Aber nun muß ich warten. Dies habe ich nicht einkalkuliert. Auch nicht die Nerven, die es kostet. Die Gerechtigkeit zu vollziehen ist etwas anderes, als in Erwartung dieses Vollzugs leben zu müssen. Ich komme mir wie ein Rasender vor. Daß ich so viel trinke, ist nur ein Ausdruck meiner absurden Lage: ich bin von der Gerechtigkeit wie betrunken. Das Gefühl, im Recht zu sein, vernichtet mich. Es gibt nichts Entsetzlicheres als dieses Gefühl. Ich richte mich hin, weil ich den alten Kohler nicht hinrichten kann. In dieser Raserei sehe ich mich und Hélène, blicke ich auf unsere erste Begegnung zurück. Ich weiß, daß ich alles verloren habe. Das Glück ist durch nichts zu ersetzen. Auch wenn sich das Glück als Wahnsinn herausstellt und mein heutiger Wahnsinn in Wirklichkeit Nüchternheit ist. Unbarmherzige Erkenntnis des Wirklichen. So denke ich mit Traurigkeit zurück. Ich wünsche zu vergessen und bin dazu nicht fähig. Alles haftet so deutlich in meiner Erinnerung, als wäre es eben geschehen. Ich höre noch den Ton ihrer Stimme, sehe noch ihre Blicke, ihre Bewegungen, ihr Kleid. Und auch mich sehe ich. Wir waren beide jung. Unverbraucht. Nicht einmal anderthalb Jahre sind es her. Jetzt bin ich alt, uralt. Wir brachten uns Vertrauen entgegen. Dabei wäre es natürlich gewesen, wenn sie mir mißtraut hätte. Sie mußte in mir nichts anderes als einen Rechtsanwalt sehen, der Geld wollte. Aber sie vertraute mir von Anfang an. Dies spürte ich damals, und ich vertraute ihr ebenfalls. Ich war bereit, ihr zu helfen. Es war schön. Auch wenn wir uns nur gegenübersaßen, auch wenn wir nur sachlich miteinander sprachen. Natürlich weiß ich, daß es nicht so war, daß alles Schein, Traum, Illusion, weniger noch, eine faule Intrige war, die Hélène mit mir und gerade mit mir spielte, aber damals, damals, als ich es noch nicht wußte, nicht einmal ahnte, war ich glücklich.
«Nehmen Sie Platz, Herr Spät«, sagte sie. Ich dankte. Sie hatte sich in einen der tiefen Ledersessel niedergelassen. Ich setzte mich ihr gegenüber. Auch in einen tiefen Ledersessel. Es war alles etwas merkwürdig, das Mädchen, etwa zweiundzwanzig, braun, lächelnd, gelöst und doch wieder zaghaft, die vielen Bücher, der schwere Schreibtisch, der Billardtisch im Hintergrund mit den Kugeln, die einfallenden Sonnenstrahlen, der Park hinter der halboffenen Glastüre, durch die Hélène gekommen war. Mit einem älteren Herrn namens Förder. Er war tadellos gekleidet gewesen, war als Kohlers Privatsekretär vorgestellt worden, hatte mich stumm und beinahe drohend gemustert. Dann war er wieder gegangen, ohne Gruß, ohne überhaupt ein Wort gesagt zu haben. Nun waren wir allein, Hélène war verlegen. Ich auch. Die Vision ihres Vaters lahmte mich, machte mich unfähig zu sprechen. Ich hatte Mitleid mit ihr. Ich begriff, daß sie ihren Vater nie verstehen würde, daß sie unter der Unbegreiflichkeit seiner Handlungsweise litt.
«Herr Spät«, sagte sie,»mein Vater hat mir immer viel von Ihnen erzählt.»
Das überraschte mich. Ich schaute sie verwundert an:»Immer?»
«Seit er Sie im > Du Théâtre
Hélène überreichte mir den Scheck. Ich nahm ihn, faltete das Papier zusammen.
«Ihr Vater ist großzügig«, sagte ich.
«Es liegt ihm viel daran, daß Sie seinen Auftrag ausführen«, erklärte sie.
«Ich werde mir Mühe geben.»
Ich schob den Scheck in die Brieftasche. Wir schwiegen. Sie lächelte nicht mehr. Ich spürte, daß sie nach Worten suchte.
«Herr Spät«, sagte sie endlich stockend,»ich bin mir im klaren, daß der Auftrag, den Sie übernommen haben, seltsam ist.»
«Ziemlich.»
«Auch Herr Förder findet es.»
«Glaube ich auch.»
«Aber er muß ausgeführt werden«, verlangte sie bestimmt, fast heftig.
«Weshalb?«fragte ich.
Sie schaute mich flehend an.»Herr Spät. Ich darf Papa nur einmal im Monat sehen. Dann gibt er mir Anweisungen. Seine Geschäfte sind verwickelt, aber seine Übersicht erstaunlich. Was er mir befiehlt, führe ich aus. Er ist der Vater, ich bin die Tochter. Sie verstehen doch, daß ich ihm gehorche.»
«Natürlich.»
Hélène wurde heftig. Ihr Zorn war ehrlich.»Der Privatsekretär und seine Anwälte wollen ihn entmündigen«, gestand sie.»Zu meinen Gunsten, wie sie sagen. Aber ich weiß genau, daß Vater nicht geisteskrank ist. Nun ist der Auftrag gekommen, den Sie übernommen haben. Er ist für den Privatsekretär ein neuer Beweis. Er sei sinnlos, sagte er. Aber ich bin sicher, daß dieser Auftrag nicht sinnlos ist.»
Wir schwiegen wieder eine Weile.
«Auch wenn ich ihn nicht verstehe«, fügte sie leise hinzu.
«Für einen Anwalt, Fräulein Kohler«, antwortete ich dann,»hat der Auftrag, den Mord an Professor Winter unter der Annahme zu untersuchen, Ihr Vater sei nicht der Mörder gewesen, nur dann einen juristischen Sinn, wenn Ihr Vater nicht der Mörder ist. Aber diese Annahme ist unmöglich. Also ist der Auftrag sinnlos. Juristisch sinnlos, aber wissenschaftlich braucht er deshalb nicht sinnlos zu sein.»
Sie schaute mich verwundert an.»Wie soll ich das verstehen, Herr Spät?«fragte sie.
«Ich habe mich in diesem Raum umgeschaut, Fräulein Kohler. Ihr Vater liebte sein Billard und seine naturwissenschaftlichen Bücher…»
«Nur das«, sagte sie bestimmt.
«Eben…»
«Gerade deshalb ist er doch unfähig, einen Mord zu begehen«, unterbrach sie mich.»Er mußte auf eine schreckliche Weise dazu gezwungen worden sein.»
Ich schwieg. Ich fühlte, daß es unanständig gewesen wäre, mit der Wahrheit wie mit einer Kanone aufzufahren. Daß ihr Vater mordete, weil er nichts als sein Billard und seine naturwissenschaftlichen Studien liebte, diese abstruse, blödsinnige Wahrheit konnte ich ihr nicht klarmachen. Es war Unsinn, von meiner Vision zu reden, sie war eine Intuition, keine beweisbare Tatsache.
«Über den Grund dessen, weshalb Ihr Vater verurteilt worden ist, Fräulein Kohler, bin ich nicht informiert«, erklärte ich deshalb vorsichtig,»ich meine etwas anderes.
Etwas, was nicht seine Tat, sondern den Auftrag erklärt, den er mir zumutet. Ihr Vater will durch diesen Auftrag das Mögliche erforschen. Das ist sein wissenschaftliches Ziel, wie er behauptet. Ich habe mich strikt daran zu halten.»
«Kein Mensch kann das glauben!«rief Hélène erregt aus.
Ich widersprach.
«Ich habe es zu glauben«, erklärte ich,»denn ich habe den Auftrag angenommen. Er ist für mich ein Spiel, das sich Ihr Vater leisten kann. Andere halten sich Rennpferde. Ich halte das Spiel Ihres Vaters als Jurist für weitaus spannender.»
Sie überlegte.
«Ich bin sicher«, antwortete sie endlich zögernd,»daß Sie den wirklichen Mörder finden werden, jemand, der Papa gezwungen hat zu morden. Ich glaube an Papa.»
Ihre Verzweiflung tat mir leid. Ich hätte ihr gerne geholfen, aber ich war machtlos.
«Fräulein Kohler«, antwortete ich,»ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich glaube nicht, daß ich diesen Jemand finden werde. Aus dem einfachen Grunde, weil es diesen Jemand nicht gibt. Ihr Vater läßt sich nicht zwingen.»
«Sie sind sehr ehrlich zu mir«, sagte sie leise.
«Ich möchte, daß Sie mir vertrauen.»
Sie starrte in mein Gesicht, aufmerksam, finster. Ich wich ihrem Blick nicht aus.
«Ich vertraue Ihnen«, sagte sie dann.
«Ich kann Ihnen nur helfen, wenn Sie jede Hoffnung aufgeben«, sagte ich.»Ihr Vater ist ein Mörder. Sie können ihn nur begreifen, wenn Sie nicht in der falschen Richtung suchen. In Ihrem Vater ist der Grund seines Verbrechens zu suchen, nicht in jemand anderem. Kümmern Sie sich nicht mehr um seinen Auftrag. Er ist meine Angelegenheit.»
Ich stand auf. Sie erhob sich ebenfalls.
«Warum haben Sie den Auftrag angenommen?«fragte Hélène.
«Weil ich Geld benötige, Fräulein Kohler. Machen Sie sich keine falsche Vorstellung von mir. Mag Ihr Vater auch einen wissenschaftlichen Wert in diesem Auftrag sehen, für mich ist er nur eine Möglichkeit, meine Praxis in Fahrt zu bringen, aber Ihnen darf er keine falsche Hoffnung erwecken.»
«Ich verstehe«, sagte sie.
«Ich kann es mir nicht leisten, anders zu handeln, als ich nun handle, ich muß dem Wunsch Ihres Vaters gehorchen. Aber Sie müssen wissen, wem Sie vertrauen.»
«Gerade Sie werden mir helfen«, sagte Hele-ne und reichte mir die Hand.»Ich bin glücklich, Sie kennengelernt zu haben.»
Vor dem Park wartete Lienhard immer noch in seinem Porsche, aber auf dem Beifahrersitz, rauchte immer noch Zigaretten, abwesend, in sich versunken.
«In Ordnung«, sagte ich.»Ich habe den Auftrag angenommen.»
«Auch den Scheck?«fragte er.
«Auch.»
«Schön«, sagte Lienhard.
Ich nahm am Steuer Platz. Lienhard bot mir eine Zigarette an, gab mir Feuer. Ich rauchte, fuhr mit beiden Händen über das Steuerrad, dachte an Hélène und war glücklich. Ich freute mich auf die Zukunft.
«Wie?«fragte Lienhard.
Ich überlegte, fuhr noch nicht an.»Es gibt nur eine Möglichkeit«, antwortete ich.»Für uns ist jetzt Kohler nicht mehr der Mörder. Nun müssen wir mitspielen.»
«Einverstanden.»
«Befragen Sie die Zeugen noch einmal«, fuhr ich fort.»Untersuchen Sie Winters Vergangenheit, welche Bekannten, welche Feinde.»
«Beschäftigen wir uns mit Dr. Benno«, antwortete er.
«Mit dem Olympia-Heinz?«fragte ich verwundert.
«Winters Freund«, erklärte Lienhard.»Und mit Monika Steiermann.»
Monika Steiermann war die Alleinerbin der Hilfswerke Trög AG.
«Warum?«fragte ich.
«Bennos Freundin.»
«Die lassen wir lieber aus dem Spiel«, sagte ich nachdenklich.
«Okay«, antwortete Lienhard. Irgend etwas stimmte nicht.
«Merkwürdig«, sagte ich.
«Was denn?«fragte Lienhard.
«Kohler hat Sie mir empfohlen.»
«Zufall«, sagte Lienhard.
Ich startete und fuhr vorsichtig. Ich hatte noch nie hinter dem Steuerrad eines Porsche gesessen. Auf der Bahnhofsbrücke fragte Lienhard:»Kennen Sie Monika Steiermann, Spät?»
«Ich sah sie nur einmal.»
«Merkwürdig«, sagte Lienhard.
Beim Talacker lud ich ihn aus, fuhr dann aus der Stadt. Irgendwohin. Planlos in den Herbst hinein. Vor das Bild Hélène Kohlers hatte sich das Bild Monika Steiermanns geschoben, ein Bild, das ich vergeblich zu verdrängen suchte.
2
Beginn der Recherchen: Mein besseres Leben begann mit Elan. Schon am nächsten Tag besaß ich das neue Büro und den Porsche endgültig, wenn sich auch der Wagen als älter herausstellte, als ich angenommen hatte, und sich in einem Zustand befand, der den Preis, den Lienhard verlangt hatte, etwas weniger menschenfreundlich erscheinen ließ. Das Büro,war jenes des ehemaligen Olympiasiegers im Fechten und Schweizermeisters im Pistolenschießen, Dr. Benno, gewesen, mit dem es seit langem abwärtsging. Der schöne Olympia-Heinz blieb der Verhandlung fern. Er sei bereit, wie Architekt Friedli erklärte, der mich in aller Herrgottsfrühe hingeführt hatte, mir das Büro zu überlassen, zweitausend im Monat, viertausend als Anzahlung, eine Summe, von der ich nicht wußte, in wessen Tasche sie floß, doch konnte ich das Büro sofort beziehen und nicht nur Bennos Mobiliar übernehmen, sondern auch seine Sekretärin, eine etwas verschlafene Innerschweizerin mit dem außerschweizerischen Namen Ilse Freude, die wie eine französische Bardame aussah, ihr Haar ständig anders färbte, doch erstaunlich tüchtig war; ein Kuhhandel, alles in allem, den ich nicht durchschaute. Dafür waren das Vorzimmer und das Büro am Zeltweg standesgemäß, mit Blick auf die obligaten Verkehrsstockungen, der Schreibtisch vertrauenerweckend, dazu ordentliche Sessel, gegen den Hinterhof eine Küche und ein Zimmer, in das ich meine Couch aus der Freiestraße stellte; ich vermochte mich vom alten Möbel nicht zu trennen. Auf einmal schien das Geschäft in Schwung zu kommen. Eine lukrative Ehescheidung stand in Aussicht, eine Reise nach Caracas winkte im Auftrag eines Großindustriellen (Kohler habe mich empfohlen), Erbstreitigkeiten waren zu schlichten, ein Möbelhändler war vor Gericht zu verteidigen, rentierende Steuererklärungen. Ich war in einer zu unvorsichtigen und beglückten Stimmung, um noch an die Privatdetektei zu denken, die ich in Bewegung gesetzt hatte und deren Bericht ich abwarten wollte, bevor ich den Fall Kohler weiterverfolgte. Dabei hätte mich Lienhard mißtrauischer machen sollen, als ich schon war: der Mann hatte Hintergrund, undurchsichtige Absichten, war mir von Kohler empfohlen worden und allzu begierig gewesen mitzumachen. Er ging gründlich vor. Ins > Du Théâtre< setzte er Schönbächler, einen seiner besten Männer, der am Neumarkt ein altes, doch komfortables Haus besaß. Den Estrich hatte er zu einer Wohndiele ausbauen lassen.