Wer dies begreift, wird auch wissen, aus welcher Vermischung man sie herauszuziehen, von welcher Verunreinigung man sie zu läutern hat: um dann,an sich selber , das Werk der Aufklärungfortzusetzenund die Revolutionnachträglichin der Geburt zu ersticken, ungeschehen zu machen.
222
Die Leidenschaft im Mittelalter. —Das Mittelalter ist die Zeit der größten Leidenschaften. Weder das Altertum noch unsere Zeit hat diese Ausweitung der Seele: ihreRäumlichkeitwar nie größer, und nie ist mit längeren Maßstäben gemessen worden. Die physische Urwald-Leiblichkeit von Barbarenvölkern und die überseelenhaften, überwachen, allzuglänzenden Augen von christlichen Mysterien-Jüngern, das Kindlichste, Jüngste und ebenso das Überreifste, Altersmüdeste, die Roheit des Raubtiers und die Verzärtelung und Ausspitzung des spätantiken Geistes — alles dies kam damals an Einer Person nicht selten zusammen: da mußte, wenn einer in Leidenschaft geriet, die Stromschnelle des Gemütes gewaltiger, der Strudel verwirrter, der Sturz tiefer sein als je. — Wir neueren Menschen dürfen mit der Einbuße zufrieden sein, welche hier gemacht worden ist.
223
Rauben und Sparen. —Alle geistigen Bewegungen gehen vorwärts, infolge deren die Großen zurauben , die Kleinen zusparenhoffen können. Deshalb ging zum Beispiel die deutsche Reformation vorwärts.
224
Fröhliche Seelen. —Wenn auf Trunk, Trunkenheit und eine übelriechende Art von Unfläterei auch nur von ferne hingewinkt wurde, dann wurden die Seelen der älteren Deutschen fröhlich, — sonst waren sie verdrossen; aber dort hatten sie ihre Art von Verständnis-Innigkeit.
225
Das ausschweifende Athen. —Selbst als der Fischmarkt Athens seine Denker und Dichter bekommen hatte, besaß die griechische Ausschweifung immer noch ein idyllischeres und feineres Aussehen, als es je die römische oder die deutsche Ausschweifung hatte. Die Stimme Juvenals hätte dort wie eine hohle Trompete geklungen: ein artiges und fast kindliches Gelächter hätte ihm geantwortet.
226
Klugheit der Griechen. —Da das Siegen- und Hervorragen-wollen ein unüberwindlicher Zug der Natur ist, älter und ursprünglicher als alle Achtung und Freude der Gleichstellung, so hat der griechische Staat den gymnastischen und musischen Wettkampf innerhalb der Gleichen sanktioniert, also einen Tummelplatz abgegrenzt, wo jener Trieb sich entladen konnte, ohne die politische Ordnung in Gefahr zu bringen. Mit dem endlichen Verfalle des gymnastischen und musischen Wettkampfes geriet der griechische Staat in innere Unruhe und Auflösung.
227
« Der ewige Epikur.«—Epikur hat zu allen Zeiten gelebt und lebt noch, unbekannt denen, welche sich Epikureer nannten und nennen, und ohne Ruf bei den Philosophen. Auch hat er selber den eigenen Namen vergessen: es war das schwerste Gepäck, welches er je abgeworfen hat.
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Stil der Überlegenheit. —Studentendeutsch, die Sprechweise des deutschen Studenten, hat ihren Ursprung unter den nicht-studierenden Studenten, welche eine Art von Übergewicht über ihre ernsteren Genossen dadurch zu erlangen wissen, daß sie an Bildung, Sittsamkeit, Gelehrtheit, Ordnung, Mäßigung alles Maskeradenhafte aufdecken und die Worte aus jenen Bereichen zwar fortwährend ebenso im Munde führen, wie die Besseren, Gelehrteren, aber mit einer Bosheit im Blicke und einer begleitenden Grimasse. In dieser Sprache der Überlegenheit- der einzigen, die in Deutschland original ist — reden nun unwillkürlich auch die Staatsmänner und die Zeitungs-Kritiker: es ist ein beständiges ironisches Zitieren, ein unruhiges, unfriedfertiges Schielen des Auges nach Rechts und Links ein Gänsefüßchen- und Grimassen- Deutsch.
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Die Vergrabenen. —Wir ziehen uns ins Verborgene zurück: aber nicht aus irgend einem persönlichen Mißmute, als ob uns die politischen und sozialen Verhältnisse der Gegenwart nicht genugtäten, sondern weil wir durch unsere Zurückziehung Kräfte sparen und sammeln wollen, welchespätereinmal der Kultur ganz not tun werden, je mehr diese GegenwartdieseGegenwart ist und als solcheihreAufgabe erfüllt. Wir bilden ein Kapital und suchen es sicherzustellen: aber, wie inganz gefährlichenZeiten, dadurch, daß wir esvergraben .
