— Dagegen, welche Helligkeit und zierliche Bestimmtheit bei jenen Franzosen! Diese Kunst hätten auch die feinohrigsten Griechen gutheißen müssen, und eines würden sie sogar bewundert und angebetet haben, den französischen Witz des Ausdrucks: so etwasliebtensie sehr, ohne gerade darin besonders stark zu sein.
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Mode und modern. —Überall, wo noch die Unwissenheit, die Unreinlichkeit, der Aberglaube im Schwange sind, wo der Verkehr lahm, die Landwirtschaft armselig, die Priesterschaft mächtig ist, da finden sich auch noch dieNationaItrachten . Dagegen herrscht dieMode , wo die Anzeichen des Entgegengesetzten sich finden. Die Mode ist also neben den Tugenden des jetzigen Europa zu finden: sollte sie wirklich deren Schattenseite sein? — Zunächst sagt diemännlicheBekleidung, welche modisch und nicht mehr national ist, von dem, der sie trägt, aus, daß der Europäer nicht alsEinzelnernoch alsStandes- und Volksgenosse auffallenwill, daß er sich eine absichtliche Dämpfung dieser Arten von Eitelkeit zum Gesetz gemacht hat: dann, daß er arbeitsam ist und nicht viel Zeit zum Ankleiden und Sich-putzen hat, auch alles Kostbare und Üppige in Stoff und Faltenwurf im Widerspruch mit seiner Arbeit findet; endlich, daß er durch seine Tracht auf die gelehrteren und geistigeren Berufe als die hinweist, welchen er als europäischer Mensch am nächsten steht oder stehen möchte: während durch die noch vorhandenen Nationaltrachten der Räuber, der Hirt oder der Soldat als die wünschbarsten und tonangebenden Lebensstellungen hindurchschimmern. Innerhalb dieses Gesamt-Charakters der männlichen Mode gibt es dann jene kleinen Schwankungen, welche die Eitelkeit der jungen Männer, der Stutzer und Nichtstuer der großen Städte hervorbringt, alsoderer, welche als europäische Menschen noch nicht reif geworden sind . — Die europäischen Frauen sind diesnoch viel weniger , weshalb die Schwankungen bei ihnen viel größer sind: sie wollen auch das Nationale nicht und hassen es, als Deutsche, Franzosen, Russen an der Kleidung erkannt zu werden, aber als einzelne wollen sie sehr gern auffallen; ebenso soll niemand schon durch ihre Bekleidung im Zweifel gelassen werden, daß sie zu einer angeseheneren Klasse der Gesellschaft (zur» guten «oder» hohen «oder» großen «Welt) gehören, und zwar wünschen sie nach dieser Seite hin gerade um so mehr voreinzunehmen, als sie nicht oder kaum zu jener Klasse gehören. Vor allem aber will die junge Frau nichts tragen, was die etwas ältere trägt, weil sie durch den Verdacht eines höheren Lebensalters im Preise zu fallen glaubt: die ältere wiederum möchte durch jugendlichere Tracht so lange täuschen, als es irgend angeht, — aus welchem Wettbewerb sich zeitweilig immer Moden ergeben müssen, bei denen das eigentlich Jugendliche ganz unzweideutig und unnachahmlich sichtbar wird. Hat der Erfindungsgeist der jungen Künstlerinnen in solchen Bloßstellungen der Jugend eine Zeitlang geschwelgt, oder um die ganze Wahrheit zu sagen — hat man wieder einmal den Erfindungsgeist älterer höfischer Kulturen, sowie den der noch bestehenden Nationen, und überhaupt den ganzen kostümierten Erdkreis zu Rate gezogen und etwa die Spanier, die Türken und Altgriechen zur Inszenierung des schönen Fleisches zusammengekoppelt: so entdeckt man endlich immer wieder, daß man sich doch nicht zum Besten auf seinen Vorteil verstanden habe; daß, um auf die Männer Wirkung zu machen, das Versteckspielen mit dem schönen Leibe glücklicher sei, als die nackte und halbnackte Ehrlichkeit; und nun dreht sich das Rad des Geschmackes und der Eitelkeit einmal wieder in entgegengesetzter Richtung: die etwas älteren jungen Frauen finden, daß ihr Reich gekommen sei, und der Wettkampf der lieblichsten und absurdesten Geschöpfe tobt wieder von neuem.Je mehraber die Frauen innerlich zunehmen und nicht mehr unter sich, wie bisher, den unreifen Altersklassen den Vorrang zugestehen, um so geringer werden diese Schwankungen ihrer Tracht, um so einfacher ihr Putz: über welchen man billigerweise nicht nach antiken Mustern das Urteil sprechen darf, alsonichtnach dem Maßstabe der Gewandung südländischer See-Anwohnerinnen, sondern in Berücksichtigung der klimatischen Bedingungen der mittleren und nördlichen Gegenden Europas, derer nämlich, in welchen jetzt der geist- und