
Sie redeten mit gedämpfter Stimme weiter, und ich erkannte, daß sie von mir sprachen.
Vrieslanders Schnitzmesser tanzte hin und her und fing das Licht auf, das von der Lampe niederfloß, und der spiegelnde Schein brannte mir in den Augen.
Es fiel ein Wort wie: «irr sein», und ich horchte auf die Rede, die in der Runde ging.
«Gebiete, wie das vom Golem sollte man vor Pernath nie berühren», sagte Josua Prokop vorwurfsvoll, «als er vorhin von dem Buche Ibbur erzählte, schwiegen wir still und fragten nicht weiter. Ich möchte wetten, er hat alles nur geträumt».
Zwakh nickte: «Sie haben ganz recht. Es ist, wie wenn man mit offenem Lichte eine verstaubte Kammer betreten wollte, in der morsche Tücher Decke und Wände bespannen und der dürre Zunder der Vergangenheit fußhoch den Boden bedeckt; ein flüchtiges Berühren nur und schon schlägt das Feuer aus allen Ecken».
«War Pernath lange im Irrenhaus? Schade um ihn, er kann doch erst vierzig sein», sagte Vrieslander.
«Ich weiß es nicht, ich habe auch keine Vorstellung, woher er stammen mag und was früher sein Beruf gewesen ist. Aussehen tut er ja wie ein altfranzösischer Edelmann mit seiner schlanken Gestalt und dem Spitzbart. Vor vielen vielen Jahren hat mich ein befreundeter alter Arzt gebeten, ich möchte mich seiner ein wenig annehmen und ihm eine kleine Wohnung hier in diesen Gassen, wo sich niemand um ihn kümmern und mit Fragen nach früheren Zeiten beunruhigen würde, aussuchen». Wieder sah Zwakh bewegt zu mir herüber. «Seit jener Zeit lebt er hier, bessert Antiquitäten aus und schneidet Gemmen und hat sich damit einen kleinen Wohlstand gegründet. Es ist ein Glück für ihn, daß er alles, was mit seinem Wahnsinn zusammenhängt, vergessen zu haben scheint. Fragen Sie ihn beileibe nur niemals nach Dingen, die die Vergangenheit in seiner Erinnerung wachrufen könnten, wie oft hat mir das der alte Arzt ans Herz gelegt! Wissen Sie, Zwakh, sagte er immer, wir haben so eine gewisse Methode; wir haben seine Krankheit mit vieler Mühe eingemauert, möchte ichs nennen, so wie man eine Unglücksstätte einfriedet, weil sich an sie eine traurige Erinnerung knüpft».
Die Rede des Marionettenspielers war auf mich zugekommen wie ein Schlächter auf ein wehrloses Tier und preßte mir mit rohen, grausamen Händen das Herz zusammen.
Von jeher hatte eine dumpfe Qual an mir genagt, ein Ahnen, als wäre mir etwas genommen worden und als hätte ich in meinem Leben eine lange Strecke Wegs an einem Abgrunde hin durchschritten wie ein Schlafwandler. Und nie war es mir gelungen, die Ursache zu ergründen.
Jetzt lag des Rätsels Lösung offen vor mir und brannte mich unerträglich wie eine bloßgelegte Wunde.
Mein krankhafter Widerwillen, der Erinnerung an verflossene Ereignisse nachzuhängen, dann der seltsame, von Zeit zu Zeit immer wiederkehrende Traum, ich sei in ein Haus mit einer Flucht mir unzugänglicher Gemächer gesperrt, das beängstigende Versagen meines Gedächtnisses in Dingen, die meine Jugendzeit betrafen, alles das fand mit einem Male seine furchtbare Erklärung: ich war wahnsinnig gewesen und man hatte Hypnose angewandt, hatte das «Zimmer» verschlossen, das die Verbindung zu jenen Gemächern meines Gehirns bildete, und mich zum Heimatlosen inmitten des mich umgebenden Lebens gemacht.
Und keine Aussicht, die verlorene Erinnerung je wieder zu gewinnen!
Die Triebfedern meines Denkens und Handelns liegen in einem andern, vergessenen Dasein verborgen, begriff ich, nie würde ich sie erkennen können: eine verschnittene Pflanze bin ich, ein Reis, das aus einer fremden Wurzel sproßt. Gelänge es mir auch, den Eingang in jenes verschlossene «Zimmer» zu erzwingen, müßte ich nicht abermals den Gespenstern, die man darein gebannt, in die Hände fallen?!
Die Geschichte von dem Golem, die Zwakh vor einer Stunde erzählte, zog mir durch den Sinn, und plötzlich erkannte ich einen riesengroßen, geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem sagenhaften Gemach ohne Zugang, in dem jener Unbekannte wohnen sollte, und meinem bedeutungsvollen Traum.
Ja! auch in meinem Falle «würde der Strick reißen», wollte ich versuchen, in das vergitterte Fenster meines Innern zu blicken.
Der seltsame Zusammenhang wurde mir immer deutlicher und nahm etwas unbeschreiblich Erschreckendes für mich an.