230
Tyrannen des Geistes. —In unserer Zeit würde man jeden, der so streng der Ausdruck eines moralischen Zuges wäre, wie die Personen Theophrasts und Molieres es sind, für krank halten, und von» fixer Idee «bei ihm reden. Das Athen des dritten Jahrhunderts würde uns, wenn wir dort einen Besuch machen dürften, wie von Narren bevölkert erscheinen. Jetzt herrscht die Demokratie derBegriffein jedem Kopfe, —viele zusammensind der Herr: ein einzelner Begriff, der Herr seinwollte , heißt jetzt, wie gesagt,»fixe Idee«. Dies istunsereArt, die Tyrannen zu morden, — wir winken mach dem lrrenhause hin.
231
Gefährlichste Auswanderung —In Rußland gibt es eine Auswanderung der Intelligenz: man geht über die Grenze, um gute Bücher zu lesen und zu schreiben. So wirkt man aber dahin, das vom Geiste verlassene Vaterland immer mehr zum vorgestreckten Rachen Asiens zu machen, der das kleine Europa verschlingen möchte.
232
Die Staats-Narren. — Die fast religiöse Liebe zum Könige ging bei den Griechen auf die Polis über, als es mit dem Königtum zu Ende war. Und weil ein Begriff mehr Liebe erträgt als eine Person, und namentlich dem Liebenden nicht so oft vor den Kopf stößt, wie geliebte Menschen es tun (- denn je mehr sie sich geliebt wissen, desto rücksichtsloser werden sie meistens, bis sie endlich der Liebe nicht mehr würdig sind, und wirklich ein Riß entsteht), so war die Polis- und Staats-Verehrung größer, als irgend je vorher die Fürsten-Verehrung. Die Griechen sind dieStaats-Narrender alten Geschichte — in der neueren sind es andere Völker.
233
Gegen die Vernachlässigung der Augen. —Ob man nicht bei den gebildeten Klassen Englands, welche die Times lesen, alle zehn Jahre eine Abnahme der Sehkraft nachweisen könnte?
234
Große Werke und großer Glaube. —Jener hatte die großen Werke, sein Genosse aber hatte den großen Glauben an diese Werke. Sie waren unzertrennlich: aber ersichtlich hing der erstere völlig vom zweiten ab.
235
Der Gesellige. —»Ich bekomme mir nicht gut «sagte jemand, um seinen Hang zur Gesellschaft zu erklären.»Der Magen der Gesellschaft ist stärker als der meinige, er verträgt mich.»
236
Augen-Schließen des Geistes. —Ist man geübt und gewohnt, über das Handeln nachzudenken, so muß man doch beim Handeln selber (sei dieses selbst nur Briefschreiben oder Essen und Trinken) das innere Auge schließen.
Ja, im Gespräch mit Durchschnittsmenschen muß man es verstehen, mit geschlossenen Denker-Augen zudenken , — um nämlich das Durchschnitts-Denken zu erreichen und zu begreifen. Dieses Augen-Schließen ist ein fühlbarer, mit Willen vollziehbarer Akt.
237
Die furchtbarste Rache. —Wenn man sich an einem Gegner durchausrächenwill, so soll man so lange warten, bis man die ganze Hand voll Wahrheiten und Gerechtigkeiten hat und sie gegen ihn ausspielen kann, mit Gelassenheit: so daß Rache üben mit Gerechtigkeit üben zusammenfällt. Es ist die furchtbarste Art der Rache: denn sie hat keine Instanz über sich, an die noch apelliert werden könnte. So rächte sich Voltaire an Piron, mit fünf Zeilen, die über dessen ganzes Leben, Schaffen und Wollen richten: soviel Worte, soviel Wahrheiten; so rächte sich derselbe an Friedrich dem Großen (in einem Briefe an ihn, von Ferney aus).
238
Luxus-Steuer. —Man kauft in den Läden das Nötige und Nächste und muß es teuer bezahlen, weil man mitbezahlt, was dort auch feil steht, aber nur selten seine Abnehmer hat: das Luxushafte und Gelüstartige. So legt der Luxus dem Einfachen, der seiner enträt, doch eine fortwährende Steuer auf.
239
Warum die Bettler noch leben. —Wenn alle Almosen nur aus Mitleiden gegeben würden, so wären die Bettler allesamt verhungert.
240
Warum die Bettler noch leben. —Die größte Almosenspenderin ist die Feigheit.
241
Wie der Denker ein Gespräch benutzt. —Ohne Horcher zu sein, kann man viel hören, wenn man versteht, gut zu sehen, doch sich selber für Zeiten aus den Augen zu verlieren. Aber die Menschen wissen ein Gespräch nicht zu benutzen; sie verwenden bei weitem zuviel Aufmerksamkeit auf das, was sie sagen und entgegnen wollen, während der wirklicheHörersich oft begnügt, vorläufig zu antworten und etwas als Abschlagszahlung der Höflichkeit überhaupt zusagen , dagegen mit seinem hinterhaltigen Gedächtnisse alles davonträgt, was der andere geäußert hat, nebst der Art in Ton und Gebärde,wieer es äußerte. — Im gewöhnlichen Gespräche meint jeder der Führende zu sein, wie wenn zwei Schiffe, die nebeneinander fahren und sich hier und da einen kleinen Stoß geben, beiderseits im guten Glauben sind, ihr Nachbarschiff folge oder werde sogar geschleppt.