formerfindende Genius Europas seine liebste Heimat hat. — Im ganzen wird also geradenichtdasWechselndedas charakteristische Zeichen derModeund desModernensein, denn gerade der Wechsel ist etwas Rückständiges und bezeichnet die nochungereiftenmännlichen und weiblichen Europäer: sondern dieAblehnung der nationalen, ständischen und individuellen Eitelkeit . Dementsprechend ist es zu loben, weil es kraft- und zeitersparend ist, wenn einzelne Städte und Gegenden Europas für alle übrigen in Sachen der Kleidung denken und erfinden, in Anbetracht dessen, daß der Formensinn nicht jedermann geschenkt zu sein pflegt; auch ist es wirklich kein allzu hochfliegender Ehrgeiz, wenn zum Beispiel Paris, so lange jene Schwankungen noch bestehen, es in Anspruch nimmt, der alleinige Erfinder und Neuerer in diesem Reiche zu sein. Will ein Deutscher, aus Haß gegen diese Ansprüche einer französischen Stadt, sich anders kleiden, zum Beispiel so wie Albrecht Dürer sich trug, so möge er erwägen, daß er dann ein Kostüm hat, welches ehemalige Deutsche trugen, welches aber die Deutschen ebensowenig erfunden haben, — es hatnieeine Tracht gegeben, welche den Deutschen als Deutschen bezeichnete; übrigens mag er zusehen, wie er aus dieser Tracht herausschaut und ob etwa der ganz moderne Kopf nicht mit all seiner Linien- und Fältchenschrift, welche das neunzehnte Jahrhundert hineingrub, gegen eine Dürerische Bekleidung Einsprache tut. — Hier, wo die Begriffe» modern «und» europäisch «fast gleich gesetzt sind, wird unter Europa viel mehr an Länderstrecken verstanden, als das geographische Europa, die kleine Halbinsel Asiens, umfaßt: namentlich gehört Amerika hinzu, soweit es eben das Tochterland unserer Kultur ist. Andererseits fällt nicht einmal ganz Europa unter den Kultur-Begriff,»Europa«; sondern nur alle jene Völker und Völkerteile, welche im Griechen-, Römer-, Juden- und Christentum ihre gemeinsame Vergangenheit haben.
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Die» deutsche Tugend«. —Es ist nicht zu leugnen, daß vom Ausgange des vorigen Jahrhunderts an ein Strom moralischer Erweckung durch Europa floß.
Damals erst wurde die Tugend wieder beredt; sie lernte es, die ungezwungenen Gebärden der Erhebung, der Rührung finden, sie schämte sich ihrer selber nicht mehr und ersann Philosophien und Gedichte zur eigenen Verherrlichung. Sucht man nach den Quellen dieses Stromes: so findet man einmal Rousseau, aber den mythischen Rousseau, den man sich nach dem Eindrucke seiner Schriften — fast könnte man wieder sagen: seiner mythisch ausgelegten Schriften — und nach den Fingerzeigen, die er selber gab, erdichtet hatte (— er und sein Publikum arbeiteten beständig an dieser Idealfigur). Der andere Ursprung liegt in jener Wiederauferstehung des stoisch-großen Römertums, durch welche die Franzosen die Aufgabe der Renaissance auf das würdigste weitergeführt haben. Sie gingen von der Nachschöpfung antiker Formen mit herrlichstem Gelingen zur Nachschöpfung antiker Charaktere über: so daß sie ein Anrecht auf die allerhöchsten Ehren immerdar behalten werden, als das Volk, welches der neueren Menschheit bisher die besten Bücher und die besten Menschen gegeben hat. Wie diese doppelte Vorbildlichkeit, die des mythischen Rousseau und die jenes wiedererweckten Römergeistes, auf die schwächeren Nachbarn wirkte, sieht man namentlich an Deutschland: welches infolge seines neuen und ganz ungewohnten Aufschwunges zu Ernst und Größe des Wollens und Sich — Beherrschens zuletzt vor seiner eigenen neuen Tugend in Staunen geriet und den Begriff» deutsche Tugend «in die Welt warf, wie als ob es nichts Ursprünglicheres, Erbeigneres geben könnte als diese. Die ersten großen Männer, welche jene französische Anregung zur Größe und Bewußtheit des sittlichen Wollens auf sich überleiteten, waren ehrlicher und vergaßen die Dankbarkeit nicht. Der Moralismus Kants — woher kommt er? Er gibt es wieder und wieder zu verstehen: von Rousseau und dem wiedererweckten stoischen Rom. Der Moralismus Schillers: gleiche Quelle, gleiche Verherrlichung der Quelle. Der Moralismus Beethovens in Tönen: er ist das ewige Loblied Rousseaus, der antiken Franzosen und Schillers. Erst» der deutsche Jüngling «vergaß die Dankbarkeit, inzwischen hatte man ja das Ohr nach den Predigern des Franzosenhasses hingewendet: jener deutsche Jüngling, der