Es ist nicht abzuweisen, daß dieser Projektionsvorgang, welcher die Verstorbenen zu böswilligen Feinden macht, eine Anlehnung an den reellen Feindseligkeiten findet, die man von letzteren erinnern und ihnen wirklich zum Vorwurf machen kann. Also an ihrer Härte, Herrschsucht, Ungerechtigkeit und was sonst den Hintergrund auch der zärtlichsten Beziehungen unter den Menschen bildet. Aber es kann nicht so einfach zugehen, daß uns dieses Moment für sich allein die Projektionsschöpfung der Dämonen begreiflich mache. Die Verschuldungen der Verstorbenen enthalten gewiß einen Teil der Motivierung für die Feindseligkeit der Überlebenden, aber sie wären unwirksam, wenn nicht die letzteren diese Feindseligkeit aus eigenem entwickeln würden, und der Zeitpunkt ihres Todes wäre gewiß der ungeeignetste Anlaß, die Erinnerung an die Vorwürfe zu wecken, die man ihnen zu machen berechtigt war. Wir können die unbewußte Feindseligkeit als das regelmäßig wirkende und eigentlich treibende Motiv nicht entbehren. Diese feindselige Strömung gegen die nächsten und teuersten Angehörigen konnte zu deren Lebzeiten latent bleiben, das heißt sich dem Bewußtsein weder direkt noch indirekt durch irgendeine Ersatzbildung verraten. Mit dem Ableben der gleichzeitig geliebten und gehaßten Personen war dies nicht mehr möglich, der Konflikt wurde akut. Die aus der gesteigerten Zärtlichkeit stammende Trauer wurde einerseits unduldsamer gegen die latente Feindseligkeit, anderseits durfte sie es nicht zulassen, daß sich aus letzterer nun ein Gefühl der Befriedigung ergebe. Somit kam es zur Verdrängung der unbewußten Feindseligkeit auf dem Wege der Projektion, zur Bildung jenes Zeremoniells, in dem die Furcht vor der Bestrafung durch die Dämonen Ausdruck findet, und mit dem zeitlichen Ablauf der Trauer verliert auch der Konflikt an Schärfe, so daß das Tabu dieser Toten sich abschwächen oder in Vergessenheit versinken darf.
Примечания
1
Jung (1912 und 1913).
2
Frazer (1910, Bd. 1, 53):»The totem bond is stronger than the bond of blood or family in the modern sense.«
3
Dieser knappste Extrakt des totemistischen Systems kann nicht ohne Erläuterungen und Einschränkungen bleiben: Der Name Totem ist in der Form Totam 1791 durch den Engländer J. Long von den Rothäuten Nordamerikas übernommen worden. Der Gegenstand selbst hat allmählich in der Wissenschaft großes Interesse gefunden und eine reichhaltige Literatur hervorgerufen, aus welcher ich als Hauptwerke das vierbändige Buch von J. G. Frazer, Totemism and Exogamy, 1910, und Bücher und Schriften von Andrew Lang (The Secret of the Totem, 1905) hervorhebe. Das Verdienst, die Bedeutung des Totemismus für die Urgeschichte der Menschheit erkannt zu haben, gebührt dem Schotten J. Ferguson McLennan (1869/70). Totemistische Institutionen wurden oder werden heute noch außer bei den Australiern bei den Indianern Nordamerikas beobachtet, ferner bei den Völkern der ozeanischen Inselwelt, in Ostindien und in einem großen Teil von Afrika. Manche sonst schwer zu deutende Spuren und Überbleibsel lassen aber erschließen, daß der Totemismus einst auch bei den arischen und semitischen Urvölkern Europas und Asiens bestanden hat, so daß viele Forscher geneigt sind, eine notwendige und überall durchschrittene Phase der menschlichen Entwicklung in ihm zu erkennen.
4
Frazer (1910, Bd. 1, 54).
5
Dem Vater, der Känguruh ist, wird aber wenigstens durch dieses Verbot der Inzest mit seinen Töchtern, die Emu sind, freigelassen. Bei väterlicher Vererbung des Totem wäre der Vater Känguruh, die Kinder gleichfalls Känguruh, dem Vater würde dann der Inzest mit den Töchtern verboten sein, dem Sohne der Inzest mit der Mutter freibleiben. Diese Erfolge der Totemverbote ergeben einen Hinweis darauf, daß die mütterliche Vererbung älter ist als die väterliche, denn es liegt Grund vor anzunehmen, daß die Totemverbote vor allem gegen die inzestuösen Gelüste des Sohnes gerichtet sind.
6
Fußnote: Sowie der meisten Totemvölker.
7
Fußnote: Die Anzahl der Totem ist willkürlich gewählt.
8
Fußnote: Auf diesen Punkt hat erst kürzlich Storfer in seiner Studie: Zur Sonderstellung des Vatermordes (1911) nachdrücklich aufmerksam gemacht.
9
Fußnote: Frazer (1910, Bd. 2, 77 ff.), nach R. H. Codrington (1891).
10
Fußnote: Frazer (1910, Bd. 2, 124).