242
Die Kunst, sich zu entschuldigen. —Wenn sich jemand vor uns entschuldigt, so muß er es sehr gut machen: sonst kommen wir uns selber leicht als die Schuldigen vor und haben eine unangenehme Empfindung.
243
Unmöglicher Umgang. —Das Schiff deiner Gedanken geht zu tief, als daß du mit ihm auf den Gewässern dieser freundlichen, anständigen, entgegenkommenden Personen fahren konntest. Es sind da der Untiefen und Sandbänke zu viele: du würdest dich drehen und wenden müssen und in fortwährender Verlegenheit sein, und jene würden alsbald auch in Verlegenheit geraten — über deine Verlegenheit, deren Ursache sie nicht erraten können.
244
Fuchs der Füchse. —Ein rechter Fuchs nennt nicht nur die Trauben sauer, welche er nicht erreichen kann, sondern auch die, welche er erreicht und anderen vorweggenommen hat.
245
Im nächsten Verkehre. —Wenn Menschen auch noch so eng zusammengehören: es gibt innerhalb ihres gemeinsamen Horizontes doch noch alle vier Himmelsrichtungen, und in manchen Stunden merken sie es.
246
Das Schweigen des Ekels. —Da macht jemand als Denker und Mensch eine tiefe, schmerzhafte Umwandlung durch und legt dann öffentlich Zeugnis davon ab. Und die Hörer merken nichts! glauben ihn noch ganz als den alten! — Diese gewöhnliche Erfahrung hat manchen Schriftstellern schon Ekel gemacht: sie hatten die Intellektualität der Menschen zu hoch geachtet und gelobten sich, als sie ihren Irrtum wahrnahmen, das Schweigen an.
247
Geschäfts-Ernst. —Die Geschäfte manches Reichen und Vornehmen sind seine ArtAusruhensvon allzulangem gewohnheitsmäßigemMüßiggang : er nimmt sie deshalb so ernst und passioniert, wie andere Leute ihre seltenen Muße-Erholungen und — Liebhabereien.
248
Doppelsinn des Auges. —Wie das Gewässer zu deinen Füßen eine plötzliche schuppenhafte Erzitterung überläuft, so gibt es auch im menschlichen Auge solche plötzliche Unsicherheiten und Zweideutigkeiten, bei denen man sich fragt: ist's ein Schaudern? ist's ein Lächeln? ist's beides?
249
Positiv und negativ. —Dieser Denker braucht niemanden, der ihn widerlegt: er genügt sich dazu selber.
250
Die Rache der leeren Netze. —Man nehme sich vor allen Personen in acht, welche das bittre Gefühl des Fischers haben, der nach mühevollem Tagewerk am Abend mit leeren Netzen heimfährt.
251
Sein Recht nicht geltend machen. —Macht ausüben kostet Mühe und erfordert Mut. Deshalb machen so viele ihr gutes, allerbestes Recht nicht geltend, weil dies Recht eine ArtMachtist, sie aber zu faul oder zu feige sind, es auszuüben.NachsichtundGeduldheißen die Deckmantel-Tugenden dieser Fehler.
252
Lichtträger. —In der Gesellschaft wäre kein Sonnenschein, wenn ihn nicht die geborenen Schmeichelkatzen mit hineinbrächten, ich meine die sogenannten Liebenswürdigen.
253
Am mildtätigsten. —Wenn der Mensch eben sehr geehrt worden ist und ein wenig gegessen hat, so ist er am mildtätigsten.
254
Zum Lichte. —Die Menschen drängen sich zum Lichte, nicht um besser zu sehen, sondern um besser zu glänzen. — Vor wem man glänzt, den läßt man gerne als Licht gelten.
255
Die Hypochonder. —Der Hypochonder ist ein Mensch, der gerade genug Geist und Lust am Geiste besitzt, um seine Leiden, seinen Verlust, seine Fehler gründlich zu nehmen: aber sein Gebiet, auf dem er sich nährt, ist zu klein; er weidet es so ab, daß er endlich die einzelnen Hälmchen suchen muß. Dabei wird er endlich zum Neider und Geizhals — und dann erst ist er unausstehlich.
256
Zurückerstatten. —Hesiod rät an, dem Nachbar, der uns ausgeholfen hat, mit gutem Maße und womöglich reichlicher zurückzugeben, sobald wir es vermögen. Dabei hat nämlich der Nachbar seine Freude, denn seine einstmalige Gutmütigkeit trägt ihm Zinsen ein; aber auch der, welcher zurückgibt, hat sein Freude, insofern er die kleine einstmalige Demütigung, sich aushelfen lassen zu müssen, durch ein kleines Übergewicht, als Schenkender, zurückkauft.
257
Feiner als nötig.