Ich fühlte: es sind da Dinge unfaßbare zusammengeschmiedet und laufen wie blinde Pferde, die nicht wissen wohin der Weg führt, nebeneinander her.
Auch im Getto: ein Zimmer, ein Raum, dessen Eingang niemand finden kann, ein schattenhaftes Wesen, das darin wohnt und nur zuweilen durch die Gassen tappt, um Grauen und Entsetzen unter die Menschen zu tragen!
Immer noch schnitzte Vrieslander an dem Kopfe, und das Holz knirschte unter der Klinge des Messers.
Es tat mir fast weh, wie ich es hörte, und ich sah hin, ob es denn nicht bald zu Ende sei.
Wie der Kopf sich in des Malers Hand hin und her wandte, war es, als habe er Bewußtsein und spähe von Winkel zu Winkel. Dann ruhten seine Augen lange auf mir, befriedigt, daß sie mich endlich gefunden.
Auch ich vermochte meine Blicke nicht mehr abzuwenden und starrte unverwandt auf das hölzerne Antlitz.
Eine Weile schien das Messer des Malers zögernd etwas zu suchen, dann ritzte es entschlossen eine Linie ein, und plötzlich gewannen die Züge des Holzklotzes schreckhaftes Leben.
Ich erkannte das gelbe Gesicht des Fremden, der mir damals das Buch gebracht.
Dann konnte ich nichts mehr unterscheiden, der Anblick hatte nur eine Sekunde gedauert, und ich spürte, daß mein Herz zu schlagen aufhörte und ängstlich flatterte.
Dennoch blieb ich mir wie damals des Gesichtes bewußt.
Ich war es selber geworden und lag auf Vrieslanders Schoß und spähte umher.
Meine Augen wanderten im Zimmer umher, und eine fremde Hand bewegte meinen Schädel.
Dann sah ich mit einem Male Zwakhs aufgeregte Miene und hörte seine Worte: Um Gottes willen, das ist ja der Golem!
Und ein kurzes Ringen entstand, und man wollte Vrieslander mit Gewalt das Schnitzwerk entreißen, doch der wehrte sich und rief lachend:
«Was wollt ihr, es ist doch ganz und gar mißlungen». Und er wand sich los, öffnete das Fenster und warf den Kopf auf die Gasse hinunter.
Da schwand mein Bewußtsein, und ich tauchte in eine tiefe Finsternis, die von schimmernden Goldfäden durchzogen war, und als ich, wie es mir schien, nach einer langen, langen Zeit erwachte, da erst hörte ich das Holz klappernd auf das Pflaster fallen.
«Sie haben so fest geschlafen, daß Sie nicht merkten, wie wir Sie schüttelten», sagte Josua Prokop zu mir, «der Punsch ist aus, und Sie haben alles versäumt».
Der heiße Schmerz über das, was ich vorhin mitangehört, übermannte mich wieder, und ich wollte aufschreien, daß ich nicht geträumt habe, als ich ihnen von dem Buche Ibbur erzählte und es aus der Kassette nehmen und ihnen zeigen könne.
Aber diese Gedanken kamen nicht zu Wort und konnten die Stimmung allgemeinen Aufbruches, die meine Gäste ergriffen hatte, nicht durchdringen.
Zwakh hängte mir mit Gewalt den Mantel und rief:
«Kommen Sie nur mit zum Loisitschek, Meister Pernath, es wird Ihre Lebensgeister erfrischen».
Nacht
Willenlos hatte ich mich von Zwakh die Treppe hinunterführen lassen.
Ich spürte den Geruch des Nebels, der von der Straße ins Haus drang, deutlicher und deutlicher werden. Josua Prokop und Vrieslander waren einige Schritte vorausgegangen, und man hörte, wie sie draußen vor dem Torweg mitsammen sprachen.
«Er muß rein in das Kanalgitter gefallen sein. Es ist doch zum Teufelholen».
Wir traten hinaus auf die Gasse, und ich sah, wie Prokop sich bückte und die Marionette suchte.
«Freut mich, daß du den dummen Kopf nicht finden kannst», brummte Vrieslander. Er hatte sich an die Mauer gestellt und sein Gesicht leuchtete grell auf und erlosch wieder in kurzen Intervallen wie er das Feuer eines Streichholzes zischend in seine kurze Pfeife sog.
Prokop machte eine heftig abwehrende Bewegung mit dem Arm und beugte sich noch tiefer hinab. Er kniete beinahe auf dem Pflaster:
«Still doch! Hört ihr denn nichts?»
Wir traten an ihn heran. Er deutete stumm auf das Kanalgitter und legte horchend die Hand ans Ohr. Eine Weile standen wir unbeweglich und lauschten in den Schacht hinab.
Nichts.
«Was wars denn?» flüsterte endlich der alte Marionettenspieler; doch sofort packte ihn Prokop heftig beim Handgelenk.