11
Fußnote: Frazer (1910, Bd. 2, 130 f.), nach P. G. Peckel (1908).
12
Fußnote: Frazer (1910, Bd. 2, 146 ff.), nach Rev. L. Fison.
13
Fußnote: Frazer (1910, Bd. 2, 189).
14
Fußnote: Frazer (1910, Bd. 2, 388), nach Junod.
15
Fußnote: Frazer (1910, Bd. 2, 424).
16
Fußnote: Frazer (1910, Bd. 2, 76).
17
Fußnote: Frazer (1910, Bd. 2, 117), nach C. Ribbe (1903).
18
Fußnote: Crawley (1902, 401), nach Leslie (1875).
19
Fußnote: Elfte Auflage, 1910-11. Daselbst auch die wichtigsten Literaturnachweise.
20
Fußnote: Diese Verwendung des Tabu kann auch als eine nicht ursprüngliche in diesem Zusammenhange beiseite gelassen werden.
21
Fußnote: Vgl. darüber die erste und die letzte Abhandlung dieses Buches.
22
Fußnote: Frazer (1911, 136).
23
Fußnote: Beide, Lust und Verbot, bezogen sich auf die Berührung der eigenen Genitalien.
24
Fußnote: Auf die Beziehung zu den geliebten Personen, von denen das Verbot gegeben wurde.
25
Fußnote: Nach einem trefflichen Ausdruck von Bleuler.
26
Fußnote: Vgl. meine in diesen Aufsätzen bereits mehrmals angekündigte Studie über den Totemismus. (IV. Abhandlung dieses Buches.)
27
Fußnote: Third edition, Part II, Taboo and the Perils of the Soul (1911).
28
Fußnote: Frazer (1911, 166).
29
Fußnote: Frazer (1914, Bd. 1, 295), nach Low (1848).
30
Fußnote: Frazer (1911, 181), nach Dorsey.
31
Fußnote: Frazer (1911, 169-74). Diese Zeremonien bestehen in Schlagen mit den Schilden, Schreien, Brüllen und Erzeugung von Lärm mit Hilfe von Instrumenten usw.
32
Fußnote: Frazer (1911, 166), nach Müller (1857).
33
Fußnote: Zu diesen Beispielen s. Frazer (1911, 165-90), Manslayers tabooed.
34
Fußnote: Frazer (1911, 132).»He must not only be guarded, he must also be guarded against.«
35
Fußnote: Frazer (1911, Bd. 1, 368-70).
36
Fußnote: Frazer (1911, 134-5), nach einem Pakeha Maori (1884).
37
Fußnote: Frazer (loc. cit.), nach Brown (1845).
38
Fußnote: Frazer (loc. cit.).
39
Fußnote: Kaempfer (1727), bei Frazer (1911, 3 f.).
40
Fußnote: Frazer (1911, 5), nach Bastian (1874-75).
41
Fußnote: Frazer (1911, 17 f.), nach Bastian (1874-75).
42
Fußnote: Frazer (1911, 18), nach Zweifel und Moustier (1880).
43
Fußnote: Frazer (loc. cit.).
44
Fußnote: Frazer (1911, 140), nach Mariner (1818).
45
Fußnote: Dieselbe Kranke, deren» Unmöglichkeiten «ich oben mit den Tabu zusammengestellt habe, bekannte, daß sie jedesmal in Entrüstung gerate, wenn sie einer in Trauer gekleideten Person auf der Straße begegne. Solchen Leuten sollte das Ausgehen verboten sein!
46
Fußnote: Frazer (1911, 357), nach einem alten spanischen Beobachter.
47
Fußnote: Frazer (1911, 360), nach Dobrizhoffer.
48
Fußnote: Stekel, Abraham.
49
Fußnote: Als Beispiel eines solchen Bekenntnisses sind bei Frazer (1911, 353) die Tuaregs der Sahara angeführt.
50
Fußnote: Vielleicht ist hiezu die Bedingung zu fügen: solange noch etwas von seinen körperlichen Überresten existiert. Frazer (ibid., 372).
51
Fußnote: Auf den Nikobaren. Frazer (ibid.).
52
Fußnote: Wundt (1906, 49).
53
Fußnote: Westermarck (1907-09, Bd. 2, 424). In der Anmerkung und in der Fortsetzung des Textes die reiche Fülle von bestätigenden, oft sehr charakteristischen Zeugnissen, z. B.: Die Maoris glaubten,»daß die nächsten und geliebtesten Verwandten nach dem Tode ihr Wesen ändern und selbst gegen ihre früheren Lieblinge übel gesinnt werden.« Die Australneger glauben, jeder Verstorbene sei lange Zeit bösartig; je enger die Verwandtschaft, desto größer die Furcht. Die Zentraleskimo werden von der Vorstellung beherrscht, daß die Toten erst spät zur Ruhe gelangen, anfänglich aber zu fürchten seien als unheilbrütende Geister, die das Dorf häufig umkreisen, um Krankheit, Tod und anderes Unheil zu verbreiten. (Nach Boas.)
54
Fußnote: Westermarck (1907-09, Bd. 2, 426).