eine Zeitlang mit mehr Bewußtheit als man bei andern Jünglingen für erlaubt hält, in den Vordergrund trat. Wenn er nach seiner Vaterschaft spürte, so mochte er mit Recht an die Nähe Schillers, Fichtes und Schleiermachers denken: aber seine Großväter hätte er in Paris, in Genf suchen müssen, und es war sehr kurzsichtig zu glauben, was er glaubte: daß die Tugend nicht älter als dreißig Jahre sei. Damals gewöhnte man sich daran, zu verlangen, daß beim Worte» deutsch «auch noch so nebenbei die Tugend mitverstanden werde: und bis auf den heutigen Tag hat man es noch nicht völlig verlernt. — Nebenbei bemerkt, jene genannte moralische Erweckung hat für dieErkenntnisder moralischen Erscheinungen, wie sich fast erraten läßt, nur Nachteile und rückschreitende Bewegungen zur Folge gehabt. Was ist die ganze deutsche Moralphilosophie, von Kant an gerechnet, mit allen ihren französischen, englischen und italienischen Ausläufern und Nebenzüglern? Ein halbtheologisches Attentat gegen Helvetius, ein Abweisen der lange und mühsam erkämpften Freiblicke oder Fingerzeige des rechten Weges, welche er zuletzt gut ausgesprochen und zusammengebracht hat. Bis auf den heutigen Tag ist Helvetius in Deutschland der bestbeschimpfte aller guten Moralisten und guten Menschen.
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Klassisch und romantisch. —Sowohl die klassisch als die romantisch gesinnten Geister- wie es diese beiden Gattungen immer gibt — tragen sich mit einer Vision der Zukunft: aber die ersteren aus einerStärkeihrer Zeit heraus, die letzteren aus derenSchwäche .
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Die Maschine als Lehrerin. —Die Maschine lehrt durch sich selber das Ineinandergreifen von Menschenhaufen, bei Aktionen, wo jeder nur eins zu tun hat: sie gibt das Muster der Partei — Organisation und der Kriegsführung. Sie lehrt dagegen nicht die individuelle Selbstherrlichkeit: sie macht aus Vielen Eine Maschine, und aus jedem einzelnen ein Werkzeug zuEinemZwecke. Ihre allgemeinste Wirkung ist: den Nutzen der Zentralisation zu lehren.
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Nicht seßhaft. —Man wohnt gerne in der kleinen Stadt; aber von Zeit zu Zeit treibt gerade sie uns in die einsamste unenthüllteste Natur: dann nämlich, wenn jene uns einmal wieder zu durchsichtig geworden ist. Endlich gehen wir, um uns wieder von dieser Natur zuerholen , in die große Stadt. Einige Züge aus derselben — und wir erraten den Bodensatz ihres Bechers, — der Kreislauf, mit der kleinen Stadt am Anfange, beginnt von neuem. — So leben die Modernen: welche in allem etwas zugründlichsind, umseßhaftzu sein gleich den Menschen anderer Zeiten.
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Reaktion gegen die Maschinen-Kultur —Die Maschine, selber ein Erzeugnis der höchsten Denkkräfte, setzt bei den Personen, welche sie bedienen, fast nur die niederen, gedankenlosen Kräfte in Bewegung. Sie entfesselt dabei eine Unmasse Kraft überhaupt, die sonst schlafen läge, das ist wahr, aber sie gibtnichtden Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum Künstlerwerden. Sie machttätigundeinförmig - das erzeugt aber auf die Dauer eine Gegenwirkung, eine verzweifelte Langeweile der Seele, welche durch sie nach wechselvollem Müßiggange dürsten lernt.
221
Die Gefährlichkeit der Aufklärung. —Alles das Halbverrückte, Schauspielerische, Tierisch-Grausame, Wollüstige, namentlich Sentimentale und Sich-selbst- Berauschende, was zusammen die eigentlichrevolutionäre Substanzausmacht und in Rousseau, vor der Revolution, Fleisch und Geist geworden war, — dieses ganze Wesen setzte sich mit perfider Begeisterung nochdie Aufklärungauf das fanatische Haupt, welches durch diese selber wie in einer verklärenden Glorie zu leuchten begann: die Aufklärung, die im Grunde jenem Wesen so fremd ist und, für sich waltend, still wie ein Lichtglanz durch Wolken gegangen sein würde, lange Zeit zufrieden damit, nur die Einzelnen umzubilden: so daß sie nur sehr langsam auch die Sitten und Einrichtungen der Völker umgebildet hätte. Jetzt aber, an ein gewaltsames und plötzliches Wesen gebunden, wurde die Aufklärung selber gewaltsam und plötzlich. Ihre Gefährlichkeit ist dadurch fast größer geworden als die befreiende und erhellende Nützlichkeit, welche durch sie in die große Revolutions-Bewegung kam.