Einen Augenblick kaum einen Herzschlag lang hatte es mir geschienen, als klopfte da unten eine Hand gegen eine Eisenplatte fast unhörbar. Wie ich eine Sekunde später darüber nachdachte, war alles vorbei; nur in meiner Brust hallte es wie ein Erinnerungsecho weiter und löste sich langsam in ein unbestimmtes Gefühl des Grauens auf.
Schritte, die die Gasse heraufkamen, verscheuchten den Eindruck.
«Gehen wir; was stehen wir da herum!» mahnte Vrieslander.
Wir schritten die Häuserreihe entlang.
Prokop folgte nur widerwillig.
«Meinen Hals möcht ich wetten, da unten hat jemand geschrien in Todesangst».
Niemand von uns antwortete ihm, aber ich fühlte, daß etwas wie leise dämmernde Angst uns die Zunge in Fesseln hielt.
Bald darauf standen wir vor einem rotverhängten Schenkenfenster.
«SALON LOISITSCHEK».
«Heinte großes Konzehr» stand auf einem Pappendeckel geschrieben, dessen Rand mit verblichenen Photographien von Frauenzimmern bedeckt war.
Ehe noch Zwakh die Hand auf die Klinke legen konnte, öffnete sich die Eingangstür nach innen, und ein vierschrötiger Kerl mit gewichstem schwarzem Haar, ohne Kragen eine grünseidene Krawatte um den bloßen Hals geschlungen und die Frackweste mit einem Klumpen aus Schweinszähnen geschmückt empfing uns mit Bücklingen.
«Jä, jä, das sin mir Gästäh. Pane Schaffranek, rasch einen Tusch!» setzte er, über die Schulter in das von Menschen überfüllte Lokal gewendet, hastig seinem Willkommensgruß hinzu.
Ein klimperndes Geräusch, wie wenn eine Ratte über Klaviersaiten liefe, war die Antwort.
«Jä, jä, das sin mir Gästäh, das sin mir Gästäh. Da schaut man», murmelte der Vierschrötige immerwährend eifrig vor sich hin, während er uns aus den Mänteln half.
«Ja, ja, heinte ist der ganze verehrliche Hochadel des Landes bei mir versammelt», beantwortete er triumphierend Vrieslanders erstaunte Miene, als im Hintergrund auf einer Art Estrade, die durch Geländer und eine zweistufige Treppe vom vorderen Teil der Schenke getrennt war, ein paar vornehme junge Herren in Abendtoilette sichtbar wurden.
Schwaden beißenden Tabakrauches lagerten über den Tischen, hinter denen die langen Holzbänke an den Wänden vollbesetzt von zerlumpten Gestalten waren: Dirnen von den Schanzen, ungekämmt, schmutzig, barfuß, die festen Brüste kaum verhüllt von mißfarbigen Umhängetüchern, Zuhälter daneben mit blauen Militärmützen und Zigaretten hinter dem Ohr, Viehhändler mit haarigen Fäusten und schwerfälligen Fingern, die bei jeder Bewegung eine stumme Sprache der Niedertracht redeten, vazierende Kellner mit frechen Augen und blatternarbige Kommis mit karierten Hosen.
«Ich stell ich Ihnen spanische Plente umadum, damit Sie schön ungestört sein», krächzte die feiste Stimme des Vierschrötigen, und eine Rollwand, beklebt mit kleinen, tanzenden Chinesen, schob sich langsam vor den Ecktisch, an den wir uns gesetzt hatten.
Schnarrende Klänge einer Harfe machten das Stimmengewirr im Zimmer verlöschen.
Eine Sekunde eine rhythmische Pause.
Totenstille, als hielte alles den Atem an.
Mit erschreckender Deutlichkeit hörte man plötzlich wie die eisernen Gasstäbe fauchend die flachen herzförmigen Flammen aus ihren Mündern in die Luft bliesen dann fiel die Musik über das Geräusch her und verschlang es.
Als wären sie soeben erst entstanden, tauchten da zwei seltsame Gestalten aus dem Tabakqualm vor meinem Blick empor.
Mit langem, wallendem, weißen Prophetenbart, ein schwarzseidenes Käppchen wie es die alten jüdischen Familienväter tragen auf dem Kahlkopf, die blinden Augen milchbläulich und gläsern starr zur Decke gerichtet saß dort ein Greis, bewegte lautlos die Lippen und fuhr mit dürren Fingern wie mit Geierkrallen in die Saiten einer Harfe. Neben ihm in speckglänzendem, schwarzen Taffetkleid, Jettschmuck und Jettkreuz an Hals und Armen ein Sinnbild erheuchelter Bürgermoral ein schwammiges Weibsbild, die Ziehharmonika auf dem Schoß.
Ein wildes Gestolper von Klängen drängte sich aus den Instrumenten, dann sank die Melodie ermattet zur bloßen Begleitung herab.
Der Greis hatte ein paarmal in die Luft gebissen und riß den Mund weit auf, daß man die schwarzen Zahnstumpen sehen konnte. Langsam aus der Brust herauf rang sich ihm, von seltsamen hebräischen Röchellauten begleitet, ein wilder Baß: